Die Dauerbeschallung mit völlig widersprüchlichen Politiker-Botschaften

Der Bundesverkehrsminister warnt davor, Bilder von Essen zu posten – wegen knapper Energie. Gleichzeitig verkündet er höhere Subventionen für Elektroautos. Unentwegt werden Bürger mit Verlautbarungen beschallt, die nicht zusammenpassen. Das macht sie krank.

Möglicherweise erscheint in Zukunft jedes Mal, wenn Sie ein Foto von Essen in einem sozialen Netzwerk posten wollen, das Bild eines Mannes mit angestrengten Gesichtszügen, den Sie weder auf den ersten noch den zweiten Blick erkennen, weil es sich um Bundesverkehrsminister Volker Wissing handelt. Der Minister beziehungsweise seine kleine Animation auf dem Bildschirm wird Sie fragen: „Ist das wirklich notwendig? Haben Sie schon mal überlegt, wie viel kostbare Energie Sie verbrauchen, wenn sie anderen Ihren Gulasch zeigen? Und überhaupt – Gulasch?“

Bis der kleine digitale Mahn-Wissing überall auftaucht, dauert es vielleicht noch ein paar Monate. Aber den dringenden Hinweis, Fotos von vollen Tellern nicht ins Netz zu stellen, sprach der ganz analoge Minister schon einmal aus, und zwar nach einer ebenfalls analogen und deshalb ziemlich energieintensiven Digitalministerkonferenz in Düsseldorf. Im ZDF, das auch nicht ganz unerheblich Energie und unter CO2-Ausstoß erwirtschaftetes Gebührengeld verbraucht, berichtete Wissing, man habe in der Politikerrunde „auch ganz konkrete Themen angesprochen“, nämlich, welche ungeheuren Energiemengen durch Essenfotos verschwendet würden. „Wenn wir uns die Zahlen der Fotos von Essen anschauen, weltweit“, so Wissing, „da kommt man auf einen enormen Energieverbrauch.“ Er sei jedenfalls darüber erschrocken.

— ZDF-Landesstudio Nordrhein-Westfalen (@ZDFnrw) May 11, 2022

Eine Erklärung, warum er ausgerechnet das Posten von Mahlzeiten von Normalbürgern für energiepolitisch bedenklicher hält als beispielsweise die Politiker- und Journalisten-Tweets, die grob gepeilt schon die Hälfte des deutschen Twitter-Inhalts ausmachen, lieferte er nicht. Was vielleicht daran liegt, dass es sich beim Zurschaustellen von Essen in Netzwerken eher um eine hochbedenkliche Volkslustbarkeit handelt, vergleichbar mit Grillen, Fleischessen und Flügen nach Mallorca, aber beim Dauertwittern von Medienschaffenden und Mandatsträgern, gern auch aus dem Hubschrauber mit Familienbegleitung, um ernste Tätigkeiten für das Gemeinwohl.

Im sogenannten Netz jedenfalls sorgte Wissings Ermahnung für einen ziemlichen Energieschub. Die einen erinnerten den Freidemokraten daran, wie er sich kürzlich noch an einem Tisch für Waffeln fotografieren ließ, um das Ergebnis über Instagram zu verschicken.

Andere entwickelten gleich ein analoges Handbuch mit weiterführenden Tipps für den Dialog mit den Bürgern.

Screenshot via Facebook

Viele schickten dem Bundesminister auch nur freundliche Tafelgrüße.

Der Ratschlag, zumindest bei der elektronischen Essensdokumentation zu fasten, um Strom zu sparen, hat allerdings auch eine etwas ernstere Ebene. Ist das, fragt sich der Bürger, tatsächlich der gleiche Verkehrsminister Wissing, der eben noch die Erhöhung der staatlichen Subventionen für den Elektroautokauf auf über 10.000 Euro ins Speil gebracht hatte? Ein Tesla verbraucht mit Sicherheit die Strommenge für eine einmalige Ladung, mit der alle Digitalminister der Welt lebenslang ihr Abendmenü fotografieren und ins Netz stellen könnten. Wie soll das zusammenpassen, dass Wissing sich die immer schnellere Elektrifizierung des deutschen Straßenverkehrs wünscht und dafür enorme Hilfsgelder locker macht, und gleichzeitig meint, Strom wäre eigentlich heute schon zu knapp, um Fotos vom gedeckten Tisch zu verschicken?

Es passt überhaupt nicht zusammen. Woher der Strom für Millionen Elektrofahrzeuge und Millionen Wärmepumpen kommen soll, wenn gleichzeitig – und zwar nach dem Willen der Regierung, der Wissing angehört – grundlastfähige Kraftwerke reihenweise vom Netz gehen, das ist eine berechtigte Frage. Eine halbwegs befriedigende Antwort von Wissing und seinen Kabinettskollegen steht dazu noch aus.

Exakt das, die ständige Gleichzeitigkeit völlig widersprüchlicher Verlautbarungen von führenden Politikern bleibt nicht ohne Wirkung auf die Empfänger, also die Bürger. Sie hören von dem bayrischen Gesundheitsminister die Mahnung, auch in Zukunft bei Veranstaltungen in Innenräumen Maske zu tragen – und sehen diesen Gesundheitsminister praktisch zeitgleich auf Facebook-Bildern ohne Maske bei einer CSU-Veranstaltung im Innenraum.

Sie erfahren von Politikern von der überragenden Wichtigkeit, jede Tonne Kohlendioxid einzusparen, wo es nur geht. Und gleichzeitig, dass nichts an der Abschaltung der letzten deutschen Kernkraftwerke vorbeiführt, und stattdessen eben Kohlemeiler wieder verstärkt laufen sollen.

Sie lernen von den Verantwortlichen, dass der Kampf gegen den Antisemitismus keine Kompromisse duldet – es sei denn, die antisemitischen Parolen werden auf der Straße von arabischstämmigen Demonstranten herausgebrüllt. Dann gelten schlagartig sehr viel mildere Maßstäbe.

Zum politisch-medialen Dauersound gehört auch die Mitteilung von Oben, die guten Jahre seien vorbei, der Höhepunkt des Wohlstands überschritten, jetzt müsse jeder überlegen, mit weniger auszukommen, nicht nur bei Facebook-Einträgen zum Abendessen. Geht es um Abgeordnetenbesoldung, Schaffung neuer Spitzenbeamtenstellen, den Rundfunkbeitrag oder den Erweiterungsbau des Kanzleramts für mehr als eine halbe Milliarde Euro, dann gilt wieder der gute alte Satz von Monaco Franze: „A bissel was geht immer“.

Bei nicht wenigen Endverbrauchern von Politik führt die Dauerbeschallung mit völlig widersprüchlichen Botschaften zu einem Rückzug aus Selbstschutzgründen. Denn der Versuch, das, was ganz offensichtlich nicht zusammenpasst, trotzdem auf einen rationalen Nenner bringen zu wollen, verschlingt einfach zu viel Lebensenergie. Und die ist bekanntlich auch nicht unendlich. Viele merken auch schlicht und einfach, dass es diesen rationalen Nenner nicht gibt. Eine ausgeprägte kognitive Dissonanz scheint heute Voraussetzung für den Beruf des Politikers zu sein. Für den des öffentlich-rechtlichen Medienschaffenden übrigens auch.

Vielleicht verdrängen die meisten Politiker tatsächlich nicht nur ihre Gespräche mit Bankiers über Cum-Ex-Angelegenheiten, sondern generell das, was sie eben noch auf Twitter, Facebook oder im Sendestudio für richtig, wichtig und alternativlos hielten, weil sie sich von Aufmerksamkeitswelle zu Aufmerksamkeitswelle hangeln – das allerdings mit der Gedächtnisspanne eines Goldfischs.

Für die Abwendung der Normalbürger, die eigentlich nichts anderes wollen, als ihre psychische Restgesundheit zu schützen, haben Politiker und ihre Medienbegleiter eine ganze Reihe von Erklärungen: die vielen Fake-News im Netz. Die sogenannte Infodemie. Die Populisten. Und immer lautet ihre Empfehlung: Die öffentliche Kommunikation muss stärker gelenkt werden. Nichtregierungsorganisationen, die mit Regierungsgeld arbeiten und wissen, was richtig und wichtig ist, brauchen noch mehr finanzielle Mittel. Bürger brauchen mehr politische Bildung.

Eine alternative Maßnahme kommt selbstredend nicht in Frage, nämlich ein einmonatiges Twitter-, Facebook- und Talkshow-Fasten sämtlicher Bundespolitiker.
Wüssten Sie danach noch, wie der Gesundheitsminister heißt? Die Vorsitzende der Grünen? Die Wieheißtsiedochgleich-Talkmeisterin der ARD? Eher kommt irgendwann die Pflicht, den wöchentlichen Schnattertsunami zu schlucken, zumindest teilweise, weil sich nicht mehr genügend Freiwillige finden. Dass sich überhaupt noch so viele finden, ist das eigentliche Mirakel.

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