Warum sind viele nicht offen für rationale Argumentation?

Im Konformismus gleichen sich Menschen an die herrschende Meinung an. Menschen gehen freiwillig in die Unmündigkeit und überlassen ihren Verstand der Leitung eines anderen, weil sie dadurch etwas Wichtiges gewinnen: Zugehörigkeit, Verbundenheit und Geborgenheit. Das ist ihnen wichtiger als Aufklärung, Selberdenken und Vernunft.

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Der Mensch ist mit Vernunft ausgestattet. Aristoteles sieht in der Vernunft die zentrale Eigenschaft, die den Menschen als „animal rationale“ über das Tier erhebt. Doch warum sind viele Menschen einer vernünftigen Argumentation gar nicht zugänglich? Warum erleben wir immer wieder, dass bei bestimmten Themen eine abwägende rationale Diskussion selbst zwischen gebildeten Menschen nicht möglich ist?

Die Bibel versteht den Menschen nicht primär von seiner Vernunft bestimmt, sondern von seiner Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe. Der Mensch will und braucht Geborgenheit. Dafür ist er bereit, vieles andere Wichtige zurückzustellen. Wenn Herr Mustermann einen Freundeskreis hat, in dem alle felsenfest davon überzeugt sind, dass X ein Y ist, dann wird Herr Mustermann sich dem anschließen. Er wird ebenfalls ein X für ein Y halten; ganz einfach weil er seinen Freundeskreis nicht verlieren will, der ihm Zugehörigkeit und Geborgenheit schenkt. Alle vernünftigen Argumente, dass X eben nicht Y ist, werden an Herrn Mustermann abprallen. Wenn es der Kameradschaft dient, dann hält der gute Deutsche noch im Januar 1945 unerschütterlich an dem „Endsieg“ fest. Und wenn es der Genossenschaft nützt, dann geht der DDR-Sozialist am 6. Oktober 1989 mit 100.000 Leuten und Erich Honecker in Berlin auf die Straße zu einem Aufmarsch gegen den Faschismus, obwohl die Risse im Staat bereits unübersehbar sind. Und wenn das eigene Milieu es will, dann spricht man 2024 voller Inbrunst von mindestens 75 menschlichen Geschlechtern. Der Mensch ist im Kern kein „animal rationale“ (Aristoteles), sondern ein „animal relationale“, ein Beziehungswesen (Die Bibel).

Darum ist Konformismus eine große Versuchung. Im Konformismus gleichen sich Menschen an die herrschende Meinung an. Menschen gehen freiwillig in die Unmündigkeit und überlassen ihren Verstand der Leitung eines anderen, weil sie dadurch etwas Wichtiges gewinnen: Zugehörigkeit, Verbundenheit und Geborgenheit. Das ist ihnen wichtiger als Aufklärung, Selberdenken und Vernunft. Konformismus ist der Versuch des Menschen, seinen Lebensdurst nach Anerkennung und Dazugehörigkeit gestillt zu bekommen. Emotional stabilisierender Konformismus ist stärker als Kants intellektueller Aufruf zur Aufklärung.

Selbst die Wissenschaft als Spitzenprodukt des „animal rationale“ kann dem Konformismus unterworfen werden. Dann ist Wissenschaft nicht mehr eine unaufhörliche Suchbewegung, sondern eine starre Größe, derer sich Menschen versichern können. Aus dem wissenschaftlichen Ringen, das im Zweifel für den Zweifel ist, wird die sichere wissenschaftliche Erkenntnis, die dem Menschen zu einer festen Burg wird. „Burg“ und „Geborgenheit“ hängen sprachlich zusammen. Eingefügt in die unhinterfragbare „Burgwissenschaft“ etwa über nebenwirkungsfreie Corona-Impfungen oder über die sichere Klima-Apokalypse erlebt der Mensch Stabilität, Dazugehörigkeit, Geborgenheit und Sinn. Die Zerstörung der echten Wissenschaft zugunsten einer konformistisch-sicheren Pseudowissenschaft dient der Geborgenheitssehnsucht des „animal relationale“.

Der jüdisch-christliche Glaube weiß um die Sehnsucht des Menschen nach Geborgenheit und bietet eine geborgenheitsschenkende Gottesbeziehung an. „Der Herr ist mein Hirte“, so wird Gott in Psalm 23 angebetet. Gott als der gute Hirte, der die menschliche Sehnsucht nach Wertschätzung, Zugehörigkeit und Geborgenheit zu stillen vermag. Doch jetzt kommt das Überraschende. Dem Bild des Hirten würde eigentlich das Bild der Herde entsprechen. Doch genau hier schert Psalm 23 aus. In Pslam 23 gibt es einen Hirten, aber keine Herde, kein Kollektiv und kein Wir:

„Der Herr ist MEIN Hirte, MIR wird nichts mangeln.
Er weidet MICH auf einer grünen Aue und führet MICH zum frischen Wasser.
Er erquicket MEINE Seele.
Er führte MICH auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ICH schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ICH kein Unglück.
Dein Stecken und Stab trösten MICH.
Du bereitest vor MIR einen Tisch im Angesicht MEINER Feinde.
Du salbst MEIN Haupt mit Öl und schenkest MIR voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden MIR folgen MEIN Leben lange; und ICH werde bleiben im Hause der Herrn immerdar.“

Im Konformismus gibt es Geborgenheit auf Kosten des Individuums. Konformisten „lügen bereits, wenn sie nur das Wort ‚ich’ sagen“ (Theodor W. Adorno).

Im jüdisch-christlichen Glauben geht Geborgenheit einher mit Aufrichtung und Stärkung des Individuums. Der Mensch wird befreit zum Individualismus, zur Fähigkeit, „ich“ zu sagen und „ich“ zu meinen, selbst wenn alle anderen es anders sehen. „Gott kennt das Individuum und nicht die Masse“ (Sören Kierkegaard).

Das Individuum in der Geborgenheit bei Gott kann dann sogar zum „animal rationale“ werden:

  • Geborgen in Gott braucht der Mensch nicht mehr einer fatalen konformistischen Pseudowissenschaft nachzulaufen, um Zugehörigkeit für seine Seele zu finden.
  • Geborgen in Gott kann Wissenschaft echte Wissenschaft bleiben, die eine abwägende Suchbewegung nach besseren Theorien ist. Geborgenheitsglaube ist kein Gegensatz zur Wissenschaft, sondern ein Turbo für echte Wissenschaftlichkeit. Glaube und Vernunft sind kein Widerspruch, sondern eine gegenseitige Bereicherung, sofern ich Glaube als befreienden Geborgenheitsglauben verstehe.

Leider haben Kirchen die Tendenz, die Herde und den Herdenkonformismus über den Hirten und die individuelle Beziehung zum Hirten zu stellen. Ein kirchlicher Konformismus im Interesse der Institution zerstört den Individualimus, den der gute Hirte schenkt. Kirchlicher Konformismus ist genauso übel wie jeder andere Konformismus. Das Vertrauen in den guten Hirten ist ein transzendentes Bollwerk gegen die Furcht vor Menschen und gegen kirchlichen und außerkirchlichen Konformismus.

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Kommentare ( 31 )

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Hannelore Wolf
9 Monate her

Mir scheint, das ist ein Unterschied von AT und NT. Schon die 10 Gebote sprechen ein DU an, kein IHR. Beim VATER UNSER geht es dann stets um UNS. Woher kommt dieser Unterschied? Von Paulus? Vom Ausspruch Jesu „wo zwei oder drei zusammen sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“? Sonst ist er das nicht? Auch in den Gottesdiensten geht es immer um „uns“, oder „wir bitten“. Man fühlt sich immer im Kollektiv angesprochen, was mir von jeher ein Graus war. Es gibt aber auch wunderbare Gebete, die wirklich das Individuum meinen: z.B. von Droste-Hülshoff „Ich bitte… Mehr

Johann Thiel
9 Monate her
Antworten an  Hannelore Wolf

Sehr interessanter Aspekt, den ich ähnlich sehe. Auch der von Ihnen zitierte Ausspruch Jesu, hat mir in gleicher Weise zu denken gegeben. Die Beziehung zu Gott kann nach meinem Empfinden nur individuell sein, niemals Kollektiv. Gleichwohl darf man dies nicht mit der Verbindung der Menschen untereinander durch den Glauben verwechseln.

Retlapsneklow
9 Monate her

Dem Menschen geht es laut Beitrag um Geborgenheit durch Zugehörigkeit und Verbundenheit, ferner um Anerkennung. Das spielt sicher eine Rolle. Mit anderen Worten, er möchte, dass es ihm gut geht, und er möchte Sicherheit, dem Richtigen, Erfolgversprechenden zu folgen, ob materiell oder menschlich/psychisch/seelisch. Weiterere Punkte: Der Mensch will… … dass etwas funktionert. Wenn etwas nicht funktioniert, geht es einem nicht gut. … etwas Gutes hinterlassen haben. (Kann sein, nur wegen Anerkennung, kann aber auch sein aus eigenem Antrieb ohne gleichzeitiges Anerkennungsbedürfnis). Ich lasse dahingestellt, ob alle Punkte für alle Menschen gleich stark gelten. Diese Einschränkung ergibt sich daraus, dass es Führer… Mehr

Alkouna
9 Monate her

Kein Wunder, dass Esoteriker so verteufelt werden. Menschen, die sich als Seele mit dem Universum verbunden fühlen, brauchen keine Partei als Geborgenheitsspender …

Deutscher
9 Monate her
Antworten an  Alkouna

Richtig. Dass der Mensch über Rationalität verfügt, heißt ja nicht, dass er sich ausschließlich rational verhalten darf. Davon abgesehen: Wie rational ist der Glaube an einen Sohn Gottes, der im Alleingang die Menschheit von irgendetwas erlöst hat, wovon niemand so genau weiß, was es eigentlich ist, der nach seiner Ermordung wieder lebendig wurde, vor Augenzeugen in den Himmel hinaufschwebte und seither der einzige Weg ist, der Hölle zu entgehen (die übrigens davor gar nicht existent war) und der eines Tages erneut von den Toten auferstehen wird, um mit allen Leuten mal so richtig abzurechnen? Ich meine – come on! Dagegen… Mehr

Last edited 9 Monate her by Deutscher
Retlapsneklow
9 Monate her
Antworten an  Deutscher

Wenn jemand etwas weiß, respektive wahrgenommen oder erlebt und verarbeitet hat, und ein Anderer nicht, kann der Andere Glaube oder Nichtglaube dann überhaupt durch Ratio (Vernunft, Verstand, Logik) entscheiden?

Woran will die Ratio da anknüpfen? An dem, was er nicht wahrgenommen hat? Oder an dem, was er wahrgenommen hat, das aber alles nicht das ist, worum es hierbei geht?

Walter Eiden
9 Monate her

Sehr schön anlysiert. Ist es denn im Umkehrschluß nicht eine, tief sitzende und ggfls.unbewusste, Angst vor dem Verlust der Geborgenheit,, der Dazugehörigkeit? Die Angst vor dem Ausgegrenztsein, der notwendigen phsysichen und psychischen „Selbstversorgung“ mit dem Risiko des Scheiterns!? Diese in jedem Menschen schlummernde Urangs, oftmals real und ausgewogen zum bestehenden Risiko aber eben do oft difus, unerklärlich und unangemessen,bestimmt weite Teile unsres Alltags. Jede Versicherung,jedes Anlagen eines Sicherheitsgurtes basiert auf Angst vor…… Wird nicht seit Jahrtausenden die Angst von den Machthabern zu Steuerung eingesetzt um die „Untertanen“ in den Schutz suggerierenden Konformatismus zu drängen? Schutz, den angeblich nur der Angstmacher… Mehr

Johann Thiel
9 Monate her

Ein ganz wunderbarer Text, lieber Achia Zorn. Glaube und Vernunft sind kein Widerspruch, Glaube und Wissenschaft ebenso nicht. Vielmehr ergänzen sie sich. Die Verbundenheit im christlichen Glauben, ist eine Verbindung der Menschen zueinander, die im Gegensatz zu weltlichem Konformismus ein Maximum an Freiheit im Leben ermöglicht.

Gabriele Kremmel
9 Monate her

Denkfaulheit im Schoße einer schützenden Sippe oder Gesellschaft ist ein natürliches Phänomen und nützt der Produktivität. Ändern sich die Voraussetzungen und kommt staatlich geförderte Desinformation dazu, werden die Erwachenden jedoch auf die falsche Fährte geführt und sie fangen nicht etwa an, nun selbst zu denken sondern sich für einen von mehreren Vordenkern zu entscheiden, den sie für glaubwürdig halten und dessen Interessen sie dann ungeprüft vertreten. Der Mensch hat es nur deswegen so weit geschafft, weil er sich organisieren kann, und zwar so, dass nicht alle ständig checken müssen, was im Revier los ist und sich so auf konstruktive Arbeiten… Mehr

Dr. Bomke
9 Monate her

Es liegt im angeborenen Charakter, ob der Mensch zum Konformisten oder eigenständig lebenden und denkenden Individuum wird. Eine Population besteht immer zum weitaus größeren Teil aus Beta-Tieren, denen, die sich unter das Kollektiv unterordnen. Der kleinere Teil sind Alpha-Tiere, die so etwas nicht zur Selbstbestätigung brauchen. Das Fatale in der westlichen Population war, dass uns – die Alpha-Tiere – der lange währende Wohlstand besäuselt hat. So dass wir als Gemeinwesen nicht aufgepasst haben, als sich viele Beta-Tiere im sozialistischen Gedanken zusammen schlossen und sich über die schiere genetische Überzahl in machtvolle Positionen brachten. An einem Punkt kippte es von der… Mehr

Biskaborn
9 Monate her

Hervorragender Artikel! Beispiele sind schnell gefunden: Konformismus aktuell bei den Aufmärschen gegen die AfD und in der Wissenschaft, die Wissenschaft glaubt einheitlich an den menschengemachten Klimawandel! Es wirkt sogar, AfD verliert Prozentpunkte und alle machen bei der Klimahysterie eifernd mit! Ziel der Herrschenden erreicht, eine konforme Masse wurde erzogen!

Peter Pascht
9 Monate her

„Warum sind viele nicht offen für rationale Argumentation?“ Weil sie es nie gelernt haben. Auch „Lernen“ muss gelernt sein. Das ist die grundlegendste Aufgabe von „Schule und Erziehung“, dem unser heutiges Schulsystem nicht mehr gerecht wird. Rationales Denken und rationales(folgerichtiges) Argumentieren muss gelernt sein. Es sind nur ganz wenige Menschen Autodidakten die das selber können. Unser Schulsystem und unsere freie Erziehung hat versagt !!! Der Kapitalismus mag keine denkende Menschen, denn die kann man nur schlecht Ausbeuten. sh. USA als negatives Beipsiel. Autoritäre „Disziplin“ geht bei uns vor Freiheit des Denkens, denn „Ordnung“ muss ja sein(sic). Wobei es immer nur… Mehr

Last edited 9 Monate her by Peter Pascht
Dieter
9 Monate her
Antworten an  Peter Pascht

ich bin meiner Schule (übrigens „bischöflich“..) und meinem Elternhaus sehr dankbar dafür, das sie mir nicht nur Wissen vermittelt, sondern vor allem auch das Lernen an sich beigebracht haben. Und das ich noch zu den glücklichen gehören darf, die im universitären Umfeld gelernt haben, das man immer, und gerade auch, andere Meinungen, Positionen, Argumente anhören muß um durch die verschiedenen Blickwinkel überhaupt einen möglichst objektiven Blick auf das Objekt finden zu können. Dazu ein wenig von Kant´s kathegorischem Imperativ. Leider erkennt man dann auch den Niedergang der Diskussionskultur und stößt des öfteren auf blanken Hass, wenn man jemandem den Spiegel… Mehr

Last edited 9 Monate her by Dieter
merkelinfarkt
9 Monate her

Vielen Dank! Ein hervorragender Artikel! Die für mich bisher schier unverständliche, sture, politische Dummheit und Blindheit vieler ansonsten doch durchaus intelligenten und gebildeten Freunde und Bekannten, die sich nicht nur in angepassten Lippenbekenntissen und Stummheit, sondern auch in den Wahlkabinen zeigt, wird hier – wie ich meine richtig und nachvollziehbar – auf die evolutionären basics menschlichen Tuns zurückgeführt und erklärt. Erhellend.

Last edited 9 Monate her by merkelinfarkt