Vom grünen Hoffnungsträger zum hartnäckigen Störer der innerparteilichen Ordnung

Der mittlerweile öffentlich zugängliche Antrag auf Parteiausschluß des grünen Tübinger Oberbürgermeisters zeugt von einer Entfremdung zwischen ihm und seiner Partei, die die Frage aufwirft, warum er überhaupt noch Parteimitglied bleiben will.

IMAGO / ULMER Pressebildagentur

Während und nach den im November des Jahres 2010 von Heiner Geißler (CDU) moderierten Schlichtungsgesprächen zu dem Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 galt Boris Palmer, der damalige grüne Wortführer der Projektgegner in diesen Gesprächen, in- und außerhalb seiner Partei als ein ebenso kenntnisreicher wie redegewandter Hoffnungsträger grüner Politik in Deutschland. Der Posten als Oberbürgermeister von Tübingen, den er im Jahr 2006 erstmals erobert hatte, sollte ein Sprungbrett für noch höhere Weihen auf Landes-, gegebenenfalls auch auf Bundesebene sein. Winfried Kretschmann (Grüne) galt als sein Freund und Förderer. Rund zehn Jahre später steht Palmer nun allerdings vor dem Scherbenhaufen eines möglichen Ausschlusses aus seiner Partei, beantragt von deren Landesvorstand in Baden-Württemberg.

Der von ihm inzwischen ins Netz gestellte, von einer Kölner Anwaltskanzlei formulierte, vierunddreißig Seiten umfassende Antrag auf Parteiausschluß liest sich über weite Strecken wie ein Antrag auf Ehescheidung aus Zeiten, als es dabei noch vorrangig um Schuldvorwürfe ging. Der betrogene Ehepartner will sich von dem untreu gewordenen Partner trennen und listet deswegen detailliert dessen „Sünden“ auf, die ihn zu diesem Schritt veranlassen. Palmers Sündenregister umfasst eine Vielzahl „umstrittener Äußerungen“ in den Medien und seinen Büchern zu fünf Bereichen: der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, der Integrations- und Ausländerpolitik, der Menschenrechtspolitik, dem Erstarken des Rechtspopulismus sowie zur Unterstützung einer Kandidatin der CDU bei den Bürgermeisterwahlen in Aalen in diesem Jahr.

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Mit diesen Äußerungen habe Palmer „vorsätzlich und erheblich gegen die Grundsätze und die Ordnung der Partei Bündnis 90/Die Grünen verstoßen und dieser dadurch einen schweren Schaden zugefügt“. Daher müsse er aus der Partei ausgeschlossen werden, auch um zu verhindern, sich „in der Öffentlichkeit weiterhin als Grüner bezeichnen“ sowie „als medial besonders interessanter weil prominenter Parteirebell auftreten“ zu können. Außerdem solle unterbunden werden, daß er über die Medien den Streit um seine Positionen weiter in seine Partei hineintrage, anstatt sie „etwa in Form von Anträgen in den zuständigen Parteigremien oder im Rahmen der Verabschiedung von Wahl- bzw. Grundsatzprogrammen, zum Gegenstand eines innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses zu machen“.

Aufgeführt werden in dem Antrag unter anderem Palmers Forderungen nach einer zahlenmäßigen Begrenzung der Asyl-Zuwanderung und der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer, desweiteren seine Kritik am UN-Migrationspakt, der „eine einseitige Sicht auf Migration, die ausschließlich positiv ist“, propagiere sowie sein Versuch, gewalttätig gewordene Asylbewerber in Tübingen gesondert zu erfassen. Hinzu kommt seine Kritik am Adoptionsrecht für homosexuelle Paare, am Verbot des Wortes „Mohrenkopf“ sowie an den „Meinungstyrannen“ in seiner eigenen Partei, denen er eine „antidemokratische Debattenverweigerung“ vorwarf.

Das Faß zum Überlaufen gebracht haben aus Sicht des grünen Landesvorstands schließlich seine Kritik an der amtlich praktizierten Corona-Lockdown-Politik, sein Verhalten gegenüber einer transsexuellen grünen Politikerin, die er weiterhin mit ihrem männlichen Namen ansprach sowie die satirische Verwendung des Wortes „Negerschwanz“ zur Verteidigung eines ehemaligen schwarzen Spielers der Fußballnationalmannschaft. Hinzu kommt sein Vorwurf an die eigene Partei, sie habe mit ihrer Politik sowohl den Brexit wie den Aufstieg der AfD mit befördert. Abgeschlossen wird Palmers Sündenregister schließlich mit seiner Teilnahme an einer Diskussionsveranstaltung der CDU anlässlich der diesjährigen Bürgermeisterwahlen in Aalen zur Frage „Was macht eine gute Bürgermeisterin aus?“ Dort hat sich Palmer positiv über die CDU-Kandidatin geäußert, obwohl sich die Grünen in Aalen vorab schon hinter den Kandidaten der SPD gestellt hatten, der schließlich das Rennen machte.

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Ob all diese Vorwürfe reichen werden, Palmer erfolgreich aus der Partei zu entfernen, ist eine rechtliche Frage, die von der zuständigen Schiedskommission der Grünen und anschließend wahrscheinlich von den zuständigen Gerichten zu klären ist. Gerichtet ist der Antrag an die Kreisschiedskommission in Tübingen. Dagegen hat Palmers Anwalt Widerspruch mit der Forderung eingelegt, das Verfahren vor dem Landesschiedsgericht zu führen, das er vermutlich als gegenüber Palmer gewogener einschätzt als das Kreisschiedsgericht. Daß sich die Antragsteller ihrer Sache in rechtlicher Hinsicht keineswegs sicher sind, zeigt der Umstand, daß sie in ihrem Antrag nicht nur Palmers Ausschluß fordern, sondern hilfsweise das „Ruhen der Mitgliedschaftsrechte des Antragsgegners für zwei Jahre“ ins Spiel bringen. Schwierig dürfte angesichts des jüngsten Wahlsiegs der Grünen in Baden-Württemberg und ihres Wahlerfolgs bei der Bundestagswahl, nicht zuletzt im Wahlkreis Tübingen, in diesem Zusammenhang vor allem der Nachweis sein, Palmer habe mit seinen Äußerungen seiner Partei Schaden zugefügt.

Dessen ungeachtet zeugt der Antrag jedoch von einer über die Jahre gewachsenen, tiefen Entfremdung zwischen dem Tübinger Oberbürgermeister und seiner Partei in wesentlichen Bestandteilen der grünen DNA jenseits der Umwelt- und Klimapolitik. Sie wäre selbst dann nicht mehr zu bereinigen, gäbe Palmer klein bei und würde öffentlich Abbitte leisten wie einst die verfemten Parteigenossen der KPdSU oder der SED und jüngst die Berliner Grüne, die dummerweise öffentlich bekundet hat, als Kind gerne ein Indianerhäuptling gewesen zu sein. Danach sieht es bei Palmer allerdings nicht aus, wie man dem Antrag ebenfalls entnehmen kann. In ihm werden nämlich nicht nur seine Sünden aufgelistet, es wird auch ausführlich dargestellt, wie umfangreich und erfolglos alle bisherigen Anstrengungen der Parteiführung gewesen sind, ihn wieder auf den vorgegebenen migrations- und identitätspolitischen grünen Tugendpfad zurückzubringen. Der Antrag auf Parteiausschluß endet daher mit der ebenso klaren wie eindeutigen Feststellung, er sei „angemessen, um Bündnis 90/Die Grünen von einem hartnäckigen Störer der innerparteilichen Ordnung und Verletzer der Grundsätze der Partei zu befreien.“

Umgekehrt ist es aber auch Palmer nicht gelungen, mit seiner öffentlichen Kritik die von ihm gewünschte innerparteiliche Debatte über die seiner Meinung nach falsche Ausrichtung der Grünen in Fragen der Migrations- und Identitätspolitik in Gang zu bringen. Nach deren Wiedereinzug in die Bundesregierung stehen die diesbezüglichen Zeichen, wie man dem neuen Koalitionsvertrag entnehmen kann, weniger denn je auf Kurskorrektur, sondern vielmehr auf Weiterverfolgung und Verschärfung unter dem Banner eines vermeintlichen gesellschaftpolitischen Fortschritts. Unabhängig vom Ausgang des Ausschlußverfahrens wird sich Palmer daher die Frage stellen müssen, was er noch in einer Partei verloren hat, die die von ihm abgelehnte migrations- und identitätspolitische grüne Programmatik in den kommenden vier Jahren schrittweise in Gesetzesform gießen wird. Mit einem Parteiaustritt käme er nicht nur den Schergen der Parteiführung zuvor, sondern würde sich auch ebenso zeitraubende wie demütigende Befragungen und Rechtfertigungen vor egal welchem grünen Schiedsgericht ersparen. Gewinnen kann er in und mit der grünen Partei jedenfalls nichts mehr.

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Kommentare ( 30 )

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Silverager
2 Jahre her

Ich habe den Antrag der Grünen auf Parteiausschluss Herrn Palmers mit zunehmender Erheiterung gelesen.
Die lustigen Formulierungen dieses Antrages der Grünen übertreffen jede Satire. Köstlich !!!

Physis
2 Jahre her

Wann hat das eigentlich bei den Grünen angefangen, dass sie so weltfremd und autoritär wurden?
Die kamen damals doch so nett in Turnschuhen, mit Strickzeug und Blumen ins Parlament.

Ohanse
2 Jahre her

Die Grünen können sich diesen Umgang mit Palmer politisch gerade sehr locker leisten. Sie haben festgestellt, dass sie keine intelligenten Politiker brauchen, um gewählt zu werden, sondern mit Leuten wie Bärbock und Hofreiter etc. ausreichend gut zurecht kommen. Deswegen tun sie das. Wie konnten Sie speziell in Ba-Wü in diese Position kommen? Fragen Sie den Kurzzeitministerpräsidenten der CDU, Mappus.

Sonny
2 Jahre her

Tja, entweder du bist für mich oder du bist ein Feind, der vernichtet werden muss.
Und je dümmer die Bestimmer, umso rigoroser der Hass, der von ihnen ausgeht.
Ich wünschte, dass die erfolgreichen, klugen deutschen Menschen, die zur Zeit in Scharen das Land verlassen, bleiben würden um zu kämpfen. Aber dafür sind sie wahrscheinlich tatsächlich viel zu klug.

November Man
2 Jahre her

Fazit: Als Mitglied bei den linken Grünen darf man keine eigene Meinung mehr haben. Alles muss den Ideologien der Partei unterwürfig untergeordnet werden.
Und wer es dann noch wagen sollte seine eigene Meinung öffentlich zu schreiben oder sagen, der soll von der grünen Partei ausgeschlossen und ausgegrenzt werden. Dessen Karriere, Reputation, Familie usw. wird nachhaltig und komplett zerstört und ruiniert.
Selbst Schuld wer in solchen linksextremen Parteien Mitglied ist.
Die nationalen Sozialisten sind, siehe Sarrazin, auch kein Haar besser.

AlexR
2 Jahre her

Palmer braucht die GrünInnen schon lange nicht mehr. Er spricht das aus, was viele denken. Und eckt damit massiv an. Sicher muss man nicht alle seine Äußerungen gut heißen. Aber unsere ÖR passen solche Statements, die nicht in ihrem Erziehungsauftrag entsprechen, mal gerne an. Oder auch gerne genommen werden dann Äußerungen von kritischen Mitbürgern wie Palmer und in einem anderen Kontext eingebaut. So dass es den MSM passt.

Kassandra
2 Jahre her

Herr Springer, in Ihrem letzten Absatz erwähnen Sie den fehlenden innerparteilichen Diskurs hinsichtlich der Flüchtlings- und Identitätspolitik bei den Grünen. Den gibt es doch aber nur, wenn überhaupt, bei einer Partei – ansonsten sind sie alle nach innen und außen ganz still (sogar im Wahlkampf!) – öffnen aber hinter unserem Rücken und zu unseren Lasten in ungeahntem Ausmaß Tür und Tor immer weiter. Jegliche Debatte, egal wo, könnte dem Bürger schwanen lassen, was da zu seinen Ungunsten seit Jahren im Gange ist. Ich wünsche mir, dass es genau an diesem Punkt nicht nur vor Gericht deutlich „scheppert“ und ein wenig… Mehr

Biskaborn
2 Jahre her

Palmer hat Wahrheiten und Realitäten angesprochen, das ist für die Grünen, aber für alle Systemparteien sowie für die meisten Medien, der gröbste Verstoß, den man sich in diesem Land erlauben kann. Schlimm, aber wahr! Man sollte aber bei allem Wohlwollen gegenüber Palmers Realitätssinn nicht vergessen, dass er im Grunde immer noch ein Hardcoregrüner ist.

F.Peter
2 Jahre her
Antworten an  Biskaborn

Bezeichnender ist doch, dass die Grünen keinerlei Widerspruch haben wollen und schon gar nicht dulden. Die Aussage Habecks über den Unterschied zwischen den chinesischen und den demokratischen Entscheidungswegen war doch klar und deutlich!

Thorsten
2 Jahre her

Ebenso wie Merkel ist Palmer in der falschen Partei. Eine Rochade vor 20 Jahren hätte Schlimmes verhütet …

frohundmunter
2 Jahre her

Wer den Vater kennt, der sich von Nazis und Nachkriegsbonzen nie unterkriegen ließ, weiß, dass Boris Palmer in keine Partei passt, höchstens in eine BPP. Die Urabstimmung über seine Kandidatur hat den Vorteil, dass man daran den Anteil der Hardcore-Ideologen bei den Grünen schwarz auf weiß nachlesen kann.