Antworten 6: Deutsch sein, was ist das für Sie ganz persönlich?

Hier das sechste Antwortpaket. --- Nach dem siebten schließen wir diese formlose Volksbefragung und ziehen ein Zwischenfazit.

Das schickten unsere Zeitgenossen: Wir bitten weiter um Beiträge, die Erzählung Ihrer Großmutter, Fotos, die für Sie typisch Deutsches darstellen. Was immer Ihnen in den Sinn kommt, spontan, ernst oder witzig, wie Sie wollen. Zu dieser Lockerungsübung von Volksbefragung laden wir herzlich ein.

46, männlich, von Gelnhausen nach München: Matriot und Patriot

Vielleicht muß man, wenn man sich der Frage des Deutschen widmet, erst hören, was Nicht-Deutsche über Deutschland sagen. Beispielsweise durch die Übernahme von deutschen Wörtern, die im eigenen Wortschatz keine Entsprechung haben. Das Englische hat verschiedene deutsche Wörter entlehnt, beispielsweise Ahnentafel und echt, Urheimat und Sprachraum, Kindergarten und Aufwuchs, Oktoberfest und Gemütlichkeit. Die Wörter sind Beschreibungen, die wichtig für Identität sind. Sie verweisen auf Tradition und historische Entwicklung. Geschichtliche Herkunft spielt beispielsweise in den meisten westeuropäischen Ländern in der Frage der Staatsbürgerschaft keine Rolle. Das dortige „ius soli“, das „Recht des Bodens“ verleiht die Staatsbürgerschaft. Franzose oder Engländer ist, wer auf französischem oder englischem Staatsboden geboren wird.

In Deutschland und Osteuropa gilt dagegen das „ius sanguinis“: Kinder sind Deutsche, wenn ihre Eltern Deutsche sind. Nicht die Gegenwart – der Geburtsort -, sondern die Geschichte ist entscheidend. Damit spielen nicht nur Mutter und Vater eine große Rolle, sondern auch deren Eltern – die „Ahnentafel“, der „Sprachraum“. Ob Heim-at oder „homeland“: Haus und Hausbau spenden nicht überraschend einen großen Teil des Wortschatzes, der dem Verständnis der Umwelt dient. Oder anders ausgedrückt. Die Umwelt wird nach den Gesetzen des Hauses gegliedert und in Ordnung gebracht und erhält dadurch einen vertrauten und schützenden Charakter. Im Gegensatz zum wilden Wald, also den Gebieten, die nicht mehr den Gesetzen des Hauses gehorchen.

So ist die Ökonomie auch wörtlich „das Gesetz des Hauses“, die Ökologie die „Lehre des Hauses“ Beide beschäftigen sich mit der wiederholenden Herstellung von Ordnung. Zum Beispiel durch Nahrung, die den Menschen restituiert. Der Herd, Stätte des Feuers, ist immer auch Kultstätte, an dem der Kontakt zu den Göttern erfolgt, die das Weiterleben garantieren. Im antiken Griechenland ist die Oikonomia das Reich der Frau, die schon für sich Symbol der Weitergabe des Lebens ist. Während der Mann sich der Politik widmet, den Angelegenheiten der gesamten Gemeinschaft. Mutter und Vater spiegeln sich ebenso in den Überbegriffen von „Heimat“. So ist Mutterland für mich der Ort von Liebe und Geborgenheit, Vertrauen. Wer dagegen Vaterland sagt, meint Verstehen, Tradition und Gesetze, die das Heimatliche – ebenso wie die mütterliche Oikonomie – wiederholen und sichern.

Die wiederholende Herstellung beinhaltet naturgemäß immer Abweichungen – allerdings schrittweise, gemäßigt, planvoll, womit fortschrittliche und bewahrende Kräfte immer wieder kurze Phasen der Balance erreichen. Das ist wichtig, denn beide „Fraktionen“ bauen auf Widersprüche: Die Fortschrittlichen sagen „Gesellschaft ist, was sie nicht ist“, bei den Konservativen lautet das „Die Gesellschaft ist, was sie ist“. Für beide gilt dennoch der Ausspruch Bernhard von Chartres: Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können.

Natürlich kann man auch ohne Geschichte und Tradition auskommen. Diesen „Sündenfall“ markiert schon der „Generationenvertrag“, der einen fiktiven Vertrag zwischen den Generationen annimmt, wo eigentlich eine von selbst verständliche familiäre Solidarität und Zugehörigkeit sein sollte. Verträge ersetzen keine Selbstbeschreibung und gefühlte Solidarität. Repräsentation scheint zwar in einer immer komplexer werdenden und ausdifferenzierten Umwelt nahezu unmöglich. Aber der Primat der Funktionen (Wie-Ebene) lebt immer noch von Voraussetzungen, die er kaum mehr selbst reproduziert und aktuell freimütig preisgibt.

Der territoriale Flächenstaat hatte es trotz aller Widersprüche geschafft, die Unterschiede zu vereinen und Solidarität herzustellen. Solidarität meint Hingabe des Einzelnen für die Gemeinschaft, Verbundenheit – und sei es in Form der Steuerzahlung. Solidarität gibt es nicht ohne Patriotismus und Matriatismus. Also ohne Vertrauen, Geborgenheit, Liebe, Verstehen, Traditionen und Gesetze. All dies kann nicht ohne Grenzen existieren. Man kann die Welt nur als Einheit lieben, wenn man außer ihr ist, beispielsweise als Astronaut, und andere Einheiten, beispielsweise den Mond, dazu vergleicht. Ähnliches gilt für die „Menschheit“, die sich nur für einen Beobachter erschließt, der selbst außerhalb der Menschheit steht. Da dies nicht möglich ist, entscheiden individuelle und gemeinschaftliche Vorlieben.

So ist für mich schon die kritische Fragestellung irritierend: Was findest Du eigentlich toll an Deutschland? Hier ist die unhinterfragte Liebe zur Heimat, auch zur erweiterten des Staats/Landes,  der „kalten“ Reflektion gewichen. Der (globale) Markt ist die Stelle, die alle Eigenschaften bewertet und damit vergleicht. Die Liebe enthebt ihr Objekt dem Vergleich. Sie hierarchisiert es – Hierarchie=heilige Ordnung – und macht es damit unvergleichlich. Insofern fällt es mir als bekennend Liebender schwer, mir meine Liebe wie ein Objekt vor mich hinzustellen. Ich bin ein Kind Deutschlands, wie soll ich meinen Ursprung erkennen?

Deutschland ist für mich Mutter- und Vaterland. Das Land, das meine Vorfahren und ihr Leben speichert, als Staub und Erde des Landes und in seiner Geschichte. Die Generationen, die sich hielten und umfassten, zusammenstanden und sich aufeinander verlassen konnten, die dieselbe Sprache hatten und daher wortlos verstanden – in guten wie in schlechten Zeiten. Meine Mutter stammte aus Brandenburg, mein Vater aus Hessen, meine Verwandtschaft lebt in ganz Deutschland, meine Freundin kommt aus Sachsen, mein Kind ist in München geboren, wo auch ich lebe. Deutschland ist der Ort von sicher weit über 95% aller meiner Erfahrungen und Erinnerungen – aus Urlauben, Kontakten, Besuchen, Erlebnissen, Schule, Studium, Beruf. Deutschland, das sind Millionen von Bildern, die mich beeindruckten, Sonnenuntergänge, Morgengrauen, schlaflose Nächte, Kindheit, Jugend und immer wieder Freunde, Freunde, Freunde, deren Heimat Deutschland ist. Ich bin Deutschland dankbar. Wie auch den Deutschen. Meinen Ahnen. Und natürlich meinen Eltern – ohne die (auch den anderen Faktoren) ich nicht wäre. Daher bin ich Matriot und Patriot.

68, männlich, Norddeutschland

Für mich sind gute Gedanken universal, sie setzen keinen Staub an, gelten für alle Zeiten und sind die natürlichen Widersacher der Weltklugheit, der praktischen Lüge und der Vorteilsnahme im täglichen Leben!

Als ich ein Kind war und mit meinen Eltern noch in ärmlichen Verhältnissen lebte, bekam ich zu Weihnachten einen bescheidenen Band der Grimms Märchen geschenkt. Es war die Zeit nach dem Krieg und das Buch war auf einer Art ärmlichen, dünnen Notpapier gedruckt! Die Abbildungen jedenfalls machten damals einen ungeheuren Eindruck auf mein kindliches Gemüt! Es waren Illustrationen aus der Zeit der Romantik und stammten von Ludwig Richter, einem Dresdener Maler und Graphiker. Er schilderte mit seinen Eremiten in romantischen Felshöhlen, anmutigen Engeln, dörflichen Szenen in Haus und Hof, Eichenhainen und spielenden Kindern, das was ich bis heute als typisch deutsch bezeichnen würde! Etwas später fand ich beim Spielen noch einen weggeworfenen Kunstband aus der Hitlerzeit, welcher neben einem Ascheimer lag. Abgebildet waren in diesem Buch unter anderen der grübelnde Engel von Albrecht Dürer, welcher als Melencholia bekannt ist, und eine Graphik aus der Totentanzserie von Alfred Rethel, auf welcher Musiker mit ihren Instrumenten in den Händen panikartig vor dem Mann mit der Sense flohen!

Diese beiden Graphiken und die Holzschnitte von Ludwig Richter sind für mich jedenfalls eine treffende Erklärung geblieben was typisch deutsch ist! Dabei schlägt Alfred Rethel für mich mit seinen Musikern, die sich ein Tuch vor der drohenden Unbill vor den Mund halten, eine Brücke zur heutigen Zeit! Es ist der ewige Hedonismus der Deutschen, den es stets dorthin verschlägt, wo die Musik spielt und andere Menschen, die nicht mitmachen, damit im Regen stehen läßt! Dieses Spiel geht natürlich nur solange gut, bis die aufgelaufenden Widersprüche sich so hoch aufgetürmt haben, dass auch die spitzfindigsten Ausreden nicht mehr greifen! So etwas kann bis zur Selbstzerstörung gehen!

Ich persönlich jedenfalls freue mich bis heute über die schönen, romantischen Graphiken von L. Richter, weil sie ein wichtiger Teil meiner deutschen Lebensgeschichte waren! Es ist mir aber schon klar, dass diese heutigen Heerscharen von linken Durchblickern, Gesellschaftsingeneuren und linken Soziologen diese Kunstblätter nur für eine rührselige Durchgangsstation auf dem Weg in ihre One World Utopie halten! Mir jedenfalls war meine Familie und mein tägliches Umfeld immer wichtiger gewesen als eine schwadronierende, kosmopolitische Attitüde, die ihre Nachbarn zu Versuchkaninchen einer neuen globalen Welt machen will, die gewachsene Kulturen mehr oder weniger auslöschen wird! So gesehen bedeutetet mein positives Deutschsein. das zu schätzen und zu schützen, was uns so reich beschenkt hatte! Zu unserem Lebenskreis gehören natürlicherweise auch unsere Nachbarn, aber wir sollten auch darauf achten, uns nicht selbst aufzugeben, nur weil es eine Minderheit im Staat gibt, welche die Fäden in den Händen hält und mit den Menschen macht, was sie will!

P. S. Im Übrigen ist die Idee des Staates und seiner Kultur zur beliebigen rotgrünen Knetmasse für Interessierte aus aller Welt eine Perversion, welche die Leistungen der Zivilisationen auf den Mülleimer der Geschichte kippt! Lasst tausend Blumen blühen!

62, männlich, Plauen

Ich wuchs auf in einer von Bomben total zerstörten Stadt des Vogtlands – zusammen mit meiner kleinen Schwester bei der Urgroßmutter. Die Kinder hatte ihr der Krieg genommen und ihre Enkelin (meine Mutter) hatte sich um ein Zusatzeinkommen als Näherin zu sorgen. Ein mieser Full-time-Job! Denn die Rente meiner “Oma” von 49 Mark monatlich reichte – nach Abzug der Miete (17 Mark für 2 Zimmer), Gasmünzen, Strom, Wasser und Brennstoff für den Küchenherd – selten aus. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, dass wir Kinder jemals frieren oder hungern mussten. Wie sie – die “Oma”, die Witwe, die Mutter getöteter Kinder – das geschafft hat, ist mir heute noch ein Rätsel.

Freiheit? Als Kinder waren wir frei. Vielleicht notgedrungen, vielleicht erlaubt. Zumindest standen wir nicht unter der permanenten Aufsicht irgendwelcher “Erzieher”.

“Typisch Deutsch” bedeutet für mich deshalb eines: Durchhalten – egal wie’s kommt – das Beste draus machen und versuchen “Mensch” zu bleiben.

50, männlich,Rheinland

Ernsthaftigkeit, Arbeitsfreude, Weltoffenheit, Geduld, Tradition, Bildung, Engagement.

71, weiblich, Rheinland-Pfalz

Deutsch-sein, eine Momentaufnahme: „Wenn Deutsche eine Revolution auf dem Bahnhof vorhaben, kaufen sie sich vorher noch eine Bahnsteigkarte“ (dieses Zitat wird Lenin zugeschrieben). Im Moment hat er, meiner Meinung nach, damit vollkommen recht, wenn er so einen Auschnitt unseres Deutsch-seins charakterisiert.

Es geschehen weltbewegende Veränderungen in unserem Land und ich frage Menschen in meiner Umgebung: „Sollten wir nicht mal auf den Bahnhof gehen und unsere Meinung, wenigstens unsere Meinung, kundtun“ und ich bekomme zur Antwort: „Ich habe keine Bahnsteigkarte!“ oder „Hast du überhaupt eine Bahnsteigkarte?“ oder „Gibt es überhaupt noch Bahnsteigkarten?“ oder „Lass mal die machen, die eine Bahnsteigkarte haben!“ oder, oder, oder ….  Das ist typisch Deutsch und es ist, wie gesagt, eine Momentaufnahme.

Mit oder ohne Bahnsteigkarte, ich fühle mich z.Zt. auf dem Bahnhof sehr einsam und das macht mir Angst.

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