Das Verfassungsgericht urteilte im Juli 2012: mehr als 15 Überhänge sind unzulässig. Bei der Wahl vom September 2017 sind aber 46 Überhangmandate entstanden.
Bei der Wahl vom 24.9.2017 sind 46 Überhänge entstanden, ein nie dagewesener Rekord. Schlimmer noch: ein Verfassungsbruch. Ist die Bundestagswahl also null und nichtig? Die Antwort lautet: Ja, das trifft zu. Das Nähere steht in Artikel 41 Grundgesetz.
Die Wahlprüfung ist ein Grundrecht. Sie ist Sache des Bundestages. So will es die Verfassung. Die Einzelheiten regelt das Wahlprüfungsgesetz (WahlPrüfG). Danach kann die Wahl von jedem Wahlberechtigten einzeln oder zusammen mit anderen, innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab dem Wahltag, beim Deutschen Bundestag in Schriftform, angefochten und zu Fall gebracht werden. Die Anfechtung muss eine Begründung enthalten. Weil die Wahlprüfung im Grundgesetz verbürgt wird, hat der Wahlleiter eine konkrete Anleitung in das Netz gestellt, wie man das zu machen hat. Es gilt das Prinzip: Wo kein Kläger da kein Richter.
Die Gründe liegen auf der Hand
Die Gründe für eine Wahlanfechtung liegen auf der Hand: 709 Abgeordnete sind in die Volksvertretung eingezogen. Es gibt dort regulär aber nur 598 Sitze. Das sind 111 Volksvertreter mehr, als das Hohe Haus bei normaler Besetzung Plätze zu bieten hat. Das ist aber nicht der springende Punkt. Mehr als 15 Überhänge sind unzulässig und verfassungswidrig. So hat das Verfassungsgericht in Karlsruhe mit seiner Grundsatzentscheidung vom 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) geurteilt. „Überhangmandate“ sind zulässig, aber gedeckelt. Es dürfen also nicht zu viele werden. Gibt es mehr als 15 Überhänge, ist die Wahl ungültig. Es sind aber 46 – verfassungswidrige – Überhänge entstanden. Und damit ist es höchstrichterlich entschieden: Die Wahl vom 24.9.2017 ist ungültig.
Um das ganze Elend des dualen Wahlsystems mit Erst- und Zweitstimme perfekt zu machen, wurden die – immer noch verfassungswidrigen – 46 Überhänge auch noch durch 65 nachgeschobene Ausgleichsmandate „egalisiert“. Wie schon 2013 gab es auch 2017 erneut überhanglose Ausgleichsmandate: Der Ausgleich überragt 2017 den Überhang um 19 Plätze. Es gab also 19 Ausgleichsmandate, denen gar kein Überhang gegenüberstand. Wie bekannt sind 2013 in vier Bundesländern 4 Überhänge entstanden. Sie wurden ausgeglichen, aber nicht durch 4, sondern durch 29 nachgeschobene Ausgleichsmandate. ,Der Ausgleich überstieg also schon 2013 den Überhang, und zwar um mehr als das Siebenfache. In sechs von sieben Fällen stand schon 2013 dem Ausgleich überhaupt kein Überhang gegenüber. Man muss also die Grundsatzfrage nach dem Sinn und Zweck der Ausgleichsmandate stellen.
„Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!“
An der Wahl des Bundestagspräsidenten und an der Kanzlerwahl werden also 111 Volksvertreter teilnehmen, von denen 46 ein Direktmandat (ohne Listenplatz) errungen haben, was vom Gesetzgeber gar nicht beanstandet wird. (Vgl. § 6 Abs. 4 Satz 2 BWahlG.) Es gibt nämlich 299 Wahlkreise. Keinen weniger und keinen mehr. Darin wurden auch 2017 genau 299 Volksvertreter mit der Erststimme direkt gewählt, keiner weniger und vor allem keiner mehr. Und gewählt ist gewählt. Deshalb gibt es keinen direkt gewählten Volksvertreter, dem sein Direktmandat in Wahrheit gar nicht zusteht. Der Wahlleiter hat sogar alle 299 Abgeordneten ohne Ausnahme aufgefordert, an der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dort zunächst den Parlamentspräsidenten und etwas später auch den Kanzler oder die Kanzlerin zu wählen.
Es gibt daher schlicht und einfach keinen Rechtsgrund, das abweichende Wahlergebnis auf der Seite der Verhältniswahl, also bei der Verteilung der Listenplätze auf die Parteien zu korrigieren, zu verbessern oder irgendwie „auszugleichen“. Nachdem die Wahllokale schon geschlossen und die Wahlergebnisse ausgezählt waren, konnten für die nachgeschobenen Listenplätze natürlich keine Wählerstimmen mehr abgegeben werden. Für die demokratische Legitimation der Ausgleichsmandate hätte man wenigsten eine Eventualstimme oder eine richtige Nachwahl speziell über den Mandatsausgleich gebraucht, mit eigenen Kandidaten, neuen Stimmzetteln und allem, was zu einer Nachwahl dazugehört. Beides gab es weder 2013 noch 2017. Die Ausgleichsmandate kamen demnach ohne freie Entscheidung des Wahlvolkes zustande, wer, welches Ausgleichsmandat, für welche Partei, in welchem Bundesland erhalten soll – und das ist grob verfassungswidrig.
Ausgleichsmandate sind wie Kuckuckseier
Ausgleichsmandate sind wie Kuckuckseier. Sie werden den Wählern untergeschoben, ohne dass sie wissen, wie ihnen geschieht. Sie sind vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe mit den beiden Wahlprüfungs-Beschwerden (AktenZ. 2 BvC 64/14 und AktenZ. 2 BvC 67/14) angegriffen und als verfassungswidrig gerügt worden. Das Verfassungsgericht hat mit der Fünf-Prozent-Hürde eine strenge Obergrenze für nachträgliche Eingriffe in das Wahlergebnis gezogen. Diese Obergrenze kann nicht überschritten werden. (Vgl. BVerfGE v. 1, 208 (256); ferner Strelen in Schreiber, BWahlG 2013, § 6, Rdnr 35, mit weiteren Fundstellen in Anm. 78.) Durch die nachträgliche Zuteilung von Ausgleichsmandaten wird über die Sperrklausel hinaus noch einmal in das Wahlergebnis eingegriffen. Niemand ist jedoch dazu befugt, das Ergebnis der Wahl jenseits der vom BVerfG akzeptierten Fünf-Prozent-Hürde erneut zu verändern, zu verbessern, zu korrigieren oder „auszugleichen“.
Wohlgemerkt: Die Wahl ist grundsätzlich keine Parteien- sondern eine Personenwahl. „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Das hat das Verfassungsgericht in Karlsruhe der Nachrücker-Entscheidung v. 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (323) so festgehalten.
Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hätte den Spuk verhindern können
Die acht Richter des Zweiten Senat beim Bundesverfassungsgericht hätten den ganzen Spuk verhindern können, haben es aber nicht getan. Am 21.9.2017, also drei Tage vor der Wahl, hatte das Verfassungsgericht in Karlsruhe die Wahlprüfungs-Beschwerde (Az: 2 BvC 64/14) in der Hauptsache durch eine sog. „A-Limine-Entscheidung“ ohne weitere Begründung verworfen (Vgl. § 24 BVerfGG). Als Folge davon haben sie auch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für erledigt erklärt. Diese Entscheidung wurde den Beschwerdeführern nach der Wahl zugestellt und ist endgültig.
Mit ihrem Eilantrag wollten die Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvC 64/14 erreichen, dass die Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, solange nicht an den Abstimmungen im Deutschen Bundestag teilnehmen dürfen, also von der Wahl des Bundestagspräsidenten und des Bundeskanzlers ausgeschlossen bleiben, solange über die Wahlprüfungs-Beschwerde nicht in der Hauptsache entschieden wurde. Nun ist es ganz anders gekommen. Drei Tage, nachdem das Verfassungsgericht die Wahlprüfungs-Beschwerde (2 BvC 64/14) in der Hauptsache nach § 24 BVerfGG 2 „a limine“ vom Tisch gefegt hat, sind bei der Bundestagswahl 46 „Überhänge“ entstanden. Allesamt sind sie verfassungswidrig, weil die höchstrichterliche gezogen Zulässigkeitsgrenze von 15 „Überhängen“ turmhoch überschritten wurde. Ist aber der Überhang schon verfassungswidrig, wird auch der Ausgleich davon erfasst. Auch der nachgeschobene Mandatsausgleich von 65 Sitzen wird also in den Strudel der Verfassungswidrigkeit mit hineingezogen.
Die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag ist deshalb ungültig. Sie kann im Rahmen einer Wahlprüfung nach Art. 41 Abs. 1 GG zuerst vor dem Bundestag, nach Art. 41 Abs. 2 GG später vor dem Verfassungsgericht erfolgversprechend angegriffen und am Ende zu Fall gebracht werden. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Deshalb sind nun die wahlberechtigten Staatsbürger am Zug. Und der Weg nach Karlsruhe ist weit.
Manfred C. Hettlage lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist und Blogger auch mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. (Zuletzt: „BWahlG – Gegenkommentar / Wenn die Wähler nicht das letzte Wort haben, haben sie auch nicht das entscheidende Wort“, 9/2017, www.wvberlin.de.) Zur Person des Autors und zum Wahlrecht vgl. dessen Internetseite: www.manfredhettlage.de
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Die Bundesversammlung ist ja auch nicht vom Volk gewählt. Das ginge auch. Sie ist ein Überbleibsel des Ständestaates und passt nicht mehr in die heutige republikanische Demokratie. Dazu passte die direkte Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk noch viel besser.
ES GIBT NOCH VIEL ZU TUN IM STAATE DEUTSCHLAND.
Es geht doch um den Willen der Wähler, nicht um %-Rechnen oder andere Rechenkünste; das gauklen uns doch nur Politologen vor. Eine Wahl ist immer eine Selektion aus vielen Möglichkeiten. Und wenn der 11%er unerwünscht ist, aus demokratischen Überlegungen heraus, dann kann das Wahlrecht ja auch anschliessend eine Stichwahl zwischen den beiden höchstprämierten Kandidaten vorsehen.
Talleyrand,wir haben ein Grundgesetz das ist richtig.Dieses Grundgesetz aber als Verfassung zu betiteln grenzt an Unwissenheit.Das Grundgesetz wurde uns nach dem Krieg von den Alliierten auferzwungen und nicht,wie bei einer Verfassung,vom Volk durch Volksentscheid verabschiedet.
Als Auslandsdeutschem gab mir das BVerfG in den 1990er Jahren das Recht an der Bundestagswahl teilzunehmen. (Klage von 1975). Doch die behördlichen (amtlichen) Wahlleiter lehnten die Anträge regelmässig ab. Sie kennen diese Entscheidung nicht. Und Klagen? Das kostet viel Geld, ändert aber das Wahlergebnis nicht. = Rechtsstaat Deutschland. Bananenrepublik.
Hier findet sich ein interessanter, bedenkenswerter Ansatz zur Problematik: http://verfassungsblog.de/eine-obergrenze-fuer-den-bundestag-wie-die-dringend-noetige-reform-des-deutschen-wahlrechts-gelingen-koennte/
Den Ausführungen von Hern Hettlage kann ich leider so nicht zustimmen, weil das ganze im Grunde kein verfassungsrechtliches Problem… Grundgesetz, Art. 38 (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt. (3) Das Nähere bestimmt ein BUNDESGESETZ. … sondern ein rein gesetzgeberisches, politisches ist: Bundeswahlgesetz, § 1 Zusammensetzung des Deutschen Bundestages und Wahlrechtsgrundsätze (1) Der… Mehr
LOL
Im aktuellen Heft (war leider erst heute in meinem Supermarkt auffindbar) legt Herr Hettlage endlich seine Karten offen auf den Tisch. In seinem Artikel „Wahnsinn statt Wahlrecht“ auf Seite 19 stellt er die kühne Behauptung auf: „Hätte man am 24. September 2017 allein mit der Erststimme gewählt, würde das die politische Landschaft vollständig verändern und wäre für den Wähler einsichtig, verständlich: Gewählt ist, wer in seinem Wahlkreis die einfache Mehrheit der Stimmen erhält.“ Von 299 Parlamentssitzen würde dann anteilig auf die Parteien entfallen: CDU 185, SPD 59, AfD 3, FDP 0, Die Linke 5, Grüne 1 und CSU 46 Damit… Mehr
Und deshalb ist dieses „britische“ Wahlrecht das beste. Nur Abgeordnete mit direktem Kontakt zu ihrem Volk im Wahlkreis werden gewählt. Das sorgt dann, dass wieder Realpolitiker in die Parlamente kommen und weniger Politologen und Partei-Karrieristen.
Iregendwie muss man die Abgeordneten, die ihre Plätze an die AfD verloren haben, doch zurück in den Bundestag bringen…
Dass eine Verfassung einen Namen haben darf, haben Sie noch nie gehört? Haben Sie keinen Sohn, wenn Ihrer Michael heißt? Man kann sich auch an konstruierten Skandalen hochziehen.
Noch nie gehört, dass wir eben KEINE Verfassung haben, sondern nur ein provisorisches Grundgesetz? Es sollte ja eigentlich mit der Wiedervereinigung durch eine VOM VOLK in einem REFERENDUM bestätigte VERFASSUNG ersetzt werden. Mir ist davon bis heute nichts bekannt!
Wir sind somit einer der wenigen Staaten, die KEINE Verfassung haben. Und ein Grundgesetz ist eben lediglich ein seinerzeit von den Besatzern und einigen willfährigen dt. Politikern aufgesetztes Hilfskonstrukt, an dem die anderen Gesetze ausgerichtet werden! Also, Anna Fritz, besser informieren!