Glaube ohne Zweifel führt in die Anmaßung.
Zweifel ohne Glaube führt in die Verzweiflung.
Die Jahreslosung weist auf einen heilsamen dritten Weg.
Die Kirchen in Deutschland wählen jedes Jahr eine „Jahreslosung“; ein Vers, der Christen in besonderer Weise ein Jahr lang im Denken und Handeln begleiten darf.
Dieses Jahr ist das Leitmotto ein Mutmacher zu einer kritischen Einstellung. Im Zusammenhang mit dem Kontext lautet es: „Behindert nicht Gottes Geist. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüfet alles und behaltet das Gute“ (Paulus in 1. Thessalonicher 5,21).
Die prophetische Rede rechnet damit, dass Gott den Menschen zugeneigt ist und ihnen für den konkreten Alltag den Weg weist. Doch die prophetische Rede hat etwas Gefährliches. Da meinen Menschen, sie hätten die Wahrheit mit Löffeln des Heiligen Geistes gefressen und könnten darum mit alternativloser Autorität von anderen Menschen Gehorsam beanspruchen.
„Zeigt der AfD die rote Karte“, steht in prophetischer Manier in dem Schaukasten einer evangelischen Kirche. Die Kirche als vermeintlicher politischer Schiedsrichter stellt einfach mal 20 Prozent der Bevölkerung vom Spielfeld. Damit maßt sich die evangelische Kirche eine Position an, die verfassungsrechtlich allein dem Bundesverfassungsgericht zusteht. Fatal, wenn sich solch eine Kirche als Hüterin der Verfassung und der Demokratie ansieht. „Wir haben uns im Jahr 2024 besonders für das demokratische Zusammenleben eingesetzt“, ist meine Kirche hochoffiziell von sich selber überzeugt.
Wie bequem ist es, wenn man seine eigene Meinung mit göttlicher Autorität aufplustern kann. Der Gestus der prophetischen Rede wohnt aller Ideologie inne. Ideologie hat darum immer etwas Religiöses. Und umgekehrt ist eine Kirche mit dem Habitus der prophetischen Rede höchst ideologieanfällig.
Mit der „prophetischen Rede“ könne die Kirche „jenseits aller Kompromisse und Klugheitserwägungen in der Tradition biblischer Prophetie ein klares Wort sprechen“ (Heinrich Bedford-Strohm, 31.10.2021). Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der damalige EKD-Ratsvorsitzende positioniert sich „jenseits aller Kompromisse und Klugheitserwägungen“. Damit brachte Bedford-Strohm das Ende der Aufklärung und des demokratischen Meinungsstreites in der evangelischen Kirche auf den Punkt. Und die Mehrheit der ehemaligen „Protestanten“ nickt brav mit dem Kopf und wählt solche „Propheten“ und „Theokraten“ in alle entscheidenden Gremien. Hinter dem verbreiteten Image der „lockeren und liberalen evangelischen Kirche“ steckt in Wahrheit eine höchst autoritäre und übergriffige Kirche, die sich mit prophetischem Gehabe autoritär auf „ein klares Wort“ in politischen Fragen gleichgeschaltet hat.
Die Jahreslosung 2025 erinnert daran: Der Geist Gottes wird immer wieder auch in prophetischen Eingebungen wirken. Aber das darf niemals ungeprüft und kritiklos akzeptiert werden. Allzuoft erweisen sich kirchengepriesene Propheten wie Greta Thunberg als Pseudopropheten. Schon die jüdische Tradition und mit ihr Jesus Christus warnt vor den „falschen Propheten“ (zum Beispiel Lukas 6,43-45). Hinter mancher prophetischen Rede steckt lediglich der Geist des Konformismus, der Geist der Schwarz-Weiß-Denke, der Geist der Angst und der Geist der mutlosen und vorteilsbedachten Anpassung an die Machthaber dieser Welt.
Prophetische Rede braucht den heiligen Geist der Prüfung und der Kritik. „Prüfet alles und behaltet das Gute“.
- Prüfen heißt bedenken, hinterfragen, abwägen, relativieren.
- Prüfen heißt, gegen alle Eindeutigkeiten die innewohnenden Ambivalenzen offenlegen und aushalten.
- Prüfen heißt, im Gebet über dem Wort Gottes nach neuen Impulsen zu suchen
- Prüfen heißt Mut zum Protest gegenüber allen selbsternannten „Propheten“.
- Prüfen heißt miteinander streiten und ringen.
Martin Luther soll auf dem Wormser Reichstag im Stil der prophetischen Rede gesagt haben: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Doch Martin Luther fügte vernünftig hinzu: „Ich kann und will nicht widerrufen. Es sei denn, dass ich überwunden werde entweder durch Worte der Heiligen Schrift oder helle und klare Vernunftsgründe (aut ratione evidente).“ Besser kann man die paulinische Spannung von prophetischer Rede und vernünftiger Reflektion nicht auf den Punkt bringen. Sebst der Glaube kann nicht auf vernünftige Argumentation verzichten.
Dieser Ansatz ist gar nicht so weit weg von den wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Karl Popper: Menschen haben Hypothesen. Egal woher. Die können einem am Schreibtisch oder auf der Toilette kommen; die können sogar subjektiv als göttliche Offenbarung erlebt werden. Doch dann kommt das Entscheidende. Die „Falsifikation“, das „Prüfen“. Nur so lässt sich die Tücke falscher prophetischer Sicherheiten vermindern. Nur so gibt es echten Fortschritt und Erkenntnisgewinn.
Die Jahreslosung 2025 reißt im engen Meinungskorridor die Türen auf und eröffnet einen weiten Raum. Damit ist sie nicht nur für Kirchen, sondern auch für die Gesellschaft eine befreiende und anregende Frohe Botschaft.
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„Prüfet alles und behaltet das Gute“, zusammengefasst ist das einfach nur konservativ. Nun ist die Kirche aber, jedenfalls das was ich mitbekomme, das genaue Gegenteil davon. Sie prüft gar nichts und wirft alles Gute weg. Für mich ist diese Losung daher reiner Hohn.
Glaube nicht alles, was Du siehst. Und sehe nicht nur alles, was Du glaubst. Sehr geehrter Herr Zorn. Momentan sehen eben einige Menschen nur noch das, was sie selber glauben wollen (sollen!). Und das ist besonders dann sehr einfach, wenn man nicht mehr selber denken muss, da man sich ja scheinbar in bester Gesellschaft befindet. Leider lassen sich die meisten Leichtgläubigen -man möchte sagen Leichtfüssigen- nicht nur innerhalb der Kirche finden. Tja, denken bedeutet Arbeit und stört nur dabei, die für sie „richtige“ Work-Life-Balance zu halten, also so ein Gebilde, das eigentlich zerbrechlich wie ein Mobile ist. Da liest man… Mehr
Sehr guter Artikel, und von einem Kirchenvertreter das Wort Falsifikation zu lesen, gleicht einer Offenbarung!
Ebenso wie der Satz: “ Allzuoft erweisen sich kirchengepriesene Propheten wie Greta Thunberg als Pseudopropheten.“
Richtig, aber doch zu schwach formuliert. Besser waere gewesen: „Kirchengepriesene Pseudopropheten wie die unwissende und anmassende Greta Thunberg tragen immer wieder dazu bei, dass zweifelnde und enttaeuschte Menschen den Kirchen den Ruecken kehren.“
“ … behaltet das Gute“. DAS ist aber genau der Sündenfall, die Erkenntnis, was gut ist und was schlecht, was gut ist und was böse. Ach, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt – und ein Bettler, wenn er nachdenkt. Wenn aber die erste Begeisterung vorüber ist, die Begeisterung für Erkenntnis und Aufklärung, dann zählt er seine letzten Pfennige … . Man kann eben nur auf Gnade hoffen, ach, wenn sie nur käme! Achijah hilf. Vielleicht an Pfingsten? Das Menschsein ist schon ein seltsam Ding … . Die Orthodoxen feiern erst jetzt Weihnachten – die traun sich was. Und… Mehr
Ja. Auch interessant, dass Selenskyj das für die Ukraine abschaffte – und nun mit dem Vatikan zu feiern oktroyiert. Manche kommen eh erst durch Schlamassel weiter – wenn man das Gleichnis vom verlorenen Sohn bedenkt – und der verlorenen Söhne und Töchter gibt es inzwischen Massen! Mir hat die Zeit insbesonders seit 2015 sehr geholfen, neue Standpunkte zu entwickeln – was ohne den Druck von außen so bzw. so schnell wohl nicht hätte stattfinden können. Und wenn ich das so sehe, war die uns zugemutete Politik seit Merkel nicht die Übelste – wenn ich aber auf das Ende sehe, dann… Mehr
Lieber Achija Zorn, vielen Dank für diese wunderbar klare und eindeutige Einordnung und Auslegung dieses Wortes der Jahreslosung. Es ist extrem erfrischend, wenn einem in diesen Zeiten Klarheit, Logik und dazu noch der gläubige Blick auf die Welt begegnen. Vielen Dank!!!
Das Wort der Jahreslosung zeigt zudem auf, was „konservativ“ ist, nämlich das Bewährte und Gute beizubehalten, immer wieder zu prüfen, aber wenn nötig auch Neues zu beginnen. Ein gesegnetes Neues Jahr Ihnen und der Mannschaft von TE!
Prüfen heißt auch… Selbstprüfung und setzt Sehenkönnen voraus.
Die Dinge, durch die man gewinnt und was man gewinnt, kommen nicht durch Worte, Diskussionen und Streit.
Bedenke jedoch: Im Anfang der Schöpfung war das Wort, der Logos. Vorher: Tohuwabohu. Und ER trennte Wasser und Land – hochintelligent, nicht wahr?
Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben / und das Leben war das Licht der Menschen.
Quatsch! Mit wem soll er denn am Anfang (per Wort!) geredet haben, wo es sonst niemand gab?
In der Bibel gibt es vieles, was im übertragenen Sinn zu verstehen ist. „Wer das Sagen hat“ …der bestimmt.
Ja. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.
Und am eigenen Tun beständig sich selbst…
„Prüfet alles Gute und behaltet das Böse“ 😉 – diee Devise der Menschen. Nein, der christliche Glaube Jesu fordert keinen naiven Glauben in die Zukunft. Der Glaube Jesu hat uns die Werkzuge an die Hand gegeben, unsere Zukunft selber zu gestalten, in der Verantwortung vor der Würde des Menschen und der Ethik Gottes. Das ist das besondere, was die Lehre Jesu von allen anderen Religionen der Weltgeschichte unterscheidet, was er ins Zentrum seiner Lehre stellt. Das Imperativ der Würde des Menschen, „ecce homo“, im Maßstabe Gottes. Ganz offenbar blicken aber auch viele Geistliche nicht über den Rand ihrer Katechismen hinaus.… Mehr
Sehr geehrter, lieber Herr Zorn, ich bin immer wieder beeindruckt von der Klarheit und Überzeugungskraft Ihrer Argumente. Wenn auch nur einer in den evangelischen Kirchenleitungen diese geistige und geistliche Vollmacht besäße!
Sehr gute Ausführungen. Der Autor beschreibt nicht nur die evangelische Kirche, sondern auch meine katholische. Selbstherrliche Besserwisserei, Verehrung falscher Propheten, Anbiederung an den Zeitgeist und versuchte Einmischung in die Politik gibt es auch bei uns bis zum Abwinken. Bis in die höchsten Ränge…
Schlimm zudem, dass sie meinen Gläubige diffamieren zu müssen und gegen sie hetzen – sie gar, so sie nicht mitmachen, aus ihrer Arbeit zu vertreiben bereit sind.
Die ganze Politik bis in die Wissenschaft fault inzwischen so vor sich hin:
THEM: The science is settled!
ME: Great, so we can defund your research, then?
THEM: …
https://x.com/WallStreetMav/status/1873535224161952163
Man wird sehen, was die Republikaner hinsichtlich dessen in Regierungsverantwortung bewerkstelligen können.