Ein Plädoyer für mehr Individualismus

Individualität ist Fakt; jeder Mensch ist einzigartig. Aber Individualität ist immer auch Ideal und Ziel der Persönlichkeitsbildung, weil Individualität jederzeit bedroht ist vom Druck der Gleichschaltung. Inwiefern spielt aber bei verschiedenen Nachtod-Erwartungen die Individualität eine Rolle?

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Die Mehrheit hat nicht immer recht. Eigentlich eine Binsenweisheit. Gefangen in den Fängen der Mächtigen oder getrieben von den eigenen Wunschvorstellungen, kann sich die Mehrheit in schreckliche Höhen versteigen. Die Geschichte ist voll davon. Die tief im Menschen wurzelnde Sehnsucht nach Dazugehörigkeit kann Menschen konformistisch verderben.

Darum ist es zentral wichtig, dass Individualität gefördert wird; in Pädagogik, in Kirchen, in Medien, ja auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Individualismus ist die Notwehr des Einzelnen gegen die Irrtumsmöglichkeit der Masse. Wenn Narrative sich uniformieren, dann müssen sich Menschen individualisieren.

Individualität ist Fakt; jeder Mensch ist einzigartig. Aber Individualität ist immer auch Ideal und Ziel der Persönlichkeitsbildung, weil Individualität jederzeit bedroht ist vom Druck der Gleichschaltung. Individualität ist gelebte Freiheit.

Es ist ein gesundes Zeichen für unsere Gesellschaft, dass es einen heiligen Rest an Individuen gibt, der eine verkorkste und undemokratische Wahl in Berlin nicht einfach achselzuckend hingenommen hat wie die Mehrheit der Medien und Untertanen.

Es ist ein gesundes Zeichen für unsere Gesellschaft, wenn Menschen nicht dem Trott der Mehrheitsmeinung folgen, sondern „querdenken“; und innerhalb unseres grundgesetzlichen Rahmens „quersprechen“, „querschreiben“ und „querhandeln“.

Es ist ein gesundes Zeichen für unsere Gesellschaft, dass demokratisch gesinnte Menschen bereit sind, sich politisch zu engagieren, selbst wenn sie dafür als „rechts“ diffamiert werden und Nachteile erleiden müssen.

Es ist ein gesundes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn Menschen dafür einstehen, dass bei dem Stichwort „Freiheit“ nicht an Windräder und andere „Freiheitsenergien“ (FDP) gedacht wird, sondern an aufrechte Bürger, die im lebendigen Meinungsstreit um den richtigen Weg ringen und dafür ihren Kopf hinhalten.

Wahres Menschsein und auch lebensförderliche Gemeinschaft geht niemals ohne Individualismus. An dieser Stelle möchte ich einen vielleicht überraschenden Schritt weitergehen und zum Totensonntag-Ewigkeitssonntag die Fragen stellen: Was für Vorstellungen haben die Menschen für die Zeit nach ihrem Tod? Und inwiefern spielt bei diesen Nachtod-Erwartungen die Individualität eine Rolle?

Lassen Sie mich auf drei Nachtod-Spekulationen eingehen:

1) Die erste weit verbreitete Nachtod-Erwartung betont, dass nach dem Tod nichts mehr kommt; der Friedhof ist der endgültige Abschluss unseres Lebens.

Hier erlaube ich mir die Anfrage, ob bei dieser Nachtod-Erwartung die Individualität des Menschen nicht unterbewertet wird, weil sie mit dem Tod einfach vergeht. Unsere Einzigartigkeit lediglich als ein Zufallsprodukt des Lebens ohne irgendeine Zukunft? Warum sollte dann aber dieses Zufallsprodukt Individualität eine wichtige Rolle im Leben spielen, falls sie gesellschaftliche Nachteile mit sich bringt?

2) Die zweite weit verbreitete Nachtod-Erwartung vertraut darauf, dass wir Menschen nach dem Tod wie Wassertropfen in dem Meer der geistigen Welt aufgehen werden. Unsere geistige Kapazität wird seine individuelle biographische Kontur verlieren und sich wieder anonymisiert mit der geistigen Transzendenz verbinden. Es gibt kein echtes Wiedersehen mit den vor mir Gestorbenen, den Geliebten. Unser Ich löst sich posthum auf in die Erhabenheit der Natur, in die ewige Ruhe oder in einen Kreislauf von Wiedergeburten hinein.

Hier möchte ich die Anfrage stellen, ob diese Nachtod-Vorstellung nicht eine individualitätsfeindliche Nuance hat. Ist der Mensch nach dieser Sicht geradezu darauf angelegt, sich in ein allgemein Höheres aufzulösen, um dort seine Erfüllung und Erlösung zu finden?

3) Die dritte Nachtod-Erwartung ist meine eigene christliche Hoffnung:

  • Mir wird in kompletter Andersartigkeit und Unvorstellbarkeit ein neues transzendentes Leben geschenkt (1. Korinther 15,44).
  • Mein neues Leben ist keine Folge meiner vermeintlich unsterblichen Seele, sondern einzig und allein ein Gottesgeschenk (1. Korinther 15,57).
  • Für mein verwandeltes und (durch Christus) versöhntes jenseitiges Leben wird die wunderbare Nähe Gottes zentral sein (Offenbarung 21).
  • Mein neues Leben behält trotz seiner kompletten Andersartigkeit eine individuelle und biographische Note, genau wie Jesus Christus sogar seine Nägelmale in seiner Auferstehung behalten hat (vgl. Johannes 20,27); dadurch darf ich mich auf ein Wiedersehen mit meinen Lieben freuen, auch wenn Gott in der ganz anderen Welt im Mittelpunkt stehen wird.

Ich persönlich lebe gerne in dieser christlichen Nachtod-Hoffnung. Wie die Liebe und wie die Freiheit kann ich sie keinem anderen Menschen beweisen. Aber ich kann sie leben und dabei merken, dass sie mein Leben bereichert. Und sie macht mir Mut, Individualität zu leben.

Denn wenn selbst Gott meine biographische Individualität in seiner Ewigkeit bewahren wird, warum sollte ich sie nicht schon hier und heute pflegen und entfalten? Meine Kraft, als Individuum gegen Konformismus und Gleichschaltung zu kämpfen, selbst wenn es gesellschaftliche Nachteile mit sich bringt, hat viele Quellen. Eine davon ist meine christliche Nachtod-Hoffnung.

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Kommentare ( 38 )

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friedrich - wilhelm
1 Jahr her

….ich werde über ihre christliche nahtoderwartung nachdenken als theologe und als kernphysiker! antwort später!
all the best von den inseln unter dem wind!

Last edited 1 Jahr her by friedrich - wilhelm
Talleyrand
1 Jahr her

Das „Ich“ ist unzerstörbar ewig und nicht identisch mit Leib und Seele, die dem zuzuordnen sind, was die Bibel als „Fleisch“ bezeichnet. Das Ich, die Person, oder wie immer man dieses tranzendente Phänomen auch mit hilflosen menschlichen Begriffen anzunähern versucht ist etwas, das die menschlich materielle Lebensform vorübergehend nutzt und steuert, auch wenn unsere materialistisch gestimmten Hirnforscher das niemals akzeptieren wollen. Wie soll es sonst funktionieren, dass „Ich“ entgegen meinen zeitlich hintereinander gestaffelten innerleiblichen und äußeren Mess- und Steuerimpulsen ein zeitgleiches Gesamtempfinden für zeitlich und räumlich auseinanderliegende Impulse habe? Und wo soll denn dieses aufsummierende Empfinden lokalisiert sein? Im Gehirn… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Talleyrand
Sidon
1 Jahr her
Antworten an  Talleyrand

„Und wo soll denn dieses aufsummierende Empfinden lokalisiert sein? Im Gehirn ist es jedenfalls nicht zu finden, dort gibt es keine Datenbank für so etwas.“
Tja, wo sitzt die sogenannte Seele, der Atem Gottes, der uns Menschen von Tieren unterscheidet? Ein Geheimnis. Und es heißt auch: „Wer Gott sehen will, muß sterben“.
Das LEBEN ist ein Abenteuer, aber das STERBEN auch!

TinaTobel
1 Jahr her

Ich würde mir wünschen, dass es die Vorworte zum Sonntag von Pfarrer Achijah Zorn in Buchform gäbe. Ich würde sie gerne noch einmal am Stück lesen und weiterverschenken, – an Christen, das Christentum, nach dem sie suchen, in ihrer Kirche oft nicht mehr finden.

Waldorf
1 Jahr her

Der zentrale Aspekt eines „Individualismus“ ist insbesondere in der christlichen Ethik der „freie Wille“ von jedem Einzelnen. Ein determinierter Mensch ohne freie Entscheidungen könnte auch nicht sündigen, da er nur ein „göttliches Programm“ abspult. Der freie Wille, zu jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit das richtige oder falsche zu tun oder zu unterlassen, ist auch weltlich die zentrale Voraussetzung für Kriminalität und schuldhaftes Handeln. Marxisten neigen zum determinierten Menschen, sprechen ihm schnell persönliche Schuld ab, vielmehr sei „das System“ schuld. Verbrecher werden von Marxisten gerne psychologisiert und für geistig krank erklärt. Aus Sicht Gott- und hoffnungsloser Kollektivisten eine durchaus konsequente… Mehr

Juergen P. Schneider
1 Jahr her

Die große Mehrheit unserer Mitbürger sind und bleiben Herdentiere. Individualität war den Deutschen schon immer suspekt. Die Corona-Panik-Pandemie hat die Herdeninstinkte vieler unserer Mitmenschen wieder einmal offen zu Tage treten lassen. Wohin wir gehen, wenn wir sterben? Wir reisen in ein Land, aus dem keine Reisender je zurückgekehrt ist (frei nach Shakespeare). Ein tiefer Glaube ist mit Sicherheit für den Gläubigen ein großer Trost. Mir fehlt diese Gewissheit. Ob noch etwas kommt? Ich lasse mich überraschen.

mindre
1 Jahr her
Antworten an  Juergen P. Schneider

Warum haben wir dann eine im Überfluss reiche Kulturgeschichte, vor allem des immer wieder neuen individuellen Ausdrucks?
Lesen, betrachten, diskutieren, begreifen, aufheben… es gibt so viel, dass ein Leben gar nicht ausreicht mehr als einen groben Überblick mit einigen Vertiefungen zu erreichen.
Ich erlebe diese Unerreichbarkeit als Tröstlich. Es ist Überfluss.

Klaus Decker
1 Jahr her

Sie haben mir aus der Seele gesprochen!
Ein Trost, dass es noch solche Geistliche gibt!

mitdenkerin
1 Jahr her
Antworten an  Klaus Decker

Da möchte ich mich anschließen und Danke sagen.
Und ergänzen: auch gesund und heil kann man nur individuell werden.
Einen hoffnungsvollen Sonntag allen!

mindre
1 Jahr her
Antworten an  Klaus Decker

Ja. „Geh aus mein Herz und suche Freud“, im Leben wie im Tod.

achijah
1 Jahr her

Peter Pascht: „Viele Menschen sind tot und merken es nicht :).“

Ich bin RECHTS
1 Jahr her

Ich persönlich halte Atheisten und Theisten für gleichermaßen unbescheiden.

Nur der Agnostiker („Ich weiß, dass ich nichts weiß und kaum das“) ist wirklich bescheiden und erkennt an, dass es jenseits seines minimalen Wissens bizarre Parallelwelten geben kann, ja wahrscheinlich sogar geben muss.

friedrich - wilhelm
1 Jahr her
Antworten an  Ich bin RECHTS

……es stand schon über dem tempel von delphi; gnoothi seauton!

Last edited 1 Jahr her by friedrich - wilhelm
Peter Pascht
2 Jahre her

Es war gerade der christliche Glaube, welcher erstmalig in der Geschichte der Menschheit, der Menschheit die Einmaligkeit der Individualität des Menschen gegeben hat. „ecce homo“ Es sind nur zwei Worte, die allerdinngs in der moderne Moralphilosophie den Begriff „Würde des Mensche“ geprägt haben. Das ist die Einzigartigkeit des Christlichen Glaubens unter allen Religionen der Menscheitsgeschichte. Das unterscheidet den christlichen Glauben von allen archaischen Religionen dieser Welt. Die ersten menschlichen Vorstellungen vom „Nachtod“ sind sogar schon beim Neandertaler nachgewiesen. Es war aber eher eine kontemplative Vision, dass die Würde des Menschen auch nach seinem körperlichen Tode, weiter besteht. Es waren in… Mehr

achijah
1 Jahr her
Antworten an  Peter Pascht

Ecce Homo im neuen Testament und schon die Frage Gottes „Adam, wo bist Du“ auf den ersten Seiten der Bibel zielen auf Individualität.

friedrich - wilhelm
1 Jahr her
Antworten an  achijah

..hier wird mal wieder alles divinitarisch – hoministisch durcheinandergewirbelt!

alter weisser Mann
1 Jahr her
Antworten an  Peter Pascht

„Es war gerade der christliche Glaube, welcher erstmalig in der Geschichte der Menschheit, der Menschheit die Einmaligkeit der Individualität des Menschen gegeben hat.“
Das wird von mir ganz stark bezweifelt.

Peter Pascht
2 Jahre her

„Nachtod-Erwartung ist meine eigene christliche Hoffnung“ Der christliche Glaube ist ein Glauben für das Leben, nicht für den Tod. Daraus ist die Individualität geboren, denn Jesus sagte: „ecce homo“ Wofür brauchen sie diese Hoffnung ? Um sich die menschliche Verzweiflung dem Tod nicht entrinnen zu können, schön zu reden? Wissen sie ob ihre Hoffnung sich erfüllen wird? Wissen sie ob ihre Hoffnung sich überhaupt erfüllen kann? Sie wissen es natürlich nicht. Ja noch schlimmer, sie wissen, dass sie es gar nicht wissen können, aber „hoffen“ trotzdem. Hoffnungen die sich gar nicht erfüllen können sind naiver Realitätsverlust. Bisher hat noch niemand… Mehr

achijah
1 Jahr her
Antworten an  Peter Pascht

Der christliche Glaube ist ein Glaube für das Leben und gerade auch deshalb ein Glaube für den Tod. – Ihren letzten Satz kann ich im Blick auf den auferstandenen Chrisus nicht unterschreiben, der zwar keinen Brief geschrieben hat, aber über 500 Personen als Auferstandener begegnet ist (so in 1.Korinther 15 von Paulus beschrieben).