Antworten 6: Deutsch sein, was ist das für Sie ganz persönlich?

Hier das sechste Antwortpaket. --- Nach dem siebten schließen wir diese formlose Volksbefragung und ziehen ein Zwischenfazit.

Fortsetzung – Seite 3

60, weiblich, Rheinland-Pfalz

Ich erinnere mich gerne an Gesangsvereinsausflüge im Bus mit meinen Eltern in den Wald, wo bei der Rast sämtliche Strophen deutscher Wander-, Jäger- oder Heimatlieder auswendig geträllert wurden und wir Kinder spätestens mit 10 Jahren mithalten konnten.

Die Lieder vom Sonntagsgottesdienst oder aus der „Mundorgel“ etc. waren den meisten vertraut. Und wenn mal ein Elternhaus halt nur sub-optimal war, so bekamen viele Jugendliche doch wenigstens über Lieder und Jugendbewegung eine gewisse Moral und ein Bild eines lebensbejahenden, anständigen, freien Menschen in Aufbruchstimmung vermittelt. (Unter anderem wenn man sang: ‚Es, Es, es und es, es ist ein harter Schluss  … Ich sags ihr grad frei ins Gesicht, ihr Speck und Kraut, das schmeckt mir nicht. Ich will mein Glück probieren, marschieren.‘ Oder: ‚Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht …‘)

Das typische Deutschsein wird durch die Sprache, die Redewendungen, die Sprüche ins Poesiealbum, bzw. durch die Lieder mitgestaltet. Wenn letzteres wegfällt, fällt ein Stück Deutsch-sein weg. Hoffentlich werden wir im Laufe des Globalisierungsprozesses nicht alle zur modernen, urbanen Einheitskonsumentengesellschaft.

31, männlich, Leonberg

Mit dem Deutschsein ist es so eine Sache. Irgendwie kann man stolz drauf sein. Schließlich haben wir Geistesgrößen wie Bach, Beethoven, Kant, Hegel, Heisenberg, Einstein und viele andere mehr hervorgebracht. Wir haben das Auto erfunden. Und den Röntgenapparat. Und einen der ersten Computer gebaut. Vielleicht ist es auch der erste gewesen, aber wir wollen mal nicht kleinlich sein. Die anderen dürfen ruhig auch mal was erfinden.

Wir lieben es, Pläne zu machen. Darin sind wir ziemlich gut. Zeichnen, konstruieren, komponieren – das können wir. Handwerkskunst am toten Objekt könnte man auch sagen. Mit lebenden Subjekten tun wir uns ein bisschen schwerer. Die sind unberechenbarer, das mögen wir nicht so. Alles soll seine Ordnung haben, bloß keine Überraschung. Ausnahme sind Weihnachten und Geburtstage. Da darf es Überraschungen geben. In angemessenem Rahmen natürlich. Außerhalb dieser Feste sollte man Überraschungen am besten vorher ankündigen – wenn’s geht schriftlich.

Wir lieben es, Dinge zu ordnen, zu katalogisieren und zu kategorisieren. Atomkraft, beispielsweise, lehnen wir kategorisch ab. Es ist daher wenig verwunderlich, dass der kategorische Imperativ von einem Deutschen erfunden wurde. Ordnung schaffen und darauf folgend anderen sagen, was sie gefälligst zu tun und zu lassen hätten – das mögen wir. Wenn die anderen unserem weisen Ratschluss nicht folgen, empören wir uns. Das können wir seit ’68 auch ziemlich gut.

Wir haben zwei Weltkriege verloren. Darüber reden wir nicht gern, über die Kriege. Über den ersten nur dann, wenn man nicht drum herum kommt, weil’s sich mal wieder jährt. Über den zweiten reden wir gar nicht, weil wir während diesem getan haben, was viel schlimmer war: Wir haben Millionen Menschen vergast, einfach weil sie uns nicht in den Kram passten. Wobei – „wir“ sagt man heutzutage nicht. Das waren damals die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Und von den Nazis distanzieren wir uns schließlich. Die haben mit uns nichts, aber auch gar nichts, zu tun.

Dafür sind wir ’54 Fußballweltmeister geworden. (Das waren dann keine Nazis, sondern eindeutig „wir“. Die Nazis haben sich 1948  alle in Luft aufgelöst.) 20 Jahre später sind wir nochmals Weltmeister geworden. ’90 und 2014 auch. Da sind wir mächtig stolz drauf. Und da wir sonst kaum Anlass haben, unsere Flaggen, Fahnen und Wimpel hervorzukramen, machen wir das beim Fußball. Sport ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Aber wir können auch friedlich. Immerhin ist uns eine Wiedervereinigung gelungen, ohne dass es deswegen einen Krieg geben musste. Die DDR (und die UdSSR) waren einfach pleite und konnten faktisch nicht anders, als der Einheit zuzustimmen. In Europa versuchen wir gerade das gleiche Prinzip durchzusetzen. Aber die Länder, die wir (beinahe?) pleite gehen lassen, wollen überraschenderweise von Europa nichts mehr wissen! Da sind sie wieder, die unberechenbaren Subjekte.

Deswegen wollen wir die Vorratsdatenspeicherung einführen. Irgendwie muss diesen per se chaotischen Individuen doch beizukommen sein!

62, weiblich, bei Hannover

Zuerst: Nachdenken mit einer Portion Unsicherheit, weil es die Frage der Identität betrifft. Dieses Zögern wäre vor zwanzig Jahren nicht vorstellbar gewesen, während ich jetzt überlege und aufschreibe, was Deutschsein für mich bedeutet. Ich wähle dafür in absichtsloser Reihenfolge einige Stichpunkte und Bilder aus:

  • Das Eingebunden-Sein in eine Familiengeschichte, die etwas vom Pioniergeist der Vorfahren als Siedler in Pommern und Ostpreußen, aber auch von Auswanderung nach Amerika zu erzählen weiß, aber den Verlust der Heimat im 2. Weltkrieg bei keinem Geburtstag oder sonstigen Familientreffen vergessen konnte
  • Die Kindheit in einem Elternhaus, das von Neuanfang und Zurechtfinden- durchzogen von Wehmut und Verlust- aber wenig von unbeschwerter Fröhlichkeit  geprägt war
  • Autorität in der Erziehung
  • Grimm´sche Märchen und deutsche Sagen in der Kindheit
  • Die Vermittlung von tradierten Werten wie Ordnung, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Fleiß, Pflichtgefühl, Bescheidenheit als Tugenden, damit man im Leben was erreichen kann
  • Das Verinnerlichen der genannten Werte als Kompass für das eigene Handeln
  • Das Interesse und die Last der jüngeren Vergangenheit
  • Stolz auf Geschichte, Kultur und Tradition
  • Leben in einem Rechtsstaat, Meinungs-und Redefreiheit
  • Die Landschaft, die Wälder
  • Die Bilder von den Trümmerfrauen
  • Leiden an der Teilung des Landes
  • Die Freude an der deutsche Sprache, an ihrer Vielfältigkeit und Ausdrucksstärke
  • Der Sprung von Peter Fechter
  • Die Freude und das Heimatgefühl nach der Rückkehr aus dem Ausland

61, männlich, Niederhein

Im alten Kreis Moers geboren, Hans Dieter Hüsch ist bei mir um die Ecke groß geworden, habe ich natürlich eine besondere soziale Prägung mitbekommen. Niederrheiner, Ruhrgebiet, holländische Grenze und Verwandte. Eine erfrischende weltoffene Mischung.
Dazu Reisen in ca. 50 Länder der Welt mit wenig Geld. Ich bin als junger Weltbürger in die Welt gezogen und als Deutscher zurückgekommen. Nun nach 61 Lebensjahren und vielen Jahren Alltag in Asien fühle ich mich unter Deutschen nicht so recht wohl, habe aber mit den Einheimischen vor Ort in Asien auch so meine Probleme.

Bildung und Weltoffenheit spielen eine viel größere Rolle als die Herkunft oder der Pass.
Viel entscheidender als die Herkunft ist das Verhalten. Keine Gewalt, keine Unterdrückung anderer, gefährliches Verhalten minimieren. Freiheit, solange sie nicht zur Unterdrückung anderer führt, ist richtig und unabdingbar.

Ordnung und Prinzipientreue, das schafft Vertrauen und Berechenbarkeit sowie Akzeptanz bei seinen Mitmenschen. Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen, ein Ehrbegriff in diesem Sinne. Ein Wort geben und dazu stehen. Nicht auf Kosten anderer leben. Seinen eigenen Beitrag leisten. Durchhalten und nicht aufgeben.
Das halte ich für deutsche Tugenden, auch wenn sie nicht von allen Deutschen gelebt werden.

38, männlich, Oberösterreich

Deutsch-sein, das ist wohl auch für den Österreicher ein relevantes Thema. Im europäischen Kontext erfüllt ja auch er die „typisch deutschen“ Tugenden (Fleiß, Genauigkeit etc.) – nur ein bisschen schlampiger, listiger. Historisch betrachtet gehen die Gemeinsamkeiten jedoch in hohem Grade tiefer. Mit dem Österreich-Patriotismus des Austrofaschismus wurde erstmals das Trennende zwischen Deutschland und Österreich im politischen Diskurs klar in den Vordergrund gestellt, doch gute 1.300 Jahre war Österreich Teil und Machtfaktor des deutschen Herrschaftsbereichs. Ein kurzer Ausflug in die Geschichte zeigt, dass sich auch der Österreicher aus guten Gründen mit dem Deutsch-sein befassen kann/muss.

Seit dem 6 Jh. gehörten weite Teile des heutigen Staatsgebietes zum baierischen Stammesherzogtum und bis zum Ende des 10. Jh. wurde das Gebiet bis zur heutigen Ostgrenze bajuwarisch besiedelt. Ab 1156 existierte das von Baiern unabhängige Herzogtum innerhalb des Römischen Reiches. Letzteres regierten die Habsburger als römisch-deutsche Kaiser bis zum Untergang 1806. Österreich blieb aber auch nach Napoleons Niederlage die wichtigste Macht im Deutschen Bund. Erst mit Bismarcks kleindeutscher Lösung von 1871 war Österreich dann draußen. Der Rest ist allgemein bekannt.

Letztendlich hat wohl die perverse Definition von Deutsch-sein (eines Österreichers!) nach 1945 dazu geführt, dass wir uns um eine österreichische Identität bemühen. Gemeinsame Geschichte, Sprache, Kultur und z. T. (bajuwarisch/alemannische) Abstammung machen das gar nicht so einfach möglich. Im Deutschunterricht am Gymnasium führt (zumindest bisher) kein Weg an Schiller und Goethe vorbei. Über die Staatszugehörigkeit Mozarts oder Beethovens gab es schon sinnlose Diskussionen. Ohne Ethnologie-Studium kann man eine oberösterreichische Trachtenmusikkapelle nicht von einer bayerischen unterscheiden, wohl aber von einer burgenländischen. Nur im Fußball, wo wir als Österreicher das ewige Nachsehen haben, wissen viele, dass mit dem SK Rapid Wien eine österreichische Mannschaft 1939 deutscher Pokalsieger und 1941 deutscher Meister geworden ist.

Trotz unserer Abkehr vom Deutsch-sein wird Österreich seit dem österreichischen EU-Beitritt stärker als je zuvor von Deutschland geprägt: Deutschland ist mit Abstand wichtigster Handelspartner, an Österreichs Universitäten lehren verstärkt deutsche Professoren deutsche Studenten, durch den Einfluss deutscher Fernsehsender geht das „Österreichische“ in der deutschen Sprache gerade jetzt verloren und so weiter.

Auch in der aktuellen Migrationskrise geht einzig Österreich bedingungslos den deutschen Sonderweg mit und wendet sich von den ehemaligen Kronländern der Habsburger Monarchie ab. Daher wird man, folgt man dem Ethnienkonzept, in Zukunft wohl nur noch einen Teil der Schweizer fragen können, was Deutsch-sein bedeutet.

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Über das Deutsch-sein lässt sich endlos theoretisieren. Doch theoretisch wollen wir es von Ihnen gar nicht wissen. Sondern was macht für Sie ganz praktisch Deutsch-sein aus? Wohin sollen sich denn Migranten integrieren? Ist es nur die Sprache und die Gesetze der Mülltrennung? Was sind deutsche Werte, was macht die Leitkultur dieses Landes aus? Die Forderung nach Integration ist schnell hingesagt, und schwer realisiert. Was ist Ihr Deutschlandbild?

Dazu bitten wir um Ihren Beitrag, um Ihr Hier und Jetzt mitten in Deutschland, warum nicht auch um die Erzählung Ihrer Großmutter, um Fotos, die für Sie typisch Deutsches darstellen. Was immer Ihnen dazu in den Sinn kommt. Das ist kein Aufsatz-Wettbewerb, sondern die Bitte um Spontanes, so ernst und so witzig, wie Sie wollen. Zu dieser Lockerungsübung von Volksbefragung im oft viel zu tierisch ernsten öffentlichen Schlagabtausch laden wir Sie herzlich ein.

Wenn Sie wollen, bleiben Sie anonym, bitte nur Alter, Geschlecht und Herkunftsgegend. Schicken Sie Ihre Beiträge einfach an:

Kontakt@rolandtichy.de

Wenn Sie uns Ihre Adresse hinterlassen, werden wir einige Kleinigkeiten unter den Einsendungen verlosen.

Möglichst viele Beiträge wollen wir veröffentlichen, zwischendurch und am Ende der lockeren Umfrage fassen wir zusammen. Wir schauen, welcher Trend sichtbar geworden ist. Mit der Einsendung erklären Sie sich damit einverstanden.

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