Die marxistische Linke feiert in diesem Jahr das 200. Geburtstagsjubiläum ihres Vordenkers: Karl Marx, geboren am 5. Mai 1818 in Trier. SPD und Linkspartei steuern zu diesem Jahrestag ein umfangreiches Begleitprogramm bei. Das ist insofern verständlich, als der Marxismus die historisch-weltanschauliche Wurzel beider Parteien darstellt. Unverkennbar versuchen sich beide Parteien zudem an einer Wiederannäherung bzw. Wiederaneignung des Marx’schen Denkens. Das ist nicht wirklich neu, erfährt Marx doch spätestens in Folge der globalen Weltfinanz- und ‑wirtschaftskrise von 2007/08 eine späte Renaissance. Sogar im verunsicherten bürgerlich-liberalen Lager ist Marx seitdem en vogue.
Bemerkenswerterweise war im vergangenen „Luther-Jahr“ deutlich mehr über Luthers Antisemitismus zu hören als in diesem Jahr bislang über die problematischen Seiten von Marx (und Engels). Grundsätzlich überrascht es nicht, dass angesichts eines Jubiläums mehr über den Grund gesprochen wird, warum der Jahrestag gefeiert wird, als sich die Festtagsstimmung durch Unangenehmes vermiesen zu lassen. Geschenkt. Problematisch wird es allerdings, wenn nicht nur kaum eine ernsthafte kritisch-differenzierte Auseinandersetzung stattfindet, sondern darüber hinaus noch eine regelrechte Apologie betrieben wird.
Marx-Gedenken im Widerspruch mit dem bundesrepublikanischen Geschichtskonsens
Seinen irritierenden Höhepunkt erreicht das „Marx-Jahr“ nämlich am 5. Mai. Dann wird in Trier eine 5,50 Meter hohe Bronzeskulptur aufgestellt werden, um … ja, was eigentlich? … Um daran zu erinnern, dass Marx, der sein Lebenswerk vorwiegend in England verfasste, ursprünglich von der Mosel stammte. Kritik und Vorbehalte gab es von der Politik vor Ort kaum. 42 Ratsmitglieder stimmten für die Aufstellung, sieben dagegen und vier enthielten sich. Sogar die CDU sieht darin offenbar kein Problem.
Nun war Marx zweifellos eine wichtige und einflussreiche Persönlichkeit für die nationale sowie globale Geschichtsschreibung, doch wann wurde in Deutschland zuletzt einer „großen Persönlichkeit“ ein derartiges Denkmal gesetzt, das an die überschwängliche Nationalheldenverehrung im 19. und frühen 20. Jahrhundert erinnert? Hinzu kommt, dass hier eine (kommunistisch-)totalitäre Diktatur (China) mit ihrem „Geschenk“ Geschichtspolitik in einer freiheitlichen Demokratie betreibt und kaum jemand stört sich daran. Es gibt in der Öffentlichkeit keine konzentrierte und ernsthafte Diskussion darüber. Das ist ein intellektuelles Armutszeugnis.
Notwendige Kritik am Werk Karl Marx‘
Zwar wurde bereits Protest gegen die Statuen-Enthüllung angemeldet, allerdings steht zu befürchten, dass er kaum ins Gewicht fallen wird. Dabei ist die Kritik an Marx und seinem Werk wichtig und richtig und sie muss in der Sache auch hart sein. Immerhin war Marx angetreten, der bürgerlichen Welt ihren unabwendbaren Untergang zu prophezeien. Auf ihn beriefen sich ferner all jene, die enthusiastisch auf dieses Ende hinarbeiteten und zu beschleunigen trachteten. Im Ergebnis führte dies zu Millionen Toten und enormen Verheerungen. Dass er nicht zuletzt die „Erklärung der universalen Menschenrechte“ verwarf, die gewaltsame Revolution bejahte und die bürgerliche Demokratie ablehnte, wirft zudem ein nachhaltig schlechtes Licht auf sein Werk.
Eine der intellektuell brillantesten Kritiken seines Werkes findet sich in Karl R. Poppers „Die offene Gesellschaft“. Dort wird Marx‘ „wissenschaftliche“ Lehre als irrationale Prophetie entlarvt; dort werden die totalitären Elemente dieses Denkens offengelegt: die quasi-religiöse Heilslehre, der unbedingte Welterklärungsanspruch, der dogmatische Geltungsanspruch, der antiindividualistische Kollektivismus, die antirationalen Immunisierungsstrategien, der Angriff auf die Ethik und nicht zuletzt das verschwörungstheoretische Grundrauschen sowie das radikale Freund-Feind-Denken. Jedem sei die Lektüre empfohlen. Ob Marx als nationales Vorbild taugt, ist angesichts dessen mehr als fraglich.
Anti-Marxismus ist auch keine Lösung!
Nichtsdestoweniger tun die Marx-Kritiker Unrecht daran, wenn sie den apologetischen Tendenzen einen entschiedenen Antimarxismus entgegensetzen. Dieser Reflex gleicht nämlich der linken historisch-politischen Bilderstürmerei, wonach nur noch vermeintlich moralisch unbedenkliche Akteure in die kollektive Erinnerung eingeschlossen sein dürfen. Dieses Verständnis verneint schlechthin die Komplexitäten und Ambivalenzen in der Geschichte. Es unterstellt eine quasi-mythische Unterscheidbarkeit zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“. Kurzum, es handelt sich um unhistorischen Unsinn und ist intellektuell unredlich.
Auch Marx bedarf einer in jeglicher Hinsicht differenzierten Betrachtung, die sowohl Kritik übt, als auch ihm nicht das blutige Erbe derjenigen in die Schuhe schiebt, die sich auf ihn beriefen. Auch Marx hat das Recht, in seiner Zeit betrachtet, bewertet und nicht zuletzt kritisiert zu werden. Es gehört zur Wahrheit dazu, dass Marx gleichzeitig Ur-Vater der Sozialdemokratie ist, die die liberale Demokratie bereicherte, sowie des Kommunismus, der die liberale Demokratie vernichten wollte. Dieser realhistorischen Ambivalenz muss eine moderne kritische Erinnerungskultur Rechnung tragen.
Karl Popper wie auch andere betonten nicht nur die Schattenseiten, sondern auch die zustimmungswürdigen Aspekte des Marx’schen Denkens. Beide erkannten die intellektuelle Kraft und das innovative Potential darin an und würdigten den nicht nur negativen Einfluss auf die Geschichte der Moderne. Aber eine Marx-Statue braucht wirklich niemand.
Norman Siewert studierte Zeitgeschichte und promoviert an der Universität Potsdam.