Gegen wen erhoben sich die Demonstranten eigentlich am 17. Juni 1953? Erstaunlich viele Medien lassen das entscheidende Kürzel SED weg.
Gegen wen richtete sich der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR? Die Geschichtsschreibung gibt darauf eine klare Antwort: Auslöser der Erhebung war die von der SED beschlossene und von der Regierung verkündete Normerhöhung für Bauarbeiter, die faktisch eine Lohnkürzung bedeutete.
Die Bauarbeiter zogen von der Stalinallee zum Haus der Ministerien in Berlin, dem ehemaligen Reichsluftfahrtministerium und DDR-Regierungssitz. Aber auch in vielen anderen Betrieben traten Arbeiter in den Streik, sammelten sich Menschen auf der Straße – etwa eine Million landesweit. Die Normerhöhungen waren nur der letzte Anstoß. Die Demonstranten fühlten sich moralisch im Recht: In ihrer ersten Erklärung hatte die wiedergegründete KPD noch versichert, kein System nach Sowjet-Vorbild in Deutschland anstreben zu wollen. Als KPD und SPD unter erheblichem Druck 1946 vereinigt wurden, versicherten die Funktionäre um Walter Ulbricht, sozialdemokratische Positionen hätten nach wie vor ihren Platz in der neuen Partei.
Der damalige Kader Wolfgang Leonhard zitierte später in seinem Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, wie Ulbrichts Strategie der stufenweisen Machtergreifung tatsächlich aussah: „Es muss demokratisch aussehen“, so der SED-Chef, „aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Genau das setzte er bis 1952 zielgerichtet um. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 richtete sich also gegen die Parteidiktatur der SED.
In den meisten Artikeln zum 66. Jahrestag des Aufstands fehlte genau dieses Parteikürzel. Gut ein dutzend größere und mittlere Zeitungen übernahmen am 17. Juni 2019 nur eine knappe dpa-Meldung, in der es hieß, die Menschen seien „gegen die politisch und wirtschaftlich angespannte Lage“ auf die Straße gegangen. Ein Aufstand gegen die Lage also. Explizit erwähnt werden nur die sowjetischen Panzer, die zur Niederschlagung des Aufstandes rollten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich ansonsten zu vielen Gedenkterminen äußert, nahm weder auf Twitter noch Facebook Notiz von dem Jahrestag. Auch die ansonsten hoch aktive Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement Sawsan Chebli nicht. Was umso mehr erstaunt, als der Aufstand in Berlin begann – woran auch die größte Verkehrsachse der Stadt erinnert, die Straße des 17. Juni – und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller an der zentralen Gedenkveranstaltung teilnahm. Chebli war am 17. Juni 2019 auf Twitter noch damit beschäftigt zu erklären, warum die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Berliner Luftbrücke nicht beziehungsweise nur sehr eingeschränkt stattfinden konnte: Der Senat von Berlin hatte US-Veteranen, die mit ihren historischen Maschinen ursprünglich in Tempelhof landen wollten, dafür keine Genehmigung erteilt.
Die bizarre Begründung lautete, es gebe einen Beschluss, dass die Fläche des früheren Flughafens Tempelhof öffentlich zugänglich bleiben müsste. Nur: Dagegen hatten die Organisatoren des Luftbrücken-Gedenktags nicht das Geringste. Für sie sollte die Landung der alten Maschinen ja der Höhepunkt eines Volksfestes werden.
Offenbar passte das aber nicht in das erinnerungspolitische Konzept des rot-rot-grünen Senats. Chebli behauptete auf Twitter, sie habe in die Gedenkveranstaltung „viel Herzblut reingesteckt“, und beschwerte sich über „billigste Polemik“ – gemeint waren offenbar die Kommentare der enttäuschten Luftbrücken-Veteranen.
Warum die Maschinen weder landen noch eine Runde über dem Berliner Stadtzentrum drehen durften (auch dafür gab es keine Erlaubnis), erklärte sie auf Twitter nicht.
Zurück zum 17. Juni, dem Aufstand gegen Unbekannt: Die Bundeszentrale für Politische Bildung bietet eine Broschüre zu dem historischen Ereignis an. In dem kurzen Werbetext dazu ist ebenfalls nicht davon die Rede, dass der Aufstand sich gegen die SED richtete. Dafür gibt es den Hinweis: Die Broschüre sei “vergriffen.“
Nach der Niederschlagung des Aufstands befahl SED-Generalsekretär Walter Ulbricht eine unnachsichtige Verfolgung der sogenannten Rädelsführer. Etliche Teilnehmer der Demonstrationen konnten in den Westen fliehen, viele gerieten in die Mühlen der längst gleichgeschalteten Justiz. Zwei Angeklagte wurden hingerichtet, drei zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, 13 erhielten zwischen zehn und 15 Jahren Zuchthaus, 99 zwischen fünf und zehn Jahren, 824 zwischen einem und fünf und 546 bis zu einem Jahr.
Die weisungsgemäße Aburteilung organisierte und überwachte die damalige DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, im Volksmund „Bluthilde“ genannt.
In einer Broschüre “Starke Frauen in Steglitz-Zehlendorf 1945–1990” würdigte das zuständige Bezirksamt – verwaltet von einer Zählgemeinschaft von CDU und Grünen – im vergangenen Jahr unter anderem eben diese Hilde Benjamin, zusammen mit 22 anderen Frauen aus Berlin, „die etwas bewegt haben“. Garniert wurde die wohlwollende Benjamin-Biografie mit einem Zitat ihres Sohnes: „Eigennutz lag ihr ebenso fern wie berechnender Zynismus.“ Der stellvertretende Bezirksbürgermeister, ein SPD-Mann, schrieb im Vorwort:
“Die vorliegende Broschüre enthält 23 Biografien von beeindruckenden Frauen. Am meisten begeistert dabei die Vielfalt der Persönlichkeiten.”
Benjamins führende Rolle bei der Aburteilungswelle nach dem 17. Juni 1953 erwähnte das staatlich finanzierte Heftchen mit keinem Wort.
Erst, als sich heftiger Protest erhob – unter anderem von dem damaligen und mittlerweile geschassten Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen Hubertus Knabe – zog das Bezirksamt die Publikation zurück.
Unter diesen Umständen überrascht nicht ernsthaft, dass viele Jüngere mit dem Kürzel SED kaum etwas anfangen können. Und vor allem nicht wissen, dass es sich bei der Linkspartei um die mehrfach umbenannte, aber nie aufgelöste SED handelt.
Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.
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Da fällt mir Winston Smith ein, die Hauptperson in Orwells Roman „1984“. Sein Job ist es ja, im „Wahrheitsministerium“ die archivierten Zeitungsartikel z.B. im Sinne der herrschenden INGSOC umzuschreiben – das bedeutet, die kollektive Vergangenheit so umzufälschen, dass sie zur aktuellen Linie bzw. Politik der herrschenden Partei passt.
Wenn heute also die dpa verbreitet, der Aufstand 1953 hätte sich „gegen die politisch und wirtschaftliche Lage“ gerichtet, und die SED und ihre Normerhöhung mit keinem Wort mehr erwähnt wird, wo ist dann eigentlich der Unterschied zwischen der dpa und Orwells Wahrheitsministerium?
Mich würde wirklich mal interessieren, was Wolf Biermann über die offensichtliche Verwandlung der Republik in eine neue DDR heute sagen würde. In seiner Autobiografie outete er sich ja als Merkelfan. Aber das Buch hat er ja nun schon vor einigen Jahren geschrieben. 2014 hat er die Linke im Bundestag als „Reste der Drachenbrut“ bezeichnet und sich selbst als Drachentöter. Liebe Redaktion, versucht doch mal ein Portät und/oder ein Interview mit dem Drachentöter hin zu kriegen. Das würde Eure journalistische Arbeit krönen, glaube ich. Sehr interessant wäre es allemal und vielleicht sogar hilfreich.
In alles oben gezeigten Artikeln steht (sogar wortwörtlich) dasselbe:
„…gegen die politisch und wirtschaftlich angespannte Lage auf die Straße …“
Kamen da sämtlichen Journalisten in ihren Redaktionen zufällig dieselben Formulierungen in den Sinn?
Oder darf der geneigte Leser annehmen, dass die deutsche Presse gleichgeschaltet ist?
Ich kann gar nicht beschreiben, wie ich mich ekle.
Na klar lassen die „neutralen Medien“ das Kürzel SED weg 🙂
Sonst käme ja noch der Gedankengang beim Leser auf, dass im
Bundestag eine Partei sitzt, die in Deutschland Gewalt gegen Demonstranten
angewendet und gar Menschen an der innerdeutschen Grenze hat erschiessen lassen.
Heute stellen sie sogar einen Ministerpräsidenten und bilden Koalitionen mit
SPD und Grünen…
Das paßt natürlich ganz und garnicht zum „Framing“ das verbreitet werden soll…also…
weglassen.
Nachtrag: Da die SED-Nachfolgepartei in Berlin mit am Ruder ist, zusammen mit der haltlosen SPD und den neuen Linken, „Grüne“ genannt, und die Medien praktisch gleichgeschaltet sind, s. Texte, ist klar, dass nicht genannt werden darf, dass der Aufstand der SED, der Politik und somit diesen linken Politikern galt. Da heute das gesamte Land hin zum Sozialismus nach DDR-Vorbild im Sinne der einfachen Industrialisierung – s. Eselstaxis nach der grünen Zweibrückener Bürgermeisterin, Windräder für die damit mangelhafte Stromversorgung -, umgebaut werden soll, darf natürlich nicht die Wahrheit und Wirklichkeit der damaligen Lage dargelegt werden, all die Linken wären ja davon… Mehr
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Auch im Staatsfernsehen hieß es: Aufstand gegen Politik und Wirtschaft (ARD Nachrichten 20:00), das Ganze stinkt mal wieder zum Himmel. Hier wird konsequent manipuliert. Was sollen denn die jungen Leute denken, denen schon in der Schule Essentielles verschwiegen wird. Desinformation und Propaganda wie zu besten DDR Zeiten.
Das Kürzel „SED“ muss aktuell eben etwas abkühlen, bis sich die demokratischen Kräfte aus CDU/CSU, FDP, SPD, GRÜN*INNEN und LINKE im Kampf gegen Rechts zur Sozialchrislamischen Einheitspartei der Demokraten vereinigen.