Die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei

Die Phrase von der Alternativlosigkeit diente schon immer dem Zweck, den demokratischen Wettbewerb auszuschalten. Das ist nun anders: Mit AfD und BSW stehen höchst unterschiedliche Programme in der Politik im offenen Wettbewerb miteinander.

picture alliance/dpa | Sebastian Kahnert
Jörg Urban, Vorsitzender der AfD in Sachsen und Spitzenkandidat, Sabine Zimmermann (BSW), Spitzenkandidatin des Bündnis Sahra Wagenknecht in Sachsen, und Michael Kretschmer (CDU), 01.09.2024

Die AfD wurde bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland zur stärksten Partei. Mit dem BSW gibt es einen weiteren Akteur, wogegen Linke, Grüne und FDP bedeutungslos geworden sind. Die Ursache ist in den höchst unterschiedlichen programmatischen Vorstellungen über die Zukunft dieses Landes zu finden. Die Wahlergebnisse bilden diese neu entstandenen Konfliktlinien ab. Das nennt sich demokratischer Wettbewerb.

In der Verfassung des Freistaates Sachsen sind die Verfahrensregeln für die konstituierende Sitzung des am 1. September 2024 neu gewählten Landtages in den Artikeln 44 bis 47 definiert. So gibt er sich laut Art. 46 Absatz 1 eine Geschäftsordnung, die gemäß Absatz 4 mit der Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten geändert werden kann. Der von der CDU als stärkste Partei gestellte Alterspräsident führte die Sitzung vom 1. Oktober bis zur Wahl des Landtagspräsidenten Alexander Dierks. In der einvernehmlich beschlossenen Geschäftsordnungsdebatte ging es um die Einrichtung eines vierten Vizepräsidenten, der der SPD-Fraktion einen lukrativen Posten sicherte. Die anderen drei Vizepräsidenten gingen an die CDU, die AfD und dem erstmals im Landtag vertretenen BSW.

Ansonsten verlief diese konstituierende Sitzung in der üblichen Routine (TE berichtete), die nicht der verfassungsrechtlichen Rabulistik eines Verfassungsblogs bedurfte. Deren an Carl Schmitt orientiertes dezisionistisches Politikverständnis wurde auf Tichys Einblick schon am Beispiel Thüringen erklärt.

Was nicht passt, muss passend gemacht werden, so die dahinterstehende Methodik. Laut § 24 Absatz 3 kann der Landtag in Zukunft die Vorsitzende oder den Vorsitzenden eines Ausschusses mit den Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Landtags abberufen. Bis dahin bedurfte es dazu einer Zweidrittel-Mehrheit. Gegen diese Neuregelung gibt es zwar keine rechtlichen Einwände, aber hohe parlamentarische Hürden dienen dem Minderheitenschutz vor der Übermacht einer Mehrheit.

Die hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert: So erreichte 2009 das klassische Lager aus SPD, Linke und Grüne (R2G) in Sachsen noch einen Stimmenanteil von 37,4 Prozentpunkten, während es 2024 nur noch auf 16,9 Prozentpunkte kam. Ob es dann klug ist, Minderheitenrechte abzubauen, ist zu bezweifeln. Die neue Geschäftsordnung des Landtages wurde mit der Mehrheit von CDU, BSW und SPD bei Enthaltung von AfD, Grüne und Linken angenommen. Die Brandmauer zur AfD hat die beiden kleinen Fraktionen nicht an einem gemeinsamen Abstimmungsverhalten gehindert.

Getöse der Dauerempörten

Diese konstituierende Sitzung in Dresden ging zu Ende, ohne dass die meisten Bürger davon überhaupt etwas mitbekommen haben. Es gibt einen professionellen Umgang mit der AfD, der sich von dem sonstigen Getöse der Dauerempörten unterschieden hat. Daran herrschte auf Bundesebene weiterhin kein Mangel. Bisweilen erinnert es an Zwangshandlungen, die die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus in Dresden so definiert: Hauptmerkmale einer Zwangsstörung seien „immer wiederkehrende Zwangsgedanken (d. h. Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die sich einem immer wieder aufdrängen, den Betroffenen beschäftigen und nur sehr schwer zu ignorieren sind) und/oder Zwangshandlungen (d. h. wiederholte, bewusst durchgeführte Verhaltensweisen, die fast immer auf einen Zwangsgedanken hin mit einem ganz genauen Ablauf und gleichen Regeln ausgeführt werden)“.

Trotz der erwiesenen Wirkungslosigkeit der bisherigen Argumentation gegenüber der AfD wird sie zwanghaft fortgesetzt. So wollen 37 Abgeordnete des Deutschen Bundestages in einem Gruppenantrag unter Federführung des CDU-Abgeordneten Marco Wanderwitz im Bundestag über ein Verbot der AfD diskutieren. Über den Rückhalt in seiner eigenen Partei ist wenig bekannt, dafür bekunden ihm einige Sozialdemokraten, Grüne und Linke ihre Unterstützung für diesen Antrag.

Letztere haben mit Wanderwitz eines gemeinsam: Ihre notorische Erfolglosigkeit beim Wähler in Ostdeutschland. Der frühere Ostbeauftragte der Bundesregierung verlor bei der letzten Bundestagswahl sein Direktmandat sang- und klanglos gegen einen AfD-Kandidaten. Seit Jahren tritt er für ein AfD-Verbot an, was vor diesem Hintergrund eine schlüssige Argumentation ist. 37 andere Abgeordnete im Deutschen Bundestag könnten unter Umständen einen Antrag einbringen, ob eine solche Debatte nicht zur Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates führt.

Am Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in Schwerin nutzte der Bundeskanzler die Gelegenheit, um über die Wähler zu reden, die sich „für eine autoritäre und national-radikale Politik“ entschieden und damit für „Populisten, die unsere freiheitliche Demokratie“ bekämpften. Das sei „verhängnisvoll“, es schade Sachsen, Thüringen und Brandenburg“, aber auch „Hessen und Bayern“. Zwar ist dieser Feiertag mit seinen obligatorischen Festakten in wechselnden Landeshauptstädten in ähnlicher Weise zum Ritual erstarrt wie der weihnachtliche Besuch des Gottesdienstes für manche Titularchristen.

Trotzdem wollte es sich der Bundeskanzler nicht nehmen lassen, selbst das Wort zu ergreifen, um seine Botschaft der politischen Spaltung zu verkünden. Damit verschwand hinter diesen Worten der Rest der Rede, die ansonsten für alle Zuhörer interessante Erkenntnisse hätte vermitteln können. So wird diese Rede wie die berühmten Twitter-Reden von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck der Vergessenheit anheimfallen. Zudem erinnert sich wohl niemand mehr an die Reden zum Tag der Deutschen Einheit aus den vergangenen dreiunddreißig Jahren.

 

Sturm im Wasserglas

So gibt es weiterhin Versuche zur Ausgrenzung einer Partei, die im Osten und im Westen einen signifikanten Teil der Wähler repräsentiert. Im Osten ist die AfD sogar die Partei mit der größten Wählerunterstützung. Die früheren Volksparteien CDU und SPD können nur noch mit Hilfe populärer Ministerpräsidenten wie Michael Kretschmer in Sachsen oder Dietmar Woidke in Brandenburg gewinnen. Die jetzt anstehende Bildung von Koalitionsregierungen wird in Ostdeutschland zu einer Herausforderung, um dieses Wort aus der Mottenkiste politischer Rhetorik einmal zu verwenden.

Das BSW ist bisher nicht der bekannten politischen Lagerarithmetik zuzuordnen, wenn sich deren Führungspersonal auch meistens aus früheren Mitgliedern der Linkspartei rekrutiert. Sie verbindet linke politische Vorstellungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit einer Kritik an der Energiewende oder der Migrationspolitik. In Thüringen und Sachsen bewiesen deren Landtagsfraktionen schon einmal ihre Koalitionsfähigkeit. In einem Gastbeitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unterstützten Woidke und Kretschmer mit dem Thüringer CDU-Landesvorsitzenden Marco Voigt eine „aktivere diplomatische Rolle Deutschlands“ im Ukraine-Krieg „in enger Abstimmung mit seinen europäischen Nachbarn und Partnern.“

Offensichtlich soll das als Präambel für zukünftige Koalitionsverträge dienen. Sahra Wagenknecht hat eine solche Positionierung zur Bedingung für eine politische Zusammenarbeit gemacht. Tatsächlich ist diese so überzeugend, wie eine historische Einlassung zum Dreißigjährigen Krieg oder den Punischen Kriegen. Bis heute ist von den drei Autoren keine Initiative bekannt geworden, um in ihren Parteien eine entsprechende Beschlussfassung überhaupt zu diskutieren. Insofern müssen weder der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz noch der Bundeskanzler ernsthaften Widerspruch befürchten. Die mediale Empörung über dieses Zugeständnis ist ein Sturm im Wasserglas.

So könnte man beim Umgang mit der AfD weiterhin von einer Zwangsstörung reden, wenn man diese Politik als einen medizinischen Sachverhalt definierte. Dabei resultiert die Unterstützung der AfD bei vielen Wählern aus einer taumelnden Gesellschaft, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. In allen relevanten Politikfeldern hat die Bundesregierung ihre Lösungskompetenz verloren, die CDU konnte bisher keine überzeugende Alternative anbieten. Wie will Merz in einer Koalition mit den Grünen eine wirtschafts-, energie- und migrationspolitische Zeitenwende durchsetzen?

Dazu kommen eskalierende außenpolitische Krisen in der Ukraine oder im Nahen Osten, die schon in normalen Zeiten jede Regierung an den Rand der Überforderung brächten. In einer taumelnden Gesellschaft sind die AfD oder das BSW das geringste Problem, außer für Politiker, die nur noch in parteipolitischen Kalkülen denken können. Es kommt heute darauf an, dass die höchst unterschiedlichen programmatischen Vorstellungen in zentralen Politikfeldern in einem offenen Wettbewerb miteinander konkurrieren. Daraus ergeben sich die politischen Mehrheiten mit der jeweiligen Verantwortung für Regierung und Opposition. Die Zeit der Alternativlosigkeit ist vorbei. Diese Phrase diente schon immer dem Zweck, den demokratischen Wettbewerb konkurrierender Ideen auszuschalten.

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