Am 8. Mai 1949 beschließt der Parlamentarische Rat zwischen Saurierknochen und ausgestopften Tieren im Bonner Zoologischen Museum König das Grundgesetz. Noch ist kein Mensch davon überzeugt, dass das besetzte „Trizonesien“ sich verblüffend schnell zum erfreulichsten, freundlichsten Staat der deutschen Geschichte mausern wird. Am 12. Mai genehmigen die drei westlichen Militärgouverneure das Grundgesetz. Es wird nie vom Staatsvolk angenommen, auch nach dem Beitritt der DDR nicht, zweifellos ein Makel. Am 23. Mai tritt es in Kraft, am 14. August dürfen die Westdeutschen den ersten Bundestag wählen.
Wiederaufbau und „Wirtschaftswunder“ werden beschleunigt vom Kalten Krieg. Der Westen braucht Deutschland als Bündnispartner – auch in Konkurrenz zum damals noch schlicht Ostzone genannten zweiten deutschen Staat, gegründet am 7. Oktober 1949 als direkte Antwort auf die „BRD“. Die Bonner Republik blüht und gedeiht, alles in allem eine Wohlfühl- und Schönwetterdemokratie – das Wetter bleibt auch während des Kalten Krieges überwiegend sonnig.
In dem Augenblick, in dem der Wiedervereinigungstraum wahr wird und die DDR – mittlerweile ohne Anführungszeichen – in ihr aufgeht, verwandelt sich diese Republik. Dagegen hilft auch nicht die Weigerung, eine neue, gemeinsame Verfassung aller Deutschen zu diskutieren und zu beschließen. Es ist ein tragisch-magischer Moment. Kein Wunder, dass die Enttäuschung, das Ersehnte nicht zu bekommen, im Osten noch heute schwer nachklingt. Kein Wunder, dass im Osten alte Hoffnungen umschlagen in Skepsis gegenüber der real existierenden Demokratie, gegenüber Marktwirtschaft und Rechtsstaat. Kein Wunder, dass im Osten den Institutionen weit mehr Ablehnung entgegenschlägt als im Westen. Die Vorstellung, nach dem Beitritt der DDR 1990 werde die gute alte Bundesrepublik einfach nur größer, ist eine Illusion. Auch die Westdeutschen erliegen ihr. Die proklamierte „innere Einheit“ wird zur Fata Morgana.
Im Gegenteil: Von „Spaltung“ ist heute die Rede. Unversöhnliche Weltanschauungen klaffen auseinander. Nach dem sozialistischen Schutzwall werden Brandmauern errichtet. Das Grundvertrauen in den Staat ist ramponiert. Die Bundesrepublik erscheint vernachlässigt, heruntergewirtschaftet, gefesselt zwischen Demenz und Dekadenz. Was ist da geschehen?
Was die Bonner Republik die ersten 40 Jahre lang auszeichnete, hat mit dem, was aus der Berliner Republik geworden ist, nur die Hülle, also das unwesentlich veränderte Grundgesetz und die Institutionen des Staates, gemeinsam. Nicht mehr viel übrig ist vom Spirit, der die Bundesrepublik einst so erfolgreich machte.
Die Bonner Republik war eine Leistungs- und Aufstiegsgesellschaft. Die meisten Bürger besaßen nichts als ihre Bereitschaft, anzupacken. Leistung lohnte sich. „Meinen Kindern soll es einmal besser gehen“, war kein Geschwätz, sondern feste, erfüllbare Erwartung. Das hat sich grundsätzlich geändert. Den Jüngeren wird es schlechter gehen als den Älteren. Die Sozialsysteme halten dem demografischen Wandel und der selbst verschuldeten Schwächung der Wirtschaft nicht stand. Weil sich Leistung wenig lohnt, sinkt auch die Leistungsbereitschaft. Der Wohlstand schwindet. Eine Klimareligion hat das Land im Griff; der spürbare Mangel an ökonomischer und naturwissenschaftlicher Kompetenz der maßgeblichen Eliten drückt nicht bloß aufs Gemüt, sondern vor allem auf den Verstand. Perspektivlosigkeit macht sich breit.
Grundlegende Entscheidungen waren vor 75 Jahren zu treffen: Marktwirtschaft oder Sozialismus, Westbindung oder deutsche Einheit mit Stalins Segen. Die Gründer der Bonner Republik waren von Krieg und Diktatur weitgehend geläutert, ihre führenden Politiker gründlich ernüchtert. Von Ideologien befreit, rangen sie um den besten Weg aus dem materiellen und moralischen Desaster; Männer wie Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, Willy Brandt und Helmut Schmidt entschieden sich auch für eine Wertegemeinschaft. Ihre Werte zählen nicht mehr viel. Ihre Nachfolger sind Funktionärsfiguren auf dem Schachbrett eines deformierten Parteienstaats.
Regieren durch Ignorieren
Die Republik geriet in die Hände von Leuten, die weder Erfahrung noch sonst eine Kompetenz aufweisen. Ein größeres Missverständnis war die Annahme, eine machtversessene Pastorentochter aus dem Osten im Kanzleramt sei ein Segen für das Land.
Sie ignorierte Verfallserscheinungen wie die Bildungsmisere, die zunehmend marode Infrastruktur, den Niedergang der Bundeswehr. Sie traf eklatante Fehlentscheidungen, förderte die Zuwanderung, stieg aus der Kernenergie aus. Das verheerendste Resultat ihrer Regentschaft ist jedoch, dass sie das Land entpolitisierte und den für eine lebendige Demokratie notwendigen Diskurs unterband. Eine an Friedhofsruhe interessierte Kanzlerin gab im Kulturkampf gegen die neuen links-grünen Fundamentalisten nach, noch ehe der überhaupt richtig begonnen hatte.
Angela Merkel spielte dabei virtuos mit den Neurosen einer Gesellschaft, die immer wieder von Wellen der Angst erfasst wurde. Ein Virus genügte, um Bürgerrechte mir nichts, dir nichts außer Kraft zu setzen; die Klimahysterie reichte, um das Fundament des Wohlstands einzureißen. Das Land leidet unter einer bipolaren Störung, mal hingestreckt von Katastrophenlust, mal hingerissen vom himmelhoch jauchzenden „Wir schaffen das“.
Die Regierenden glauben, alles besser zu wissen und besser zu sein. Die traurige Gestalt des gegenwärtigen Kanzlers taugt vielleicht als Galionsfigur, ganz sicher nicht als Kapitän. Die Schwäche der Republik ist auch die Schwäche seiner politischen Klasse und der Medien.
Auch der Kulturbetrieb dienert vor dem woken Zeitgeist. Intellektuell verarmte Autoren und Verleger demonstrieren für die Regierenden, halten wie jüngst auf der Leipziger Buchmesse auf Kommando Parolen in die Höhe: „Demokratie wählen. Jetzt!“ Ernsthaft bedroht ist die Demokratie jedoch durch verblendete Eliten und deren Gefolgschaft, die nicht mehr wissen will, was eine offene, liberale Gesellschaft ist.
In Ermangelung des Nationalstaats hielt der Verfassungspatriotismus die Bonner Republik zusammen. Heute schwallen selbst Grüne von Patriotismus, meinen damit aber nur die unkritische Unterwerfung unter das, was sie „Transformation“ nennen. Die Deutschen verwechseln Vaterlandsliebe mit Konformismus. Und die notwendige Kritik am regulierenden Staat wird als staatswohlgefährdend, delegitimierend denunziert. So sind es die Demokraten selbst, die die Demokratie vergiften.
Sonderwege schrecken ab
Die Bonner Republik, noch nicht ganz souverän, doch in ihren Entscheidungen weit souveräner als heute, lehnte die sattsam bekannten Sonderwege ab und wurde dennoch zum Modell für andere. Die neuen Sonderwege, mit denen sich heute die Berliner Republik brüstet, sind abschreckende Beispiele für die befreundeten Länder – Deutschland ist entschieden zu klein, um auf eigene Faust die Welt zu retten.
Die Protagonisten des Wandels predigen die Tugend des Verzichts. Darauf wäre in der Bonner Republik niemand gekommen. Fleiß, Ehrgeiz, Wachstum, Vorsprung durch Technik hießen die Ideale. Und Freiheit wird heute meist mit Freizeit verwechselt.
Die Bundesrepublik wird viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte benötigen, um sich aus ihrer Selbstlähmung zu befreien, die eingespielte Transformation zu transformieren. Überwunden werden muss die postdemokratische Moral der herrschenden grünen Ideologie. Bevormundung und Belehrung sind nicht das, was Demokraten von den Regierenden erwarten sollten.
Dankbar bis wehmütig blicken nun vor allem ältere Deutsche zurück, zunehmend desillusioniert bis zornig schauen sie nach vorn, im Osten wie im Westen. Wer interessiert sich noch für die Geschichte der Bonner Republik? Kaum jemand von denen, die statt dessen geschichtsvergessen von einer „Wannseekonferenz 2.0“ schwafeln. Was droht, ist eher etwas anderes, eine „klimagerechte“ DDR 2.0.
Ein Zurück zur Bonner Republik kann es nicht geben. Mit ihrem Erbe sorgsam umzugehen ist jedoch Gebot der Stunde. Wer wollte mit einigem Optimismus auf die nächsten 75 Jahre wetten? Dennoch: Die Deutschen dürfen nicht resignieren!