Hier das vierte Antwortpaket. --- Zur lockeren Volksbefragung laden wir weiter herzlich ein - auch für Fotos sind wir sehr dankbar.
Fortsetzung – Seite 2
49, transsexuell, Frankfurt am Main: Wald, großzügig, hilfsbereit und tolerant
Ich fliege viel. Meist lande ich in Frankfurt und fliege über den Spessart ein. Da unten liegt er, „mein“ Wald. Seine sanften grünen Hügel sind für mich meine geliebte Heimat. Bis heute werden meine Augen feucht. Es sind aber nicht nur die alten Eichen und Buchen, es ist nicht nur der Geruch des Waldes und meiner Kindheit, es sind vor allem die Menschen die mich immer wieder hierher ziehen. Sie sind bodenständig und kennen die Verästelungen des Lebens. Sie respektieren mich wie ich bin, da ich die gleichen tiefen Wurzeln wie sie habe. Diese Menschen haben viele Eigenschaften, die ich den Deutschen allgemein zuschreibe. Sie sind großzügig, hilfsbereit und tolerant. Ich glaube, das kann ich wirklich besser beurteilen als andere!
56, männlich, Hessisch Lichtenau: keine Ahnung
Das ist eine Frage, die ich mir schon länger stelle. Was ist „Deutsch-Sein“? Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung.
Ich hatte früher des öfteren damit zu tun, im Rahmen der Prüfung, ob ein „Aussiedler“ nun deutsch geprägt ist oder ob andere Prägungen vorherrschen. Oh Mann, das war ein ziemlicher Krampf – und es gab kaum verbindliche „Anhaltspunkte“. Natürlich war die Sprache wichtig, wenn sie zuhause vermittelt wurde. Aber nur, wenn dies möglich und „zumutbar“ und dadurch keine negativen Folgen zu befürchten waren. Also kam es darauf an…
Und natürlich die vielen deutschen „Sitten und Gebräuche“. Wann haben sie Weihnachten gefeiert – und wie haben sie es gefeiert? Haben sie deutsche Weihnachtslieder gesungen? Wenn ja: Welche. Wenn nein: Warum nicht? Waren sie in deutschen „Vereinigungen“ (sofern diese erlaubt oder geduldet wurden)? Was haben sie dort gemacht?
Unsere Bundesoberen haben selber nicht so ganz gewusst, wie man einen „Deutschen“ von einem „Russen“, „Polen“ oder „Rumänen“ unterscheidet. Also: was macht das „Deutsch-Sein“ aus?
Für mich selber kann ich das nur an wenigen Punkten festmachen, die aber wohl auch von anderen Menschen, die nicht „deutsch“ sind, erfüllt werden könnten. Die Sprache. Aber wenn ich so manche Kommentare, Aufsätze oder „Kurzmeldungen“ lese, so kommen mir schon wieder Zweifel. Entweder wir haben wirklich verflixt viele funktionale Analphabeten oder aber die Sprache scheint nicht allzu wichtig zu sein. Also müsste ich eigentlich unterscheiden: vielleicht ist einer, der deutsch reden kann, ein wenig deutsch.
Also meine Nachbarn. Der eine kommt aus Kasachstan, der andere aus der Türkei. Beide reden gut deutsch; der eine kann es sogar ganz passabel schreiben. Also ein „Volldeutscher“ und ein „Teildeutscher“. Wenn ich es an der Sprache festmache.
Kultur? Sie wird ja öfters angeführt. Mein volldeutscher Nachbar aus der Türkei ist da so ziemlich bibelfest. Er kennt mehr klassische Komponisten aus dem deutschsprachigem Raum als ich. Und wenn es sein muss, singt er Teile aus Opernstücken, dass die Wände wackeln. Zuweilen auch auf italienisch – aber das wäre ja schon wieder nicht „deutsch“. Er ist auch sehr belesen, kennt Werke von Goethe, Schiller und Heine nicht nur vom Hören-Sagen. Und er liest regelmäßig deutsche Zeitungen. Keine türkischen – da sieht er lieber einen türkischen Fernseh-Sender.
Mein halbdeutscher Nachbar, der auf Grund seiner Abstammung und seiner „Prägung“ vollwertiger Aussiedler und damit Deutscher ist, tut sich mit der deutschen Kultur ein wenig schwer. Natürlich kennt er Mozart (ja, ich weiß, das ist kein Deutscher) und Beethoven. Aber ein Borodin oder Rimski-Korsakow ist ihm geläufiger und wohl auch lieber. Goethe kennt er vom Namen her, Schiller auf Grund seiner Locken. Dafür ist er ein ausgewiesener Experte für Tolstoi und Gorki.
Insofern bin ich fast gleichwertig deutsch mit den beiden. Aber auch ein wenig russisch und nicht nur deshalb, weil ich gerne Konsalik gelesen habe, ein wenig russisch spreche und in dem Land einige Wochen auf „Studienreise“ war, um eigentliche deutsche Kultur in den Hauptsiedlungsgebieten der „Russlanddeutschen“ zu erleben.
Ist es unser Grundgesetz? Ich liebe es, ehrlich. Es bietet weiten Raum für jeden, der hier lebt. Gleichheit, Freiheit, Brüderlich…. nein, das letztere ist mehr französisch. Ich denke, wir „Deutschen“ stehen nicht so sehr auf Brüderlichkeit. Dafür sind wir sozial und rechtsstaatlich. Sozial aber nur solange, wie es nicht an unseren Geldbeutel geht. Dann rufen wir nach dem Rechtsstaat. Der taugt aber auch nur was, wenn er unsere Interessen in den Vordergrund stellt und uns nicht wegen unserer kleinlichen Fehler abstraft. Dann ist es kein Rechtsstaat mehr.
Trotzdem ist unser Grundgesetz etwas fast Einmaliges. Es ist durchaus deutsch; wir lieben klare Regelungen. Das setzt sich auch in unserer Gesetzgebung fort. Manches ist so gründlich geregelt, dass man nicht mehr denken braucht. Manches so gründlich, dass es nur ein studierter Ordnungsfanatiker der Fachrichtung Jura durchschaut. Manchmal auch nicht. Das ist dann tragisch.
Ist es unsere christlich-abendländische Prägung? Für mich ein klarer Fall von Jein. Rein rechtlich sind wir Deutschen nicht christlich; auf jeden Fall nicht zwangsweise. Die Hälfte der Deutschen ist nicht-christlich. Die andere Hälfte meistenteils auch, obwohl sie bei behördlichen Nachfragen die Religionszugehörigkeit doch bejahen. Es gibt auch hier Ausnahmefälle. Manche sind durch und durch Christ. Manchmal findet man einen. Manche Deutsche sind auch Moslems. Fragt man deutsche Nicht-Moslems, so meint ein größerer Teil von ihnen, dass es mehr seien, als es Christen in Deutschland gäbe. Und das sei bedenklich und gäbe Anlass zur Sorge, auch wenn die Statistik was ganz anderes sage.
Statistik ist ein gutes Stichwort. Deutsche sind nach meiner Erfahrung äußerst ordnungsliebend und neugierig. Wie viel gebe ich für Sprit aus und was hat der vor Einführung des Euro gekostet? Ist die Zahl der Arbeitslosen gestiegen, seit es den Mindestlohn gibt? Und warum sagt die Statistik etwas anderes aus, als ich es doch mit eigenen Augen sehe? Gibt es eine Statistik darüber, wie viele Statistiken manipuliert oder gar gefälscht sind? Und warum schreibt die Zeitung nichts über diesen Skandal mit den ganz klar gefälschten Zahlen?
Ordnung muss sein in Deutschland. Klare Regeln auch hier. Mülltrennung – und wehe, der Nachbar hält sich nicht daran. Dann gibt es Zoff. Völlig egal, ob der ganze Kram doch zusammen in den Müllkraftheizwerken landet. Es geht nicht um persönliche Überlegungen zu Sinn oder Unsinn des Ganzen. Und auch die ganzen Regelungen der Straßenverkehrs-Ordnung sind das A und O des friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das kurze Halten im absoluten Halteverbot: ein Unding. Es sei denn, man muss selber nur ganz schnell mal an den Briefkasten hüpfen. Dann ist der Strafzettel eine bodenlose Willkür der Ordnungsmacht.
Pünktlichkeit hätte ich fast vergessen. Der Deutsche ist pünktlich. Und er isst pünktlich. Beides sind eherne Grundsätze. Nur die deutsche Bahn ist unpünktlich. Und der griechische Kellner, der nicht in die Pötte kommt und uns dadurch in Gefahr bringt, selber unpünktlich zu sein. Ansonsten gilt: Pünktlichkeit ist eine Zier – und nur der Sanitäter kommt fünf Minuten später.
Ich denke, ich habe unzählige Dinge vergessen. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Deutscher bin. Ich bin überzeugter Nordhesse. Nein, kein Hesse – das „Nord“ ist wichtig. Südhessen ist etwas anderes. Die haben andere Prägungen: Äppelwoi und solche Scherze. Der Nordhesse trinkt Bier. Und er futtert ahle Wurscht, Weckewerk und Dippefett. Auch sprachlich unterscheidet er sich deutlich.
Pünktlichkeit gibt es auch in meiner Heimat. Oder zumindest in meinem Dorf. Pünktlich ist hier, wer nicht mehr als 2 Stunden später kommt, als es abgemacht war. Wenn er keine Uhr besitzt – so wie ich – dann können es auch 2 ½ Stunden sein. Aber da ist dann Schluss.
Ordnung wird auch großgeschrieben bei uns. Mein Nachbar muss schließlich wissen wo meine Motorsäge liegt, falls er sie braucht und ich gerade nicht da bin. Und dass er den Kuchen, den seine Frau mir zugedacht hat, nicht auf die Mülltonne stellen darf, weil ansonsten mein Hund denkt, er wäre für ihn.
Kultur ist ebenfalls ein wichtiges Gut. Ich mag russische Lieder und türkische Bauchtänze bei einem urdeutschen Lagerfeuer mit echter Eiche. Und mein volldeutscher türkischer Nachbar mag Bratwurst, obwohl er eigentlich Muslim ist. Wenn er sie denn darf, denn seine wirklich deutsche Frau ist eingefleischte Veganerin. Mein halbdeutscher Nachbar aus Kasachstan, der anerkanntermaßen Volldeutscher ist, mag lieber Wodka, ist aber einem kühlen Bier nicht abgeneigt. Bratwurst mag er auch. Und er liebt es, wenn ich Gitarre spiele, obwohl er die Lieder nicht mitsingen kann. Es sei denn, ich spiele „Kalinka“. Das kennt auch mein volldeutscher türkischer Nachbar.
Und die Religion? Also ich bin Christ. Nicht immer, manchmal bin ich Heide. Das liegt wohl daran, dass ich ein kritischer Mensch bin – und diese Kritik macht vor dem lieben Gott nicht halt.
Mein lieber muslimischer volldeutscher Nachbar ist natürlich Moslem. Nicht immer, behaupte ich mal. Wenn er eine Bratwurst und ein kaltes Bier sieht, dann schwankt er in seinem Glauben. Obwohl er ansonsten seinem Glauben treu ist. Genauso wie seiner Frau. Von Vielweiberei hält er schon aus praktischen Gründen nichts. Außerdem hat er Muffe, dass ihn seine Frau – sollte er doch dazu neigen – verprügeln würde. Zu Recht, wie ich meine. Da vergisst er den biblisch/koranischen Grundsatz, dass die Frau dem Manne untertan sein solle. Er taugt in der Praxis nichts. Er hält auch nichts von Blutrache und dem heiligen Krieg, weil er für beides keine Grundlage im Koran sieht. Auch nicht für Kreuzzügler in der Bibel – die kennt er auch sehr gut. Wie gesagt, er ist ein äußerst pfiffiges Kerlchen.
Mein halbdeutscher Deutscher aus Kasachstan mit deutschem Pass ist Heide. Schon aus Gründen der Prägung, obwohl er wahrscheinlich bei der „Prägungsprüfung“ etwas anderes ausgesagt hat. Ich kann es ihm nicht verdenken – manche halten es halt für wichtig. Er hat nichts gegen den christlichen Glauben, nur über Moslems schimpft er hin und wieder. Nicht über unseren Nachbarn – der ist für ihn etwas anderes. Der Nachbar halt, der bereitwillig seinen Rasenmäher für jeden anderen Nachbarn zugänglich aufbewahrt. Aber ansonsten sind ihm die ganzen Moslems ein wenig ungeheuer. Schließlich musste sein Sohn in Afghanistan auf Seiten der Roten Armee gegen die kämpfen und hat dabei ein Auge verloren. Deswegen sehen wir ihm seine Ressentiments nach.
So, das war es. Mehr fällt mir nicht dazu ein. Nein, das stimmt nicht. Ich könnte einen ganzen Roman darüber schreiben. Will ich aber nicht. Ich finde die Frage nach dem „Deutsch-Sein“ nämlich ziemlich blöd. Iswini – upps, das ist russisch in Nicht-kyrillisch. Also sorry :-).
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