Brexit: die ungeordnete Verlängerung als Chance

London scheint zu wanken. Die harte Linie der Brexiteers, die Maximalforderungen der Opposition, vor allem aber feste Stand von Premierministerin Theresa May – nichts ist mehr sicher. Eine ungeordnete Verlängerung des Brexit-Tauziehen hingegen wohl. Aber ist das schlecht?

Getty Images

Wer bei einem Londoner Buchmacher darauf gewettet hat, dass der Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg seinen Widerstand gegen jedweden Kompromiss beim Brexit auch nur mildern würde, kann sich jetzt über einen schönen Gewinn freuen. Dies war kaum zu erwarten, und doch ist es passiert: Rees-Mogg bringt plötzlich Kompromisslinien ins Spiel – er verlangt nicht mehr kategorisch die Neuverhandlung des Brexit-Vertrages wegen der Nordirland-Frage, stattdessen möchte er sich vielleicht mit einem Zusatzprotokoll und eine Befristung des sogenannten „backstop“ zufreidengeben. Sogar eine Zustimmung zum noch im Januar in Bausch und Bogen abgelehnten Brexit-Vertrag, den Theresa May verhandelt hatte, scheint möglich, wenn dieser am 12. März modifizierter Form dem Unterhaus vorliegt. Denn die tory-Front bröckelt.

Damit nicht genug. Auch Labour-Chef Jeremy Corbyn wird von seinen Getreuen in Richtung EU getrieben. Noch vor wenigen Wochen hatte er vor allem auf Neuwahlen spekuliert, dann auf Änderungen am Brexit-Vertrag; nun wurde auf Kurs in Richtung eines zweiten Referendum gezwungen, eines „public vote“. Dessen Ziel die Mehrheit von einer wachsenden Zahl der Labour-Parteigänger auch schon klar definiert ist: Bremain.

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Schließlich weichte Premierministerin Theresa May ihr Versprechen auf, Großbritannien definitiv am 29. März aus der Europäischen Union austreten zu lassen. Das kann sie jetzt auch, denn die Brexiteers sind ihr nicht mehr so scharf auf den Fersen wie noch im Januar. Schon die Ankündigung, dass das Unterhaus den Austrittsvertrag erneut vorgelegt bekommt, ist ein Zugeständnis. Am Tag darauf soll dann zwar der ungeregelte, harte Brexit verhandelt werden, aber wer jetzt beim Buchmacher darauf wettet, dass dieser Antrag Erfolg haben wird, der dürfte sehr ordentliche Quoten in Aussicht gestellt bekommen: Der Plan, den Weg für eine Verschiebung des Brexit zu öffnen, erhielt im Unterhaus eine überwältigender Mehrheit von 502 zu 20 Stimmen.

Bremain – zunächst auf Zeit

Am 14. März wird dann aller Wahrscheinlichkeit nach das Unterhaus über ebendiese Verschiebung des Brexit abstimmen. Und das ist nicht anderes als ein Bremain auf Zeit. Denn auch wenn zunächst von zwölf Wochen die Rede ist, zeigt doch ein Blick auf die ungeheure Zahl ungelöster Fragen, dass diese Verschiebung wahrscheinlich Verlängerungen erfahren wird – möglicherweise mehrere und längere, als bisher vorstellbar ist. Ungeachtet dessen pokert die Premierministerin weiter. Als ob sie es nicht selbst längst besser wüsste, schreibt sie in der „Daily Mail“, der Fokus des Unterhauses müsse nun darauf liegen, den Deal zum EU-Austritt zu verabschieden und die Europäische Union am 29. März zu verlassen: „Das Parlament sollte seine Pflicht erfüllen, damit unser Land vorankommen kann!“ So drückt sie es aus.

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Stephan-Andreas Casdorff listet im Tagesspiegel zusammenfassend auf, wie May in den letzten Wochen votiert hat: „Noch Anfang des Jahres bezeichnete sie den vorliegenden Austrittsvertrag als den einzig möglichen Deal. Nachdem das Unterhaus sie dann im Januar gedemütigt hatte, verdammte sie das Vertragswerk – ganz im Sinne der Brexiteers, welche die Nordirland-Regelung als Vorwand nutzen, um einen geregelten Austritt zu torpedieren. Und in dieser Woche kam Mays bisher letzte Kehrtwende: Als ihr pro-EU Kabinettsmitglieder mit dem Rücktritt drohten, erklärte sie sich zu einer möglichen Verschiebung des Brexit-Datums bereit. Diese Option hatte die Regierungschefin bislang ausgeschlossen.“

Casdorff nennt dieses Vorgehen „konfus“. Was ein Hinweis darauf ist, dass er nicht oft bei britischen Buchmachern wettet. Dass er die Mentalität der Engländer nicht recht erfasst hat. Der Brexit wird – zuerst von den Brexiteers selbst übrigens – auf der britischen Insel als Wette angesehen. Die Befürworter des Alleingangs setzen auf einen Austrittsvertrag und wetten auf die Zahl der Wochen, die zu dessen Durchsetzung als Verlängerung hinzugegeben werden müssen. Oder auf die Anzahl der Verlängerungen. Oder auf das Jahr, in dem der Brexit dann wirklich Realität wird. Denn je ungeordneter sich das Szenario beim Brexit gestaltet, desto besser sind die Chancen, und nicht nur die im Wettbüro. Falls es dann schließlich doch zu einem zweiten Referendum kommt, würden die Briten auch diese Herausforderung mit nonchalenter Geste annehmen, „sportsmen“ eben. Was aus dem Blickwinkel des Kontinents als „chancenvernichtend“, „tragisch“ und „beängstigend“ empfunden wird, sehen die Briten viel spielerischer. Sie sehen die Vorteile, egal, wie es kommt – wetten?

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Gewonnen hat Großbritannien ohnehin schon. Durch die Brexit-Entscheidung ist das glasklare Zeichen gesetzt, dass die EU-Finanzpolitik ebenso wenig gewünscht wird wie die von Berlin und Paris vorangetriebene weitere Zentralisierung eines „Brüsseler Modells“. Vor allem aber haben die Bürger durch ihr Brexit-Votum mit der Einwanderungs- und Migrationspolitik der deutschen Bundeskanzlerin abgerechnet. Diese Abrechnung steht hierzulande noch aus.

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Kommentare ( 13 )

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5 Jahre her

Das lachende (deutsche) Auge sieht ein GB, das sich der noch nie demokratisch (status quo) gewählten Kommission (vglb. somit dem Politbüro Moskau) in Brüssel entziehen will. Das weinende sieht ein GB, das die noch existierende Balance der Nord-Süd Interessen zugunsten der EU Südländer verschiebt. Was kann D also wollen? Die deutschen Förderer einer EU Vertiefung sind im Grunde Feinde einer erstmaligen Einführung der Demokratie in die EU, da sie mit der EU Vertiefung die Macht des Brüsseler Politbüros stärken wollen. Notabene: In keinem der 27 EU Staaten herrscht das Volk als Souverän. Alle 27 Völker sind gezwungen, bei Wahlen einen… Mehr

Absalon von Lund
5 Jahre her

Es bedarf schon eines Superhirns, das Durcheinander aller Verflechtungen erst einmal zu begreifen und den IST Zustand aufzuschreiben. Es ist ein teuflisches Spinnennetz, eine Art Supermikado. Wenn man es verstanden hat, muß man bei den leichten Verflechtungen beginnen und dann zu den tieferen vordringen, also Prioritätem setzen, und das geht nur schrittweise, sonst gibt es eine klaffende Wunde. Das erfordert höchste Kompetenz, viel Fingerspitzengefühl und viel heiligen Geist. Hier sehe ich den Katholiken Rees-Mogg im Vorteil, wenn er auf diesen Geist setzt. Er sollte Theresa May beraten. In jedem Fall sollten beide behutsm, aber trotzdem zielorientiert vorgehen! No-Deal, also Haudrauf… Mehr

PM99
5 Jahre her

Sollten die Briten jetzt ernstlich darum betteln in der EU zu bleiben, was wären sie für lächerliche Figuren! Wer kann die dann noch ernst nehmen?

lucrecia
5 Jahre her

Wenn man Kommentare in der DailyMail oder Artikel im Telegraph liest, findet man nichts von der Lässigkeit, von der der Autor spricht. Eher viel Wut und Unverständnis. Ein zweites Referendum würde als Verrat am Brexit und an der Demokratie empfunden werden, und das vollkommen zu recht, denn einer Volksabstimmung sollte erst einmal deren Umsetzung in der Praxis folgen. Nach fünf, sechs Jahren kann man ja wieder darüber reden, falls die Briten das dann noch wollen. Was May aber tut, ist wohl der Versuch, die Engländer irgendwie in der EU zu halten oder zumindest die Abhängigkeit von der EU so groß… Mehr

Thomas Hellerberger
5 Jahre her

Am Brexit entscheidet sich, weniger im Königreich als vielmehr in Deutschland, ob man selbst grundsätzlich ein nachkriegsgeschädigter Postnationaler ist, oder Nationaler. Für die EU und ihre Eliten ist es einerlei, ob der Brexit hart, chaotisch oder sanft oder geregelt kommt. Wenn es Verluste gibt, les boches payera tout, dafür sorgen schon die SPD und CDU. Für die EU-Eliten und Paneuropäer war es nur wichtig, daß Schaden entstanden ist, für die Briten, aber auch alle anderen. Der ist nämlich nicht zurückzudrehen, bestenfalls für die Zukunft etwas zu begrenzen – aber die abschreckende Wirkung ist da. London hat man schon seit Thatchers… Mehr

Falk Kuebler
5 Jahre her

Den Artikel habe ich gerne gelesen, aber die Schlenker im letzten Absatz fand ich dann doch ein bisschen „breathtaking“ wunschdenkend: „Durch die Brexit-Entscheidung ist das glasklare Zeichen gesetzt, dass die EU-Finanzpolitik ebenso wenig gewünscht wird wie … haben die Bürger durch ihr Brexit-Votum mit der Einwanderungs- und Migrationspolitik der deutschen Bundeskanzlerin abgerechnet.“ Für die Briten stimmt das (allerdings auch schon nur äusserst knapp!), aber zunächst mal nur für die Briten, und wenn es zu einem für Grossbritannien nachteiligen Brexit käme, dann würde die andere Seite genau das als Beweis dafür ansehen, dass eine Abkehr von der EU- und Migrations-Politik etc.pp.… Mehr

W aus der Diaspora
5 Jahre her

Es war ein Pokerspiel, wobei es darum ging, wer zuerst einknickt, GB oder EU. Beide werden verlieren bei einem No-Deal-Brexit, aber 27 verlieren nun einmal in Gesamtheit mehr als ein einzelnes Land. Nun ist May mit dem Vorschlag der Verschiebung als erste eingeknickt – zumindest sieht es erst einmal so aus. Nur, bis zur ersten Zusammenkunft des neu gewählten EU-Parlaments muss GB ausgeschieden sein, oder es wird vorher auch in GB für das EU-Parlament gewählt. Ansonsten gäbe massenweise Rechtsstreitigkeiten. Die Hoffnung auf einen Nicht-Austritt GBs hat sich somit spätestens mit der EU-Wahl erledigt. Selbst mit dem Ziehen des Artikel 50… Mehr

Jumpin Jack
5 Jahre her

Es war klar wie Kloßbrühe, daß es wieder eine Verlängerung von Fristen, Kompromisse und Relativierungen im Umgang der EU mit dem Brexit geben würde. Siehe Griechenland. Nein, eine Umkehr vom Brexit wäre fatal. Großbritannien muß endlich endgültig mit der EU brechen. Am besten hart, ohne windelweiche Deals, welche es durch die EU erpressbar machen. Nur so kann es sich unabhängig von diesem Brüsseler Irrenhaus entwickeln und Resteuropa zeigen, daß es n i c h t daran kaputt geht, nicht weiter Richtlinien von durchgeknallten EU-Kommisarinnen und den Visionen des ** Jean-Claude Junker von einem durchgegenderten Großreich Europa folgen zu müssen.

Marc Hofmann
5 Jahre her

Nochmal…die Kündigung wurde von May (England) am 29. März 2017 eingereicht…mit einer Frist von 2 Jahren. England darf seit dieser Zeit nicht mehr bei EU Treffen teilnehmen…und die EU Wahl ist auch gestrichen. Somit wird es keine Verlängerung der Frist geben…England würde sich unregierbar machen und weiter in der Gefangenschaft der EU befinden. Am 29. Marz 2019 ist England somit aus der Frist und damit aus dem Abkommen mit der EU befreit…ganz offiziell. Das Unterhaus wird somit keiner Verlängerung zustimmen…eine Zustimmung würde nämlich nichts lösen und England unregierbar halten. May wird abgewählt und es werden Neuwahlen in England nach dem… Mehr

CW
5 Jahre her
Antworten an  Marc Hofmann

GB kann doch jederzeit vor dem 29. März 2019 vom Brexit zurücktreten und am nächsten Tag dann erneut den Austritt erklären und dann beginnt die 2-Jahresfrist von Neuem.

Max Wilde
5 Jahre her
Antworten an  Marc Hofmann

Nein Herr Hofmann, ganz so schlimm ist es nicht. Das UK nimmt an den EU Treffen noch teil und muss nur draussen bleiben, eenn es um die Scheidung geht.Auch EU Wahlen müssten abgehalten werden, falls das UK am Wahltag noch nicht ausgetreten ist. Warum sollte es also keine Verlängerung geben, die möglicherweise allen Beteiligten nützt? Vielleicht gibt es dadurch sogar ein weiteres Referendum und das UK bleibt drinnen?

von Kullmann
5 Jahre her

England hat mit dem Brexit gewonnen: Bei mehr Minuszinsen der EZB wird uns der EURO samt Banken um die Ohren fliegen. Bei mehr Flüchtlingen wird uns unser Gesellschaftsmodell um die Ohren fliegen. Englands Banken und Gesellschaft werden die EU-Fehler besser überleben.

Unterfranken-Pommer aus Bayern
5 Jahre her
Antworten an  von Kullmann

Und sollten die Briten so dumm sein, in der EU bleiben zu wollen, dann werden sie halt mit in den Abgrund gezogen. Ist dann auch eine Art von historischer Gerechtigkeit, nicht?