Danke für die Wiedervereinigung

Was wären wir „Wessis“ ohne die Menschen mit dem feinen Gehör? Ohne all die, die gelernt haben, auf die falschen Töne zu achten, die empfindlich sind, wenn es um die Meinungsfreiheit geht und wenn der „Korridor des Sagbaren“ immer enger zu werden scheint.

IMAGO/epd

An meinen Freunden, die Erfahrungen mit dem „realexistierenden Sozialismus“ haben, schätze ich ihre extreme Empfindlichkeit. Man kann sich auf ihr feines Ohr und ihr Gespür verlassen. Sie werden hellwach, wenn sie autoritäre Anwandlungen wittern oder den Versuch, Freiheitsbeschränkungen mit Höherem wie dem Volkswohl (wahlweise der Klima- oder Weltrettung) zu legitimieren. Ralf Schuler und Roger Letsch, Alexander Wendt und Vera Lengsfeld sind geschult im Entlarven von Doppeldenk und Doppelsprech, auch wenn die Propaganda heutzutage nicht, wie zu DDR-Zeiten, mit dem Holzhammer, sondern auf Samtpfötchen als nettes „Nudging“ daherkommt. Auf Monika Maron, Günter Weißgerber, Susanne Dagen und Uwe Tellkamp, aber auch auf Wolfgang Thierse und Arnold Vaatz ist Verlass: Sie riechen den faulen Dunst.

Jan Josef Liefers hat ein ebenso feines Näschen. Sein Beitrag zur Schauspieleraktion #allesdichtmachen persiflierte die willige Gefolgschaft, die Medien und „Kulturschaffende“ der Maßnahmenregierung leisten, mit einer Reminiszenz an die devoten Rituale in der DDR. Erst musste man der Obrigkeit brav danke sagen, bevor man es wagen durfte, „konstruktive Kritik“ zu üben, stets in Gefahr, hernach als Quertreiber oder Konterrevolutionär geächtet zu werden. Zweifeln durfte man damals wie heute nicht, verzweifeln schon.

Doch Zweifel ist die Triebkraft freiheitlicher Gesellschaften, sagt Ralf Schuler, (noch) Leiter der Parlamentsredaktion bei der Bild-Zeitung, aufgewachsen in Ostberlin, ein Jahr jünger als Jan Josef Liefers.

Deshalb: danke für die Wiedervereinigung! Was wären wir ohne die Menschen mit dem feinen Gehör? Ohne all die, die gelernt haben, auf die falschen Töne zu achten, die empfindlich sind, wenn es um die Meinungsfreiheit geht und wenn der „Korridor des Sagbaren“ immer enger zu werden scheint? Was wären wir ohne die Diktatur-Erfahrenen, die wissen, wie sich das anfühlt, wenn die Freiheit eingeschränkt wird? Was wären wir, wenn heute nur noch die das Sagen hätten, die damals die DDR für das bessere Deutschland gehalten haben, wie etwa Olaf Scholz?
Moment – da war doch noch was …

In der Tat. Es sieht wie ein einsamer Rekord aus, dass er zwischen 1983 und 1988 neunmal zu offiziellen Gesprächen mit FDJ und SED einreiste, bevorzugt behandelt beim Grenzübertritt. Über die inoffizielle Zusammenarbeit kann man nur spekulieren. Ich denke nicht, dass er wiedervereinigt werden wollte.

Doch damit war er nicht allein, wahrlich nicht. Zu den traurigsten Genossen vor nunmehr über dreißig Jahren gehörten die westdeutschen „Intellektuellen“, die sich ihre heile DDR nicht kaputtmachen wollten. Was haben sie damals gezetert, die „intellektuellen Hehler“ (Arnold Vaatz über Walter Jens, Günter Grass, Günter Gaus u.a.), die die deutsche Teilung als gerechte Strafe für Auschwitz aufrechterhalten wissen wollten. Und die der DDR zugutehielten, dass sie ja „antifaschistisch“ gewesen sei. Einige von ihnen waren im Westen im Auftrag der SED unterwegs. Aber viele musste man nicht für ihr Engagement verpflichten oder gar entlohnen.

Noch 1986 zeigte sich der damalige Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, hellauf begeistert von den Potemkinschen Dörfern, durch die er gelotst wurde: „Sie (die Menschen) glauben an das, was sie sehen: die Aufbauleistung ringsum, ihren verbesserten Lebensstandard, die Geborgenheit auch, die ihnen ihr Staat bei allen Kümmerlichkeiten und Kümmernissen bietet, die menschliche Wärme.“

Die menschliche Wärme, genau, gegen die „soziale Kälte“, für die man sich in der Bundesrepublik an die Brust schlug. Dass es im Westen Deutschlands den „Entfremdungstendenzen des Kapitalismus“ zu wehren gelte, der „Ellenbogengesellschaft“, der sozialen Kälte des „Konsumismus“, galt als ausgemacht. Dagegen die DDR!

Nun, es ist eigentlich klar, dass es in einer Tauschgesellschaft kuscheliger zugeht. Wo man einen Gegenstand oder eine Dienstleistung ohne Verhandlungsgeschick oder gute Laune, sondern schlicht und ergreifend gegen Geld erwerben kann, verliert der soziale Akt des Tauschgeschäfts seinen Charme und seine Bedeutung. Er verliert aber auch seine Zwanghaftigkeit. Nüchtern betrachtet, war die soziale Wärme der DDR eine Zwangsjacke der Gemeinschaft, nicht der Gesellschaft oder der Geselligkeit.

Doch immerhin! Die DDR war antifaschistisch!

Wenn es denn irgendeine von einer Mehrheit anerkannte DDR-Identität gäbe, dann läge sie womöglich hier – im antifaschistischen Anspruch, mit dem sich die Diktatur legitimierte und womit die SED-Propaganda die „gutwilligen Kreise“ der BRD zum Schulterschluss zwang.

Dieser Mythos ist heute lebendiger denn je. Wo der „Kampf gegen Rechts“ als größte und wichtigste Aufgabe gilt, sind die Schlägertrupps der selbst erklärten „Antifa“ nicht nur das kleinere Übel, sondern geradezu Bundesgenossen, etwa der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass nicht die BRD die DDR „kohlonisiert“ hat, sondern dass, umgekehrt, die DDR dabei ist, den Sieg davonzutragen.

Einspruch? Klar. Natürlich kann man das vereinte Deutschland nicht mit der DDR gleichsetzen. Doch wer den Ruf „Wehret den Anfängen!“ ernst nimmt, sollte das auch jetzt tun. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es derart massive Eingriffe in die Grundrechte der Bürger gegeben. Nur zu ihrem Schutz? Grundrechte heißen so, weil sie nicht verhandelbar sind, egal, wie edel das Motiv für ihre Einschränkung sein mag. Edel sind alle Motive totalitären Handelns, stets will man das Beste für die Menschheit, das Klima oder gleich die ganze Welt – und dafür seien alle Mittel recht.

Insofern: Ohne die Spürnasen mit DDR-Hintergrund würde ich mich einsam und verloren fühlen im Neuen Deutschland. Danke für die Wiedervereinigung.

Von Cora Stephan ist gerade erschienen:
Im Drüben fischen. Edition Buchhaus Loschwitz, dresden

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Kommentare ( 21 )

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Reinhard Schroeter
2 Jahre her

Wenn ich bis zur Wahl einer Bolschewistin ins Bundeskanzleramt durch meine Landleute von jenseits der Elbe -die Wahlen werden im Westen entschieden – geglaubt habe, dass es kaum einen Unterschied im Handeln und Denken von Rügen bis zur Zugspitze gibt, hat mich diese Wahl und alles was danach kam eines Besseren belehrt. Da war der Schwachsinn der Bahnhofsklatscher 2015 auf Bahnhöfen in Westdeutschland. In Mitteldeutschland suchte man diese Schwachmaten vergeblich. Die Coronahysterie hat in eben diesen Mittedeutschland niemals de Aussmasse angenommen, wie jenseits der Elbe,wo noch immer viele inbrünstig mit Maulkorb rumrennen. Wir Mitteldeutschen zeigen dagegen schon seit über einem… Mehr

AlNamrood
2 Jahre her

Als Wessi der 88 geboren wurde muss ich festhalten dass das Ossi/Wessi Denken nur noch in den Köpfen der Boomer und GenX existiert. Ich kenne in meiner Generation niemanden der Vorurteile in dieser Hinsicht hat.

Wilhelm Roepke
2 Jahre her

Danke nicht nur den Ossis für die sensiblen Näschen, sondern auch den europäischen Nachbarn: den Italienern für Giorgia Meloni, den Schweden für die Demokraten, den Dänen für ihre Sozis, den Polen für ihre Kohle, den Franzosen für ihre Atomkraftwerke, den Schweizern für freie Presse und Fluchtwährung, den Österreichern für flexiblen Pragmatismus, den Tschechen für Klartext, den Ungarn für Patriotismus, den Briten für Widerstand gegen EU-Zentralismus, den Iren für Steuerwettbewerb, den Isländern für too-big-to-fail-gibt-es-nicht, den Finnen für Wehrhaftigkeit mit Sauna, den Balten für ich-David-Du-Goliath, den Niederländern und Norwegern für Erdgas, den Griechen für Grenzschutz und den Spaniern für LNG-Terminals.

Egon Rudel
2 Jahre her

Auf der einen Seite die DDR kritisieren, befürchten, dass sie in den Westen übergeschwappt sein könnte, aber die DDR-Bürger davon trennen und als heutige Retter der westlichen Demokratie überhöhen? Ich kann solche geistigen Verrenkungen nicht mehr hören. Die DDR-Bürger haben die DDR gelebt, sie war ihr Land, sie haben dieses gestaltet, sich mit diesem identifiziert und jeden und alles ausgemustert, das der DDR-Propaganda widersprach. Und damit waren die jahrelang beschäftigt, bis zuletzt jeder jedem misstraute und jeder jeden gehasst hat. Und die Ostdeutschen unterscheiden sich kaum von den DDR-Bürgern, weil sie zumeist ihre DDR-Blase weiterhin vehement verteidigen. Sie fühlen sich… Mehr

Ein Mensch
2 Jahre her
Antworten an  Egon Rudel

Sie haben mal so gar keine Ahnung vom Leben in der DDR. Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster und behaupte sie sind in der alten BRD geboren. Menschen wie sie sind der Hauptgrund dafür dass es keine wirkliche ,,Wiedervereinigung“ gegeben hat. Sie tun so als wenn sie Alles wissen, aber in Wirklichkeit haben sie keine blasse Ahnung von was sie reden.
PS: Ich habe die persönliche Anrede bewußt klein geschrieben.

Urbanus
2 Jahre her

Gera (93.000 E.) am 03.10., waren 10.000 Leute auf der Straße ! Der Ossi ist wach, sehr wach und das ist gut so.

Index
2 Jahre her

Zustimmung, Frau Stephan! Ich danke zudem den vielen Demonstranten dort! Von deren „Mut zur Straße“ können wir Wessis uns ’ne Scheibe abschneiden – eine ganz, ganz dicke Scheibe.

89-erlebt
2 Jahre her

Mit der Machtergreifung Merkels (über unerwartet hohen Brief Wahl Anteil) 2005 war mir klar, dass sich Bärbel Bohleys Vorhersage aus 1991 … es wird alles wiederkommen .. bewahrheiten wird. Merkel – das Aushängeschild des Trojanischen DDR Pferdes. Wer bitte hat die Enteignung der SED verhindert – Merkels Club der Unfähigen. Dessen zerstörerische Spur führt bis zur heutigen Zerstörung durch schwarz/rot/grün.
Die Saat, von der Margot Honecker 89/90 sprach ist aufgegangen und zerfrisst die BRD von Schmidt und Kohl unwiederbringlich.

Johann Thiel
2 Jahre her

Wie naiv und selbstbetrügerisch Intellektuelle ganz im allgemeinen sind, belegt wunderbar dieser Artikel, so dass man am liebsten zwischen Wessis und Ossis noch die Kategorie der, wie soll man sie nennen, „Intellektis“ aufmachen möchte. Während also die Wessis nie verstanden haben was die DDR überhaupt ist, weil sie nie die Gelegenheit zu dieser Erfahrung hatten, haben die Ossis die Bonner Republik aus gleichem Grund nicht verstanden, da diese mit der Wiedervereinigung bereits verschwunden war. Die dritte Gruppe der „Intellektis“ haben typischerweise weder das eine noch das andere verstanden. Nur so erklärt sich, nicht nur Cora Stephans Beweihräucherung der Ossis, die… Mehr

Gabriele Kremmel
2 Jahre her

Man muss dazu keine Diktaturerfahrung haben. Wer seine Freiheit liebt und die letzten Jahrzehnte aufmerksam die kleinen Meldungen in den Tageszeitungen verfolgt hat, konnte früh beobachten wie sich die Grenzen der offenen Debatte hin zum hinterhältigen Manipulieren verschoben haben, bis es zuletzt in offene Rechts- und Freiheitsbrüche mündete, die inzwischen normal geworden sind und nachträglich von dysfunktionalen Kontrollorganen legitimiert werden. Für jene, die die Demokratie als selbstverständlich sahen, waren die ersten Anzeichen bereits in den früheren 2000ern in zunehmenden Kampagnen „für Demokratie“ und zur Rettung der Demokratie zu sehen, wo Demokratiebedrohung in das Bewusstsein der Bevölkerung gebracht und Demokratiefeinde suggeriert… Mehr

Tesla
2 Jahre her

Es entbehrt nicht einer gewissen bittertrüben Ironie, dass ausgerechnet diejenigen, die früher am heftigsten gegen diese Wiedervereinigung waren, und die heute die Gesellschaft am meisten spalten, die „Wiedervereinigung“ heute am ausgiebigsten im öffentlichen Rampenlicht feiern. Kann man das eigentlich auch schon als „kulturelle Aneignung“ sehen?

Last edited 2 Jahre her by Tesla