Anfang des Jahres wurde wegen des selbst verschuldeten Impfstoffmangels noch über den Impfneid diskutiert – jetzt ist es die Impfmüdigkeit; trotz der kürzlich nach oben korrigierten Anzahl der Geimpften. Könnte Deutschland bald mit der Durchsetzung einer Zwangsimpfung zur Corona-freien Region erklärt werden? Könnte die Pockenimpfung, die Mutter aller Vakzinierungen, als Vorbild dienen?
Die durch Pocken-Viren verursachte Erkrankung ist schon seit Jahrtausenden als Geißel der Menschheit gefürchtet und zählt zu den gefährlichsten Viruserkrankungen mit einer Sterblichkeit von 20 bis 30 Prozent. Durch konsequentes Impfen konnte die Weltgesundheitsorganisation WHO 1980 den Globus als pockenfrei erklären und damit wurde die Pockenimpfung eine der größten Erfolgsgeschichten der modernen Medizin. Da die Impfungen mit lebenden Pockenviren durchgeführt wurden, konnten allerdings Kinder bei einer zu hohen Pockendosis nicht selten schwer erkranken; eine Nebenwirkung, die aufgrund der hohen Mortalität einer Infektion mit Pocken toleriert wurde.
Bayern führte als erster Staat eine Impfpflicht für die Pocken ein, das Deutsche Reich folgte 1874 und 1967 die WHO. 1976 wurde die Impfpflicht wieder ausgesetzt, da die Pocken in Deutschland als ausgerottet galten. Aber nicht nur in Deutschland, auch in England und in Amerika entwickelte sich damals schon eine massive Impf-Gegnerschaft, basierend auf einer starken Tradition des Liberalismus. Bereits im 19. Jahrhundert wurde darüber diskutiert, wer über den Körper bestimmen darf: das Individuum oder der Staat? Impfungen waren wie heute auch eine Projektionsfläche für die Angst vor einem totalen Gesundheitsstaat und gaben Anlass, um über die Kompetenzen und die Grenzen des Staates zu diskutieren. Da die Kuhpocken damals direkt von infizierten Kühen an Kinder verimpft wurden (Vakzinierung: Vacca= Kuh), entwickelten sich große Vorbehalte bis hin zu kruden Verschwörungstheorien, dass sich beispielsweise mit den Pockenimpfstoffen Menschen in Kühe verwandeln könnten.
Die im 19. Jahrhundert entstehende Gruppe von Impfgegnern mündete in die Lebensreformbewegung, die heute der Alternativmedizin zugerechnet werden kann. Die heterogenen Strömungen umfassten Homöopathen, Vegetarier und Anhänger der Freikörperkultur mit dem gemeinsamen Ideal, natürlich zu leben. Das ähnelt sehr dem Spektrum der jetzigen Querdenkerszene, die kürzlich als „rechtsradikal“ konnotiert nun vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Es gab schon immer einen harten Kern von Impfgegnern auch vor der Corona-Pandemie; laut Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vom Jahr 2016 lehnen etwa drei bis fünf Prozent der deutschen Bevölkerung Impfungen grundsätzlich ab.
Eine Impfpflicht führt selbst bei Menschen, die Impfungen als Gesundheitsschutz grundsätzlich bejahen, wegen der staatlichen Verpflichtung zum Widerstand. Die Impfpflicht lässt sich in der Praxis kaum umsetzen, da sie nicht nur angeordnet, sondern auch kontrolliert und durchgesetzt werden muss. Sollen dann Nicht-Geimpfte gerichtlich vorgeladen und in speziellen Lagern, welche für die „Corona-Verweigerer” vorgesehen waren, zwangsgeimpft werden?
Als während des Zweiten Weltkriegs in Europa Millionen Menschen an Diphtherie erkrankten und Tausende Kinder jedes Jahr daran verstarben, führte selbst der NS-Zwangsstaat keine Impfpflicht ein, sondern setzte auf Werbekampagnen, die höhere Impfquoten erzielten als die Pflichtmaßnahmen zur Pockenimpfung. Auch die durch Polio-Viren verursachte Kinderlähmung wurde mit einer freiwilligen Impfung weltweit (Ausnahmen Pakistan und Afghanistan) mit Unterstützung der Globalen Initiative von UNICEF, WHO, Rotary International und der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung besiegt.
Im Februar 2020 wurde das Masernschutzgesetz mit einer Impfpflicht für Kinder und Erwachsene in Kindergärten, Schulen sowie Gemeinschafts- und medizinischen Einrichtungen beschlossen; die Durchsetzung erwies sich erwartungsgemäß als schwierig. Zur Kontrolle sind die chronisch überlasteten Gesundheitsämter zuständig; zum anderen dürfen Träger von Kitas Neuzugänge nur mit Impfnachweis annehmen; für Bestandskinder sollte der Nachweis nachgereicht werden. Wegen mangelnden Rücklaufs wurde die Frist hierzu nochmals um 6 Monate verlängert. Bei Verzug melden die Träger die säumigen Eltern ans Amt, und am Ende einer langen Eskalationskette droht ein Bußgeld von bis zu 2.500 Euro. In Sachsen stauen sich in den Ämtern Hunderte gemeldeter Verzugsfälle. Im Falle einer allgemeinen Corona-Impfpflicht wären die Ämter komplett überfordert und eine Impfpflicht nicht durchsetzbar.
Gemäß einer Studie der Humboldt Universität Berlin, des WZB Berlin Social Science Center und der Columbia University wären aktuell 67 Prozent von 20.500 Befragten bereit, sich impfen zu lassen. Bei den 17 Prozent Unentschlossenen ließe sich mit 50 Euro die Impfbereitschaft um fünf Prozentpunkte erhöhen. Nach einer Studie des Karlsruher Instituts für Technologie und der UC San Diego stieg die Impfbereitschaft bei 100 Dollar um 4,5 Prozentpunkte, bei 500 Dollar um weitere 13,6 Prozentpunkte. Kleinere Beträge wie etwa 20 Dollar wirken dagegen eher abschreckend. Der gesellschaftliche Wert einer einzelnen Impfdosis, die noch 2021 verabreicht wird, wurde schon Anfang des Jahres auf 1.500 Euro geschätzt. Selbst Impfanreize von 500 Euro würden sich theoretisch rechnen.
Die historische Erfahrung lehrt, dass die Gruppe harter Impfgegner sich auch unter Zwang kaum umstimmen lässt. Eine erfolgreiche Kommunikationsstrategie ist erfolgversprechender, die Unentschlossenen zu überzeugen. Das beinhaltet aber auch eine angemessene Darstellung von Risiken und Nebenwirkungen der jetzt verfügbaren Impfstoffe samt dem bislang geringen Kenntnisstand möglicher Langzeit-Toxizitäten, welcher der Pandemie-bedingten, hohen Entwicklungsgeschwindigkeit geschuldet sind. Dies gilt umso mehr, als dass sich die neuen, gentechnisch basierten mRNA-Impfstoffe von den herkömmlichen Vakzinen, welche auf der Immunisierung durch abgetötete/abgeschwächte Viren/Bestandteile beruhen, deutlich unterscheiden und in ihrer immunologischen Langzeitwirkung nicht ausreichend erforscht sind. Die Corona-Impfstoffe erhielten deshalb eine „Conditional Marketing Authorization”, also eine vorläufige Zulassung mit Auflagen.
Die Durchsetzung und Kontrolle einer generellen Impfpflicht ist ein naives Kind totalitärer Allmachtsvorstellungen einiger deutscher Politiker. Deutschland als Corona-freie Zone ist ein theoretisches Spielzeug der Null-COVID-Bewegung und aufgrund der hohen Übertragbarkeit der Coronaviren ein unrealistisches Szenario. Eine Herdenimmunität zu erzielen ist ein hehres Ziel; leider weiß niemand, ob eine Impfquote von 85 Prozent, 90 Prozent oder wie bei Masern von 95 Prozent notwendig ist. Wir werden mit Corona noch länger leben müssen und können.
Dr. Jörg Schierholz