Wie verhält sich die AfD, wenn der CDU-Vorsitzende bei der Kanzlerwahl scheitert, was, wenn die Koalition zerbricht? Hilfe würde sie der Union nur unter Bedingungen anbieten. Der vermeintliche Wahlsieger steckt in einer selbstverschuldeten Zwangslage. Und: Fast alles ist möglich.

Die Abendnachrichten zeigen natürlich nicht die Koalitionsverhandlungen in Berlin selbst, aber Bilder der Verhandler, wenn sie außerhalb der Sitzungsräume zusammenstehen. Beide Seiten achten darauf, dass sie dabei den Eindruck vermitteln: Die Gespräche verlaufen zwar nicht einfach. Aber alles in allem geht es voran bei der Ausarbeitung eines Koalitionsvertrags, so wie schon bei früheren Regierungsbildungen. In Wirklichkeit gibt es gerade gar keine Vorhersehbarkeit, auch wenn die zukünftigen Koalitionäre die Illusion einer Routine verbreiten.
Einen Tag vor den Treffen gingen die neuesten Umfragewerte durch die Medien: 23,5 Prozent für die AfD, der höchste bis dahin gemessene Wert. Etwas später meldet Forsa sogar 24 Prozent. Weil Umfrageinstitute und die meisten Medien CDU und CSU gewohnheitsmäßig zusammenrechnen, erschließt sich für die meisten nicht gleich, was diese Werte bedeuten: Die Partei von Alice Weidel steht erstmals bundesweit auf Platz eins. Die eiserne Regel der Bundesrepublik, dass entweder CDU oder SPD den Spitzenplatz besetzen – perdu.
Die alten Gewissheiten zerfallen nicht nur in Deutschland. In Großbritannien lag die Reform-Partei von Nigel Farage vor kurzem in einigen Umfragen gleichauf mit den Tories. Und in Frankreich könnten die Wähler bei der nächsten Präsidentschaftskür Marine Le Pen ins Amt befördern, trotz ihrer Verurteilung. Oder einen anderen Kandidaten ihrer Partei. In Österreich würde die FPÖ nach aktuellen Umfragen die nächste Nationalratswahl nicht nur knapp wie beim letzten Mal gewinnen, sondern mit deutlichem Vorsprung. Die Vergangenheit lässt sich also nicht mehr einfach auf die Zukunft hochrechnen. Alles könnte auch anders kommen. Was uns wieder nach Deutschland führt.
Würde sich die AfD in diesem dritten Wahlgang allerdings enthalten, dann würde Deutschland plötzlich links-links-ultralinks regiert. Das klingt im ersten Moment nach einem zwar theoretisch möglichen, aber praktisch völlig ausgeschlossenen Szenario. Allerdings passiert in Berlin auch jetzt schon vieles, womit noch vor einem Jahr kaum jemand gerechnet hätte. Bisher gaben einige SPD-Abgeordnete zu Protokoll, sie würden Merz nicht mitwählen. Kämen keine weiteren Abweichler dazu, würde es immer noch reichen, nur eben etwas knapper. Aber wenn es eben doch zu einem dritten Wahlgang käme, in dem dann alles an der AfD-Fraktion hinge – wie würde sie sich verhalten?
Außerdem habe die Fraktion als Ganzes bei der Wahl des Bundestagspräsidiums erlebt, dass die anderen, also auch CDU und CSU, keinerlei Entspannungssignale aussenden: Der AfD-Kandidat für den Vizeposten fiel in drei Wahlgängen durch. Der Gesprächspartner rechnet auch mit einer geschlossenen Front, wenn es darum geht, der AfD-Fraktion den Vorsitz des Haushaltsausschusses zu verweigern, der eigentlich der größten Oppositionspartei zusteht. Es gebe auch keine noch so diskreten Versuche von Unionsvertretern, zumindest Gesprächsfäden zu knüpfen. „Vielleicht in einigen Ost-Bundesländern. Aber hier in Berlin: überhaupt nichts.“ Unter diesen Umständen könnte niemand von den blauen Abgeordneten erwarten, die Hand für Friedrich Merz zu heben. Und wenn dadurch eine linke Volksfrontregierung zustande käme? „Dann“, meint er, „ist es eben so.“
Diese Koalition könnte sich nicht auf eine Parlamentsmehrheit stützen. Aber Minderheitsregierungen sind nicht grundsätzlich handlungsunfähig. Spitzenpositionen in Bundesbehörden kann ein Kabinett auch ohne Zustimmung des Bundestages besetzen. Der bisherige Haushalt würde fortgeschrieben – es könnten keine neuen Projekte angefangen, aber alle bisherigen weiterfinanziert werden. Außerdem gäbe es vom ersten Tag an die Forderung an die Union, jetzt gefälligst staatspolitische Verantwortung zu zeigen, indem sie dem Linksbündnis zumindest hier und da gegen ein paar Zugeständnisse zur Mehrheit verhilft. Einmal im Amt, ließe sich eine rot-rot-grüne Allianz nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum aushebeln, bei dem Union und AfD gemeinsam jemand anderen zum Kanzler wählen müssten. Diesen Schritt würden CDU und CSU, Stand heute, wohl selbst in der größten Demütigung nicht wagen.
In Deutschland lehnt der linke SPD-Flügel das Bündnis mit der von ihm verachteten „Merz-CDU“ zutiefst ab, obwohl die sozialdemokratischen Verhandler gerade eine Position nach der anderen durchsetzen. Um ihren Linksflügel ruhig zu halten, würde die SPD wahrscheinlich auch in der Koalition versuchen, dem Partner eine Zumutung nach der anderen aufzudrücken. Schon jetzt zeigen sich an der CDU-Basis erste Auflösungserscheinungen. In Kühlungsborn etwa verließen gleich 23 Mitglieder die Partei aus Wut und Enttäuschung über die radikale Wende der Führung, die nicht nur ihr Schuldenbremse-Versprechen brach, sondern auch die Wahlkampfankündigung, das Heizgesetz abzuschaffen, praktisch kampflos kassierte. Sollte sich die CDU in der Koalition weiter derart am Nasenring durch die Arena ziehen lassen, dann könnten selbst ganze Landesverbände der normalerweise handzahmen Kanzlerpartei rebellieren.
Faktisch liefe das also auf eine Koalition light hinaus. Und abgesehen von den formalen Punkten: Was wären in diesem Fall die inhaltlichen Forderungen der AfD? „Eigentlich nur die“, antwortet der Gesprächspartner, „dass die Union zu dem zurückkehrt, was sie im Wahlkampf versprochen hat.“ Natürlich zuallererst in der Migrationspolitik. Um diese Bedingungen zu erfüllen, bräuchte es eine völlig andere Union als heute. Andererseits: In den nächsten zwei bis drei Jahren erleben die meisten Parteien sowieso drastische Umbrüche, die kaum etwas beim Alten lassen. Es stellt sich nur die Frage, wie weit sie den Wandel noch selbst mitbestimmen.
Die Frage, wie es in Zukunft weitergeht, stellt sich also auch für die Partei, die bisher vom Zerfall der alten bundesrepublikanischen Politmaschinerie am meisten profitiert.
Ebenfalls in Berlin Mitte, an einem anderen Ort nicht weit vom Reichstag, findet das andere Treffen statt. In den vergangenen Wochen verbrachte der Unionsabgeordnete den größten Teil seiner Zeit in einer der insgesamt 17 schwarz-roten Verhandlungsgruppen, die an dem wahrscheinlich umfangreichsten Koalitionsvertrag aller Zeiten basteln. „Es wird dort wirklich jedes Detail festgelegt“, sagt er, „und das aus einem einfachen Grund: Nachher, wenn die Regierung erst einmal steht, wird man sich auf nichts mehr einigen können.“ Nach erfolgreicher Vertrauensbildung klingt das nicht. Der Politiker gehört zu den Kennern des Berliner Betriebs mit all seinen Feinheiten: Seit den Neunzigern sammelte er Erfahrungen in verschiedenen Leitungsposten der Exekutive, bevor er ins Parlament wechselte. Natürlich weiß er, dass nicht der Umfang des künftigen Koalitionsvertrags für seine Partei ein Problem darstellt, sondern der Inhalt. Bisher trat die SPD in den Gesprächen so auf, als hätte sie im Februar nicht etwa das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren, sondern einen glänzenden Sieg.
„Aber zerreißt es sie nicht genauso, wenn die Union nicht nur sämtliche Positionen räumt, sondern auf zentralen Feldern sogar das Gegenteil ihrer Wahlversprechen zum Regierungsprogramm macht?“
Ja, sagt er, man stecke in einer sehr schwierigen Lage. „Die Stimmung an der Basis ist furchtbar. Die kenne ich genau.“ Damit beschreibt er den doppelten Druck, unter dem die Schwesterparteien stehen. Lassen sie sich weiter von der SPD an die Brandmauer drücken, verlieren sie mit Sicherheit Mitglieder und Wähler. Aber auch, wenn sie die Brandmauer einreißen. Mittlerweile geht es vor allem für die CDU nur noch um die Frage, wodurch sie am meisten einbüßt. Die Mitteilung, dass die AfD-Fraktion im dritten Wahlgang die Hand nicht für Merz heben würde, wenn er bei den ersten Durchgängen scheitern sollte, nimmt der Abgeordnete zur Kenntnis. Über diese Möglichkeit, sagt er, habe man in der Fraktion nicht geredet: „Wir gehen davon aus, dass die SPD bis auf ein paar Abweichler steht.“ Es gebe keinen Plan B für den Fall, dass es schiefgeht.
In der CDU herrscht wahrscheinlich durch jahrzehntelange Übung eine höhere Bereitschaft als in allen anderen Parteien, den Einzug ins Kanzleramt als Wert an sich zu sehen. Die Frage, was sie damit durchsetzen will, kommt erst danach. Sie muss auch nicht unbedingt beantwortet werden. Die CDU, so das Fazit des Gesprächs, arbeitet jetzt eben die nächsten Schritte ab, und hofft darauf, dass es gut geht. Dass sie doch noch ein paar Punkte im Koalitionsvertrag durchsetzt, dass die Kanzlerwahl klappt, dass die Wirtschaft sich wieder bessert oder zumindest nicht weiter verschlechtert. Und dass die Koalition vier Jahre lang hält.
Den Gedanken an die nächste Bundestagswahl jedenfalls, wann immer sie stattfindet, schiebt so gut wie jeder Christdemokrat in der Berliner Arena zurzeit so weit von sich weg wie nur möglich. Denn spätestens dann müssten ihre Mitglieder die Entscheidung treffen: Treten sie mit allen anderen Parteien außer der AfD in einen Wettbewerb, wer von ihnen die beste Mischung aus Etatismus, Schuldensteigerung und Moralpolitik anbietet? Oder geht die Partei ohne Festlegung ins Rennen, also auch ohne Brandmauer, und schließt sich mit der Kraft zusammen, mit der sie am Ende die größte Schnittmenge findet?
Eins jedenfalls steht bei allen Umwälzungen und offenen Fragen fest: Mit einem bürgerlichen Programm vor die Wähler treten und gleichzeitig jede Zusammenarbeit mit der AfD ausschließen – das funktioniert für die Union kein zweites Mal.
In diesem Berliner Frühling 2025 weiß zwar keiner der Politmaschinisten, wie es weitergeht – egal, für welche Partei. Nur eins begreift jeder: Sie erleben gerade die Endphase der alten politischen Ordnung. Spätestens mit der nächsten Wahl beginnt eine neue. Vielleicht kommt es dann sogar zu der linken Volksfrontregierung, die jetzt nur als Phantom durch die Hauptstadt spukt.
Noch nie war die Zukunft so offen.
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Auf welche Weise werden wohl die Vertreter von „Unsere Demokratie“ ihr lästigen Konkurrenten ausschalten? Wie in Thüringen? Wie in Rumänien? Wie in Georgien? Wie in Frankreich? Hm. Zu Thüringen schwieg man überwiegend. In Rumänien gärt es, man protestiert auf den Straßen. In Georgien gärt es, man protestiert auf den Straßen. In Frankreich gärt es, man protestiert auf den Straßen. Und in Deutschland? Werden es sich die Wähler in Deutschland gefallen lassen, wenn man ihnen ihre Opposition und somit ihre Stimme nimmt? Deutsche sind Gehorsam-erprobt. Ich befürchte Schlimmes. Schon Martin Luther, danach die Preußen und später Hitler haben vom deutschen Gehorsam… Mehr
»Die psychotische SPD und Friedrich Merz als deren Therapeut?«
Für mich der Top-Kommentar zu den Koalitionsverhandlungen von Jan Fleischhauer (FOCUS Online):
https://youtu.be/ULlwNUuHsas
Dennoch könnte es klug sein, dass die AfD Merz sogar im ersten Wahlgang die Stimme gibt. Für das Ergebnis gibt es auch 2 Szenarien. Merz akzeptiert die Wahl nicht, da mit Stimmen der AfD die Wahl aus seiner Sicht nicht akzeptiert werden kann, da er sich von „denen da“ nicht tolerieren lässt oder gar zusammenarbeitet. Dann ist er weg. Akzeptiert er die Wahl mit Stimmen der AfD wäre das ein Riss in der Brandmauer und die SPD könnte die Koalition aufkündigen. Das wärs dann auch für Merz und die vereinigte Linke hat es schwer mit Mehrheiten. So oder so, die… Mehr
Es war ja auch nur EINER der AfD-Strategen, die dies geantwortet haben. Wir wissen nicht, wie die ANDEREN geantwortet hätten. Vielleicht ist sich die AfD in der weiteren Vorgehensweise noch gar nicht einig…
Man kann die Modelle einer Regierung durch spielen. Man nehme “Problempony Reichinnek “ samt Alt-Genosse Aken. Scheinbar reichen 3 Jahre mit Baerbock/Habeck immer noch nicht auf dem Weg ins Zeitalter der Postkutsche, dazu noch eine Esken samt dem Rest wie Lauterbach. Und jetzt Merz? In absehbarer Zeit werden die Wähler der bürgerlichen Mittelschicht aufwachen, dass nur das jeweilige Personal und seine Arbeit entscheidend ist und nicht eine Partei. Schließlich bezahlt man das Personal aus Steuergeldern. Es dürfte klar sein, auch das Personal der AFD kann einen desaströsen Zustand nicht von heute auf morgen lösen. Aber ich gehe davon aus, die… Mehr
Orwellsche Verdrehungen: Krieg ist bzw. dient dem Frieden, (Meinungs-) Freiheit ist Sklaverei. In der autoritär regierten Ukraine wird angeblich unsere Demokratie und Freiheit verteidigt. Was wahr und richtig ist, bestimmt in der „neuen Realität“ (WEF) die Obrigkeit und drückt das via polit-medialem Komplex den Bürgern ins Hirn. Die Propaganda funktioniert, frühere linke und grüne Pazifisten gehören jetzt zu den fanatischen Kriegsbtreibern und Rüstungsbefürwortern. Das gleiche Drama beim Klima: frühere grüne Umweltschützer wollen den massiven Ausbau von Windkraftanlagen, obwohl diese Politik am Klima nichts ändert, gewaltige Kosten verursacht und eine ungeheure Umweltzerstörung darstellt. Weiter zur kutlurfremden und bildungsfernen Massenzuwanderung: Kosten und… Mehr
Wenn es in Deutschland eine Meisterschaft für Unbeliebheit gäbe, hätte Herr Friedrich M. spätestens nach der letzten Wahl eine Goldmedaille. Und genau dieser Grad an Unbeliebtheit quer durch alle Parteien ist es, der das politische Schicksal dieses Herrn (und möglicherweise der CDU) besiegeln wird. Erfolgreiche Politik braucht wirkliche Führungsfiguren, um auch in schwierigen Situationen durchsetzbar zu sein.
Spätestens seit klar ist, dass die AfD nicht mehr verschwinden wird (also vermutlich 2017), hätte jeder rational denkende Mensch in der Union verstehen müssen, dass die Brandmauer am Ende nicht die AfD, sondern die Union zerstören wird. Die einzige verbleibende Frage ist die nach der Zeitskala.
Deshalb wird die AfD auch einfach verboten werden, oder glauben Sie, dass das CDU-geführte Bundesverfassungsgericht diesem Verbot irgendwie entgegenstehen wird?
Toller Artikel, Herr Wendt, auch wenn Kritiker oder gar Defätisten einwenden mögen, jener habe mittels der beiden Interviews die seit Wochen im Netz wabernden Gerüchte und Planspiele schlicht auf ein seriöses Niveau hoben.
Ich bin auch ein »Nazi«! Wer hätte das gedacht, ein Opfer des Nationalsozialismus wird Nazi? Komische Welt!
Herr Wendt, setzen Sie »Volksfront« und »Volksfrontkanzler« in Anführungsstriche! Es gibt keine Front des deutschen Volkes gegen den Rest im Parlament. Machen Sie es?!