We’re not in der alten Republik anymore: eine Festschrift zum 75. Jahrestag der DDR

Zur Einheitsfeier am 3. Oktober gab die Politikerelite zu Protokoll, dass sie mit dem Land von 1990 nichts mehr anfangen kann. Aber Vorsicht: Wir erleben auch nicht wirklich die Auferstehung der Honeckerei. So einfach ist es nicht.

picture alliance / ZB | Sascha Steinach

Nein, bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich nicht um die Fortsetzung der DDR mit anderen Mitteln. Ob und was das gerade am 3. Oktober von einer Funktionselite gefeierte Land des Zusammenstehens (Frank-Walter Steinmeier) seinerseits noch viel mit der alten Grundgesetzbundesrepublik gemein hat, daraus ergeben sich ein paar Antworten, mit denen dieser Text sich abmüht.

Bestdeutschland unterscheidet sich in etlichen Punkten wirklich von dem Ostland hinter der damaligen antifaschistischen Brandmauer, in der der Autor dieses Textes seine ersten 24 Jahre verbrachte. Aber dass dieser Text eher die Unterschiede herausstellt, sagt auch etwas über die Gegenwart aus. Jedenfalls beschäftigt er sich mit dem gerade verrauschten Einheitstag am 3. Oktober einerseits und dem imaginären 75. Geburtstag eines untoten Staates andererseits. Beginnen wir mit der Frage, welches Land und welche Einheit Politiker und sonstige Repräsentanten vor ein paar Tagen eigentlich feierten und warum ihre Reden dabei so klangen, als würden sie diesen Tag so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen.

Um mit diesem Punkt anzufangen: Sie klingen so, weil die Redner weder mit der alten Bonner Republik noch dem vereinigten Land von 1990 viel anfangen können. Damit wirken sie authentisch, denn es gibt tatsächlich nur noch wenig, was diese Zeiten mit dem Jahr 2024 ff. verbindet. Ein Bildprogramm sagt mehr als tausend Textbausteine, deshalb lohnt es sich, das kurze Video nebst Ansprache der designierten Grünen-Vorsitzenden Franziska Brantner zum Tag der deutschen Einheit auf X anzuschauen.

Musikuntermalt verkündet die Amtsträgerin im leisen Tremolo NLP-Sätze wie: „Mutige Menschen gaben Hoffnung und die Hoffnung gab den Menschen Kraft, sich zusammenzutun und dadurch Unmögliches möglich zu machen.“ Dazu laufen Filmschnipsel: Genschers Auftritt vor den Ausreisewilligen in der deutschen Botschaft in Prag, ganz kurz Leipziger Montagsdemonstranten mit dem Ruf „Wir sind das Volk“, der Tagesschau-Ausschnitt vom 3. Oktober 1990. Dann wieder die Politikerin: „Auch heute geht es wieder darum, mutig daran zu glauben, dass die Vielen gemeinsam Unmögliches schaffen können.“

Franziska Brantner bekleidet das Amt einer Wirtschaftsstaatssekretärin bei Robert Habeck, und sie strebt wie gesagt gerade den Vorsitz einer Regierungspartei an. Aus beidem sollten sich für Teil zwei ihres Videos ein paar Themenfelder ergeben, auf denen vielleicht nichts Unmögliches, aber immerhin Nötiges geschafft werden könnte. Deutschlands Wirtschaft schrumpft gerade und das im Gegensatz zu allen anderen Industriestaaten. Ansässige Firmen exportieren neuerdings nicht nur Güter, sondern Arbeitsplätze, umgekehrt lassen sich Unternehmen von außen oft nur noch gegen die Leistung fantastischer Zahlungen aus der Staatskasse nieder.

Fünfeinhalb Millionen Menschen beziehen Bürgergeld, wobei es sich bei fast der Hälfte nicht um Bürger des Landes handelt. Nach der sogenannten IGLU-Studie von 2023 erreichen 25 Prozent der Schüler nach Ende der Grundstufe noch nicht einmal die ohnehin niedrigen Mindestanforderungen im Textverständnis. Im ehemaligen Musterschülerland Baden-Württemberg können 29 Prozent der Kinder am Ende der 4. Klasse nicht rechnen. Vielleicht wäre es ja eine schöne unmöglich-mögliche Aufgabe, die deutsche Analphabetenquote von derzeit 12,1 Prozent ein wenig zu senken? So viele Menschen oberhalb des Einschulungsalters können nämlich nicht, wie es heißt, sinnentnehmend lesen und zusammenhängend schreiben.

Damit hält sich die Bundesrepublik nur noch hauchdünn über dem Analphabeten-Weltdurchschnitt von 13 Prozent. Im deutschen Kaiserreich lag diese Quote übrigens je nach Quelle zwischen drei und einem Prozent. Und diese Zahl entspringt keiner „Fehlinterpretation“, wie eine eilig von ARD-Faktenfindern alarmierte Expertin zu Protokoll gab: Die kaiserliche Armee erfasste damals schon aus Eigeninteresse den Alphabetisierungsgrad ihrer eingezogenen Jahrgänge, Statistikbüros arbeiteten damals ebenfalls ziemlich akkurat.

Staatsverständnis
Die neuen Adligen von Berlin
Eine von vielen nicht mehr für möglich gehaltene Wende bestünde heute beispielsweise darin, den Niedergang des Landes wenigstens aufzuhalten. Die Bilder, mit denen Brantner die Jetztzeit illustriert, in der mutiger Glauben etwas schaffen will, zeigen allerdings Folgendes: Eine Gegen-Rechts-Demonstration in Chemnitz nach der Correctiv-Wannsee 2.0-Story, eine Black-Lives-Matter-Demonstration, Kamala Harris, Regenbogenfahnen, das Bundesverdienstkreuz für die Corona-Impfstoffentwickler von BioNTech, die ihre Forschungsabteilung vor einiger Zeit aus wirtschaftlichen Gründen nach Großbritannien verlegten, ferner Donald Tusk, der in der Tat etwas für unmöglich Gehaltenes schaffte, indem er gleich nach seinem Amtsantritt den alten öffentlichen Rundfunk abschaltete, weil er ihm zu konservativ schien. Nur ein ganz kurz in die Bildfolge geschnittener Fußballfan in schwarz-rot-goldenem T-Shirt bezieht sich ikonografisch auf Deutschland, die Bundesverdienstkreuzverleihung und die Antifa-Demonstration immerhin räumlich.

Das Land, dem der Nationalfeiertag eigentlich gilt, kommt nur noch als kleines Einsprengsel in einem One-World-Imagefilm mit progressivem Richtungspfeil vor. Vermutlich handelt es sich bei dem einzelnen Fußballfan um ein großes Zugeständnis. Gegen wen die Demonstranten in Leipzig im Oktober 1989 auf die Straße gingen, welche Verhältnisse sie damals abschütteln wollten, kommt im Sprechtext der künftigen Grünen-Chefin nicht vor. Dem Deutschland der Vergangenheit schenkt sie also so gut wie keine Aufmerksamkeit, dem der Gegenwart aber auch nicht, was den Schluss zulässt, dass sie weder mit dem einen noch dem anderen sonderlich viel anfangen kann. Ihre Vorstellung bewegt sich erkennbar im Supranationalen. Wer das für eine polemische Übertreibung hält, sollte sich eine andere Wortmeldung Brantners vom 5. Oktober anschauen.

Dieser, wie es heute heißt, Mindset erklärt das Desinteresse am eigenen Land und damit auch an dessen Niedergang ganz gut: Wer an einer weltweiten neuen Gesellschaft mitbaut, kann sich nicht auch noch um die Wirtschaftsentwicklung und die Analphabetenrate daheim kümmern, also um Nebenwidersprüche.

Schauen wir uns ein paar andere Verlautbarungen aus dem politisch-medialen Feld um die Zeit des 3. Oktober an. Was die Absender aus Berlin schreiben und sagen, steht ganz nach dem Modell Brantner kaum noch in Verbindung mit der alten Westgesellschaft vor 1990, bezieht sich nur noch pro forma auf das vereinte Land danach, knüpft aber auch nicht ganz direkt an den SED-Staat an, also den 7. Oktober. Es liegt zwischen den historischen Punkten und strebt zu etwas anderem. Wohin, darum soll es hier gleich gehen.

Die stellvertretende Parlamentspräsidentin Katrin Göring-Eckardt erinnerte am 30. September an den Auftritt Hans-Dietrich Genschers vor den DDR-Müden in der Prager Botschaft vor 35 Jahren, referierte ganz kurz zu deren Gründen („sie hatten die Einschränkung der Redefreiheit satt“), um dann zur Nutzanwendung für die Gegenwart zu kommen, also das, wofür sie das Video überhaupt produzierte: „Es ist falsch, Grenzen hochzuziehen und Mauern zu bauen, auch heute.“

Wer heute die Absicht hegt, eine Mauer zu errichten, erklärte sie nicht; um Volksfeste herum stehen bekanntlich keine Mauern, sondern nur Poller oder Betonquader, und gewissermaßen als Pendant dazu legen Tiefbautrupps gerade vor dem Reichstag einen Burggraben an. Grenzen mit zum Schießen vergatterten Soldaten, die dazu dienen, die eigene Bevölkerung einzusperren, und Grenzkontrollen, die verhindern sollen, dass jeder, der es will, ins Land kommt, stellen für die Politikerin jedenfalls mehr oder weniger das Gleiche dar. Ihr Parteifreund, der kommende Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak erhob am 3. Oktober einen Führungsanspruch gegenüber anderen Parteien mit der Feststellung, nur die Grünen könnten eine wirksame Politik gegen Faschisten und Putin-Fans betreiben, weshalb jeder, der Kritik an ihnen übt, besser die öffentliche Arena verlassen sollte, weil er entweder der einen oder der anderen Feindgruppe als Handlanger dient.

Robert Habeck wiederum rief die Opposition – also nicht die gesamte, sondern Teile davon – am 3. Oktober zum Schulterschluss für die nächsten fünf bis zehn Jahre auf, um der aus unerfindlichen Gründen schwächelnden Wirtschaft ein bisschen Vertrauen zu geben.

"Unsere Demokratie"
Der UDEMismus in unserer Zeit: ein kurzer Lehrgang
Der Bundeskanzler beklagte in seiner Rede zum 3. Oktober, dass bei Wahlen in drei ostdeutschen Ländern „Populisten, die unsere Demokratie bekämpfen wollen“, bis zu einem Drittel der Stimmen bekommen hätten, wobei es aber immer noch die übergroße Mehrheit der „Vernünftigen und Anständigen“ gäbe. Es kommt nicht alle Einheitsfeiertage vor, dass der Regierungschef gut einem Drittel der Bewohner eines bestimmten Landstrichs bescheinigt, unvernünftig und unanständig zu sein, ohne sich überhaupt die Frage zu stellen, warum sich die Leute dort politisch so entscheiden. Er merkte nur an: „Es wird viel harte Arbeit nötig sein, um diese Entwicklung zurückzudrehen.“ Offen bleibt die Frage, wie er sich das Zurückdrehen von Wahlergebnissen en detail vorstellt und von wessen harter Arbeit er sich hier etwas erhofft. Eine Teilantwort gibt die Bundesnetzagentur mit ihrer Ankündigung Anfang Oktober, dass in Deutschland ab sofort sogenannte Trusted Flagger ihre Tätigkeit aufnehmen – ein regierungsnaher Verein, der an Posts auf Facebook, X und anderen Plattformen nach Gutdünken markieren darf, wenn seine Mitarbeiter irgendetwas für „Hass und fake news“ halten. Da eben das hochamtliche Wort von der missachteten Meinungsfreiheit in der DDR fiel: Beim Markieren soll es nicht bleiben. Laut Bundesnetzagentur dient die Bestempelung dazu, bestimmte Inhalte „schnell und ohne bürokratische Hürde“ aus dem Netz zu putzen.

Die offizielle Übersetzung von Trusted Flagger lautet übrigens „vertrauenswürdiger Hinweisgeber“. Die Bundesnetzagentur, dies nur zur Information für die Jüngeren, wurde 1998, also in der fossilen Bundesrepublik, als Behörde zum Verbraucherschutz und gegen Netzmonopole gegründet. Ihre sukzessive Umwandlung in eine bundesweite Überwachungsstelle für private Kommunikation unter dem Patronat eines grünen Laufbahnfunktionärs steht in nuce für eine Entwicklung, die uns eins zwei drei im Sauseschritt in eine schon angebrochene neue Zeit führt.

Diese kleine Sammlung politischer Äußerungen im, wie Frank-Walter Steinmeier sagen würde, Spannungsfeld zwischen dem dritten und dem siebten Oktober bringt uns zu der Frage: Was lässt sich über diese neue Zeit sagen?

Zum einen, siehe oben, dass in ihr kaum noch eine innere Verbindung zur Epoche namens Altbundesrepublik besteht. Mehr oder weniger vertrauenswürdige Hinweisgeber riefen damals in dieser schwarzrotgoldenen Antike bei „Aktenzeichen xy“ an, wo es um die Aufklärung echter Straftaten ging, Politiker bepöbelten damals nicht Millionen Bürger, um ihnen dann, wenn sie einmal unfreundlich zurückkeilen, den Staatsanwalt auf den Hals zu hetzen, wobei der Freispruch in zweiter Instanz mittlerweile schon als Glücksumstand und gleichzeitig als kleiner Restbestand der fast überwundenen Ära gilt.

Mandatsträger kannten noch den Unterschied zwischen Wohnungs- und Zellentür, die DDR lag in den Neunzigern schließlich nicht weit zurück. Eine Wirtschaftsstaatssekretärin oder -staatssekretär sah ihren respektive seinen Aufgabenbereich nicht im Aufbau einer progressiven Weltgesellschaft, sondern in irgendwelchem banalen Regierungskram mit deutschem Wirtschaftsbezug. Der Ressortchef selbst stellte sich die Idealgesellschaft nicht als großen Schulterschluss zwischen Regierung und Opposition vor, er hätte auch niemals öffentlich bejammert, dass die Untertanen-Bürger ihn nicht ausreichend lieben, obwohl er sie ab und zu mit kleinen Gaben aus der von ihnen überreich gefüllten Steuerschatulle belohnt.

Rechts gehörte in diesen sagenhaften Zeiten zu den legitimen politischen Richtungen genauso wie links, es herrschte die allgemeine Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus nicht mehr bekämpft und nicht ständig ‚Faschismus‘ genannt werden muss. Bei „Asylsuchende“ dachte man vor allem an Iraner, die sich vor Khomeini in Sicherheit brachten, bei Zuwanderern an türkische Arbeiter bei Opel und den italienischen Gastwirt um die Ecke. Jedenfalls – der 7. Oktober markiert schließlich noch einen anderen Jahrestag – nicht an arabische Herrenmännchen, die aus Freude über Raketen, die auf Tel Aviv niedergehen, in Berlin Szenen aufführen, die auch aus Ramallah stammen könnten.

Die Analphabetenrate ähnelte eher der im Kaiserreich, es gab einen Bundesgrenzschutz, dafür aber keine Ausweiskontrolle in Berliner Schwimmbädern. Auch keine Meldestellen für Legales, aber von oben stigmatisiertes Verhalten. Über den Außenminister amüsierte man sich nur wegen dessen Ohren und kaum ein Mensch kannte den Namen des aktuellen Verfassungsschutzpräsidenten. Dafür kannten viele die Namen der Chefredakteure von Spiegel und Stern. Bei Florian Illies, Christian Kracht und anderen lässt sich viel über die Langeweile dieser Epoche nachlesen. Und ohne Zweifel handelte es sich bei Ede Zimmermann von „xy“, dem Tagesschau-Sprecher Karl-Heinz Köpcke, bei Hans-Dietrich Genscher und Geheimdienstchefs wie Meier, Frisch und Fromm um Langweiler von hohen Graden. Dafür las sich der Spiegel unterhaltsam.

3. Oktober statt 17. Juni
Freiheit statt Einheit: Zum Tag der Deutschen Einheit
Dem einen oder anderen Westsozialisierten, der nichts anderes kannte als diese Gediegenheit über mehrere Generationen hinweg, stand der Sinn möglicherweise um 2015 herum nach ein bisschen echter und nicht nur dahingeredeter Dekonstruktion, kurz Zertrümmerung allzu friedlicher innerer Verhältnisse, zumal diese spezielle Sorte von Jungprogressiven mit der DDR vor allem Trabi-Safaris in Berlin und neuentdeckenswerte Dinge wie Mietpreisbremse und Produktionslenkung verband. Was die altbonner Langeweile und Langeweile überhaupt angeht: Sie lässt sich erst mit der Epoche des großen Um- und Abbruchs sinnvoll in Beziehung setzen. Ein alter chinesischer Fluch lautet: „Mögest du in aufregenden Zeiten leben.“

Und nun zur Zone. Der Autor dieses Textes schrieb schon mehrfach, gerade die Achtziger in der DDR hätten sich zumindest für diejenigen, die nichts mit ihr anfangen wollten, wie ein ewiger Sonntagnachmittag im elterlichen Wohnzimmer angefühlt. Man verbrachte die Zeit vor allem mit Lesen und Warten. Wer diese Jahre erlebte, kennt aber auch die Unterschiede zu unserer hybriden Steinmeier-Brantner-Haldenwang-Gegenwart. Geschichte reimt sich höchstens, ganz gelegentlich auch mit Kehrreim. Aber einmal ernsthaft: Zu DDR-Zeiten konnten Männer mit Plastejacken und Klappfix am Morgen klopfen und einen ohne Begründung mitnehmen. Man konnte keinen echten Anwalt und dazu noch eine Entsprechung von Ralf Höcker für die Öffentlichkeitsarbeit anrufen. Freisprüche gab es auch in den höheren Instanzen nicht.

Unbotmäßige Jugendliche verschwanden im Jugendwerkhof, Grenztruppensoldaten, die sich weigerten, auf Zivilisten zu schießen, im Armeeknast Schwedt. Trusted Flagger hießen IM und die Bahn mit der eigenartigen Bezeichnung Reichsbahn sah so aus, als hätte sich seit dem letzten Reichsverkehrsminister nicht mehr viel getan. Mit anderen Worten, sie funktionierte noch schlechter als die Deutsche Bahn heute und mehr oder weniger so wie die Gesamtwirtschaft hinter Zaun und Mauer. Und das, obwohl oder gerade weil sich die zuständigen Funktionäre nicht um den Globalfortschritt kümmerten, sondern um die Versorgung der Bevölkerung mit Frischfisch und Bettwäsche. Sehr viele Insassen wünschten dieses Land zu verlassen, die Ausreise geschah per Gnadenakt und selbst Juso-Kader von drüben eilten gleich nach dem Händeschütteln mit Eberhard Aurich wieder zurück in ihren erzfeindlichen Kapitalismus.

Nein, alles in allem überwiegen die Unterschiede und das auf allen Gebieten. Den Politbüromännern (Quote gab es auch nicht) muss man unterstellen, dass sie den Untergang ihres 108000-Quadratkilometer-Reichs zwar objektiv betrieben, aber nicht wollten. Auch nicht als Auflösung in einem Weltganzen. Sie verachteten das Land nicht, das sie kaputtregierten. Im Gegenteil, sie liebten es und liebten doch alle darin, wenn auch auf ihre sehr spezifische Weise. Wenn es überhaupt eine Ähnlichkeit zwischen ihnen und den heutigen Kadern der eigentlich schon halb wegtransformierten Bundesrepublik gibt, dann den Umstand, dass beide Gruppen den Bonner Staat und die dazugehörige Gesellschaft bekämpften. Erstere allerdings erfolglos.

George Orwells „1984“ als Gebrauchsanleitung
"Bürgerrat" empfiehlt Meinungskontrolle – und Nancy Faeser dankt
Wer dem kommenden Grünenduo lauscht oder von den Plänen der Grünen erfährt, Immobilieneigentümer beispielsweise so mit neuen Steuern auszuquetschen, dass sich vermietetes Wohneigentum als Altersvorsorge nicht mehr lohnt, und wer die Gewichtsverschiebung vom Materiell-Ökonomischen zur reinen Propaganda wahrnimmt, der kann schon auf die Idee kommen, dass Neoprogressive meinen, der Sozialismus wäre in der DDR vor allem deshalb gescheitert, weil er in der Hand von Ossis lag, weshalb es jetzt Versuch zwei durch westdeutsche Politikwissenschaftsabsolventen geben müsse, die schlauerweise nicht über Marx, sondern über Gramsci kommen. Überhaupt, wer die kurzen Biografien von Franziska Brantner, Felix Banaszak und drei weiteren Dutzend Nachwuchspolitikern liest, der weiß: Der Berufsfunktionär erlebt seine Wiederkehr.

Das mag alles sein. Die DDR lebt sich punktuell hoch, hoch, hoch. Durchaus. Nicht zuletzt in der Klangfarbe, etwa, wenn Apparatschiks erklären, dass sie ihre Politik den Menschen jetzt noch besser erklären müssten. In der DDR herrschten plumpere, brutalere und, ja, zum anderen auch leichter zu bekämpfende Verhältnisse. Es gab von vornherein weniger Wohlstand zum Verfeuern. Die Gegenwart in der Phase nach der klassischen Bundesrepublik wiederholt die DDR nicht. Es gibt sehr viel mehr wirtschaftliche Substanz, die sich noch verfeuern lässt, das durchaus. Es herrscht aber trotz Meldestellen, vertrauenswürdiger Flaggenpersonen und durchgedrehter Staatsanwälte sehr viel mehr Bewegungsfreiheit. Es existieren sehr viel mehr Möglichkeiten zum Spott, zum demonstrativen Nichtunterhaken. Auch Möglichkeiten, sich zu wehren. Alles in allem, der Autor beispielsweise dieses Textes riskiert überhaupt nichts, außer über das Schreiben einen der letzten warmen Herbsttage zu verpassen.

Wenn es ein Fazit zwischen dem 3. Oktober und dem 75. Jahrestag der untoten deutschen Unrepublik gibt, dann erstens, in Anlehnung an den Zauberer von Oz, wo es hieß: „we‘re not in Kansas anymore“: Wir sind nicht mehr in der Bundesrepublik von 1949 und 1990. Aber wir fliegen auch nicht zurück in den ostzonalen Staat, sondern vorwärts, mit erkennbarer Richtung, aber unklarem Ziel.

Wir leben in aufregenden Zeiten.


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Kommentare ( 20 )

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Wilhelm Roepke
32 Minuten her

Ach das wird schon. Jeder Sozialismus, auch der grüne, endet, wenn ihm das Geld anderer Leute ausgeht. Und das dauert nicht mehr so lange.

joerg hensel
2 Stunden her

Wenn mit „Ratifizierung“ eines Rechtsaktes zeitgleich seine Rechtsgrundlage aufgehoben wird, hat dieser Rechtsakt zu keinem Zeitpunkt Rechtskraft erlangt.

Hier: Angenommener „Beitritt“ gem. Art. 3 EinigVtr und die zeitgleiche Aufhebung seiner Rechtsgrundlage (s.g. „Beitrittsartikel“ resp. Art. 23 GG a.F.) via Art. 4 Ziff. 2 EinigVtr.

Axel Fachtan
2 Stunden her

Die Menschen sind auf die Straße gegangen für echte Freiheit. Die russische Bevormundung sollte ein Ende haben. Neue Bevormundung war nicht der Wunsch der Menschen. 35 Jahre später aber haben die Menschen genau das. Sie haben nicht nur Russland und die UdSSR und den Warschauer Pakt und den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe und die KPDSU und die SED und Honecker und Mielke abgewählt. Sondern es haben eben die Amis, die EU, die NATO, Blackrock, WEF und transatlantische Stiefelknechte ganz und gar die Macht übernommen. Die Menschen sind nicht frei geworden, sondern sie haben neue Kolonialherren bekommen. Damit hatten sie so… Mehr

Melly
2 Stunden her

Es gibt keinen Unterschied zwischen den alten Roten und den neuen Roten. Wirtschaftlich und Ideologisch völlig Blind vor Hass gegen alle die etwas anderes Denken. Wagenknecht hat ja auch schon ihre Träume mit der Schalmei heraus geblasen. Alles Verstaatlichen außer die kleinst Handwerker. Genau der Spruch des Politbüros, als man merkte, dass ohne Private- Firmen kaum noch ein Dach dicht wird. Die 68er im Westen, waren der Grundstein für das heutige Grün Rote Desaster. Im Osten dachte man mit „Seit bereit“ und “ Rot Front“ könne man die Jugend trimmen. Alles Käse, aber gefährlich!!! Unbedingt lesen: Der Todestrieb in der… Mehr

Last edited 2 Stunden her by Melly
Peter Pascht
1 Stunde her
Antworten an  Melly

Richtig !!!
Der kapitalistische Privat Sozialismus ist genau so ein Dreck wie der stalinistische Gemeinschafts Sozialismus. Nur Ganoven am Stehlen.
Nachdem die Wirtschaft sich nun aus eigenem verschulden in den Gier-Bankrott ist gewurschtelt hat, hält sie die Hand beim Steuerzahler auf.
Der Lindner von der FDP meint das kann aber nur der Anfang sein.
Die „Klimakungelei“ mit den Grünen ist in die Hose gegeangen.

Peter Pascht
2 Stunden her

„Zur Einheitsfeier am 3. Oktober gab die Politikerelite zu Protokoll, dass sie mit dem Land von 1990 nichts mehr anfangen kann.“ Klaro, inzwischen hatten wir ja die SED-Merke lÄra. Seit dem „leben wir im besten Deutschland aller Zeiten“. Schmeißen Geld weg wie Heu. Jährlich 48 Milliarden für EU und Entwicklungshilfe. Nun Beitritt zur „Globalen Allianz gegen den Hunger in der Welt“. Nur Deutsche Rentner/innen dürfen hungern. Altersarmut in Deutschland !!! Quelle:ÖRR Noch nie war die Altersarmut so hoch wie heute, im „Besten Deutschland aller Zeiten“ Das versteht man unter GG Art,1 „Die Menschenwürde ist unantastbar“ 730.000 Rentner/innen beziehen Grundrente =… Mehr

Last edited 2 Stunden her by Peter Pascht
Digenis Akritas
2 Stunden her

Ja, es ist vor allem der blindwütige Selbsthass, das Aufgehenwollen in etwas Abstraktem, das den Unterschied markiert. Es ist die auf mehrere Generationen angelegte „Machtergreifung“ der 68iger, die ihre Erben in ihrem Sinne erzogen und die sich daraufhin radikalisiert haben. Es ist zudem die Suche nach Sinn im eigenen Leben, nach einem Glauben, nach einer Mission etc. Dennoch: Verfolgungs- und Unterdrückungsmethoden sind heute smarter als früher, weniger physischer, weitaus mehr psychischer Natur. Gegen sie kann man sich kaum wehren. Nebulöse, unthematische, kaum artikulierte Drohungen reichen völlig aus (man erinnere sich an den Corona-Impf-Feldzug) – der Knast ist nicht mehr in… Mehr

Adlershofer
3 Stunden her

Wieder einmal ein Top-Artikel von Ihnen, Herr Wendt! Ich frage mich nur, wieviel der Bürger, die ununterbrochen in der 75 Jahre alten Variante der BRD gelebt haben, diesen Text verstehen. Solange die Wahlergebnisse in den alten Bundesländern so sind, wie sie sind, wird sich nichts ändern und das Land rast weiter mit wachsender Geschwindigkeit auf die Wand zu. Die Realität wird sich trotzdem durchsetzen gegenüber der Ideologie, allerdings zu einem sehr hohen Preis. Man sollte sich vorbereiten. Erfahrungen aus dem Zusammenbruch der DDR sind hilfreich.

Dundee
3 Stunden her

„Ob und was das gerade am 3. Oktober von einer Funktionselite gefeierte Land des Zusammenstehens (Frank-Walter Steinmeier) seinerseits noch viel mit der alten Grundgesetzbundesrepublik gemein hat, daraus ergeben sich ein paar Antworten, mit denen dieser Text sich abmüht.“ Sehr geehrter Herr Wendt, Sie haben einen ausgiebigen, mit vielen Bonmots gefüllten Text verfasst, um das von Ihnen bewusst und den meisten Menschen unbewusst wahrgenommene, gegenwärtige Phänomen zu erklären. Doch Ihre Erklärung bleibt unbefriedigend, da Sie zu dem Ergebnis kommen „wir fliegen auch nicht zurück in den ostzonalen Staat, sondern vorwärts, mit erkennbarer Richtung, aber unklarem Ziel.“ Es ist diese allgegenwärtige Schwammigkeit,… Mehr

Last edited 2 Stunden her by Dundee
Alexa vB
1 Stunde her
Antworten an  Dundee

Ich würde Ihren Text gern in voller Länge lesen. Es scheint, dass Sie einen libertären Ansatz verfolgen, über dessen tiefenideologischen Abgründe die Menschen dringend im Unklaren gelassen werden müssen damit sie nicht in Scharen das Land verlassen, eine Revolte anzetteln oder mindestens die steuerrelevante Frohn niederlegen.

Dundee
55 Minuten her
Antworten an  Alexa vB

Vielen Dank. Die Niederlegung der steuerrelevanten Frohn sehe ich als einzigen sinnvollen Ansatz, das geplante totalitäre, menschenfeindliche System friedlich zu verhindern. Eine Revolte würde dem totalitären System nur helfen sich auszudehnen und zu festigen. Das Land zu verlassen führt nur dazu, dass man selbst in einem anderen Land mit den gleichen Themen konfrontiert wird und dann – als Ausländer – noch hilfloser und verletzlicher dem gegenüber steht.
Der hybride Krieg, der gegen uns als Bevölkerung geführt wird, wird über die Steuern, die wir selber zahlen, finanziert. Wenn wir diesen Krieg stoppen wollen, müssen wir die Finanzierung dieses Krieges stoppen.

Bubi1111
3 Stunden her

Eine gute Feinarbeit oder Detailarbeit von Herrn Wendt, uns diese Zusammenstellung uns diese Zusammenstellung nahezubringen, Dank dafür. Das Statement von Katrin ist erschütternd wie sie das Narrativ bringt, als „Genscher es fertig gebracht habe, dass 4000 Leute von Ungarn ausreisen durften…“ Heute weiß man, dass es eine der vielen Aktionen des sowjetischen militärischen Geheimdienstes GRU war, letztlich von Gorbatschow geleitet, um Russland aus der Isolierung herauszuführen, damit der Westen die Sanktionen aufhebt im Gegenzug für die Freiheit der Ostblockstaaten und die Wiedervereinigung Deutschlands. Diese Operation (Licht) musste so inszeniert werden, dass der Übergang vom kommunistischen System in ein angepasstes kapitalistisches nicht in… Mehr

Boudicca
3 Stunden her

Nie lebte der Berufsfunktionär so gut und gerne besser vom Geld der Anderen, sowohl aus West wie Ost, weshalb das mit dem Schulterschluss bei ihnen besonders gut funktioniert. Die Richtung geht ganz klar zum besseren Sozialismus mit staatsmonopolistischem Kapitalismus als Ziel. Das Problem ist nur, wenn Degrowth als Transformationsprozess abgeschlossen ist, endet auch das Geld der Anderen, dieses Mal besonders gründlich und ob man es wahrhaben will oder nicht die rettende harte D-Mark mit der die Wiedervereinigung finanziert wurde, gibt es nicht mehr. Immerhin sind wir dann alle gleich arm, bis vielleicht auf die Windbarone, die die nächste Generation Windmühlen… Mehr

Last edited 3 Stunden her by Boudicca