Nur noch rund 20 Prozent würde die SPD bei Bundestagswahlen bekommen. Ein Desaster. Vor allem dann, wenn man sich vor Augen hält, dass die bis zu 40 Prozent der bei den Polls Befragten, die keiner Partei eine Präferenz geben, schlicht ausgeblendet werden.
Wer also sollte der SPD für diese Neuerung dankbar sein? Klüger wäre es gewesen, wenn die SPD sich der Ruhestandsproblematik grundsätzlich angenommen hätte. Die starre Altersgrenze wird nicht nur von denen, die noch bis zu diesem Alter arbeiten müssen, als Belastung empfunden – sie wird zunehmend mehr auch von jenen rüstigen Menschen abgelehnt, die gern weiter ihrer Berufung beruflich folgen möchten, um damit Rentenanspruch und Rentenzahlung weiter aufzustocken. Statt sich die Frage zu stellen, wie zeitgemäß die aus Zeiten der frühen Industriearbeit stammende starre Altersgrenze noch ist und das Rentensystem grundsätzlich auf neue, zukunftsfähige Beine zu stellen, klammert sich die SPD an überholte Traditionen. Für den Wähler bedeutsam allerdings ist am Ende nur das, was Norbert Blüm dereinst in seinem unübertrefflichen Optimismus verkündete: „Die Rente ist sicher!“ Dass sie dieses nicht mehr ist, hat auch Otto Normalmensch längst verstanden – und hofft auf grundlegende Antworten statt auf Vermehrung der Anspruchsberechtigten.
Das Integrationsgesetz
Aktuell feiert die SPD das von ihr geforderte Integrationsgesetz. Unstrittig: An einem solchen Gesetz kommt die Bundesrepublik nicht mehr vorbei. Aber auch hier gilt: Wer, der es nicht ohnehin schon getan hat, sollte deshalb die SPD wählen? Diejenigen, die wegen einer unkontrollierten Einwanderung aus Nordafrika und Zentralasien Angst um „ihre“ Republik haben, werden darin nur einen weiteren Angriff auf ihre eigene Lebenswelt sehen. Jene, die einer ungehinderten Einwanderung – aus welchen Gründen auch immer – das Wort reden, waren ohnehin schon bei den Grünen oder der SPD. Wird deshalb ein Wähler von den Grünen zur SPD gehen? Kaum. Gesamtgesellschaftliche Verantwortung in einem sinnvollen „Integrationsgesetz“, welches auch die exekutierte Ausweisung nicht integrationswilliger Zuwanderer regelt, ist das eine. Daraus neue Wähler zu generieren oder verlorene Wähler zurück zu holen, das andere.
Die Subventionierung von E-Autos
Die von der Koalition beschlossene Subventionierung von E-Autos ist unter dem Strich nichts anderes als ein staatlicher Eingriff in die marktwirtschaftlichen Prinzipien. Es ist nicht Aufgabe des Steuerzahlers, einer Automobilindustrie, die möglicherweise die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, ihr marktwirtschaftliches Versagen zu subventionieren. Wenn es überhaupt ein solches ist – denn der Markt entscheidet, was gekauft wird und was nicht. Wer kein E-Auto haben will, wird es sich auch nicht kaufen, wenn es subventioniert wird. Wenn „der Staat“ hier etwas hätte machen wollen, dann wäre die Erleichterung der Einrichtung von E-Tankstellen der Weg gewesen – nicht die Verbilligung eines Ladenhüters. Zusätzliche Wählerstimmen generiert man damit nicht.
Der bildungspolitische Selbstbetrug
Es war immer ein Hauptanliegen sozialdemokratischer Träume, dem Arbeiterkind dieselben Bildungschancen einzuräumen wie dem mit dem goldenen Löffel im Mund geborenen Klassenfeind. Statt nun aber gezielt Wege zu ebnen, das tatsächlich leistungs- und bildungsfähige Kind aus armem Elternhaus zum akademischen Abschluss zu fördern, rettete sich die SPD in den bildungspolitischen Selbstbetrug. Verliebt in die Statistik wurde Bildungsförderung durch Senkung von Bildungsstandards ersetzt mit der Folge, das Abitur zum modernen Hauptschulabschluss zu machen. Das Arbeiterkind, das es dennoch nicht bis zum Abitur schafft, hat heute nicht einmal mehr die Chance, über einen Mittelschulabschluss eine kaufmännische Karriere zu machen. Alles unter Abitur ist nichts – und so wurde das Abitur von der Hochschulqualifikation zur Massenware ohne wirklichen Wert. Der Traum der Underdogs, durch Leistung die Lebenssituation der Elterngeneration zu überwinden, wurde zum Muster ohne Wert. Eine Schar nur noch mäßig qualifizierter Abiturienten nimmt den immer noch weniger Qualifizierten die adäquaten Arbeitsplätze weg und schickt die in das Prekariat. Wer sollte diese faktische Umkehrung des proletarischen Aufstiegstraums der SPD danken – und warum?
Rumgeeier bei TTIP
Ein besonders krasses Beispiel ist das Rumgeeiere der SPD bei TTIP. Es zeigt exemplarisch das eigentliche Problem der SPD auf.
SPD-Chef Sigmar Gabriel weiß mit dem Kopf, dass ein vernünftiges TTIP-Abkommen den deutschen Wohlstand nicht nur sichern, sondern mehren könnte. Deshalb will er dieses Abkommen. Sein Bauch aber – der auch der Bauch der alten Tante SPD ist – will dieses Abkommen nicht. Egal, was am Ende darin stehen wird. Hier obsiegt der tief in den sozialdemokratischen Genen verankerte Anti-Kapitalismus, der gleichzeitig ein Anti-Marktismus und damit ein Anti-Amerikanismus ist. Dabei hilft auch nicht, dass die Umwelt- und Gesundheitsstandards der USA in nicht wenigen Fällen weiter sind als die unserer Republik. Das Gegrummel im Bauch kämpft mit dem Kopf – und wird am Ende obsiegen.
Das Grundproblem der SPD – nicht regierungsfähig
Das TTIP-Dilemma offenbart das Grunddilemma der SPD. Der Blick in die Geschichte zeigt: Die meiste Zeit war sie Opposition. Im Kaiserreich ohnehin. In der Weimarer Republik war die SPD nur in den Jahren von 1919 bis 1921 an der Regierung beteiligt. Damals erlebte sie genau das, was ihr gegenwärtig zustößt – sie schrumpfte zusammen.
Erst in der Bundesrepublik konnte die SPD sich als Regierungspartei etablieren. Eine damals wirklich noch Große Koalition ebnete 1966 den Weg in die Regierungsverantwortung. Diese endete erstmals 1982, um dann von 1998 bis 2009 und seit 2013 erneut in diese genommen zu werden. Der Niedergang ist wie in der Weimarer Republik die Quittung
Die SPD ist für Utopien zuständig
Die Gründe für diesen Niedergang sind im Grunde recht simpel: Die SPD ist keine Regierungspartei. Sie startete im 19. Jahrhundert als eine Partei der ganz kleinen Leute, die deren Hoffnungen und Wünsche auf ein besseres Leben bündelte und vertrat. An dieser sozialistischen Grundausrichtung hat sich nie etwas geändert: Die SPD war und ist die Partei der Träumer von einer besseren Welt. Als solche war sie in der Opposition überaus erfolgreich. Sie hat aus der Opposition heraus Träume wahr werden lassen, von denen ihre Gründungsväter niemals zu träumen gewagt hätten. Umfassende Arbeitnehmerrechte, maßgebliche Beteiligung der Lohnabhängigen an Weltunternehmen, die Chance, selbst in solchen Unternehmen – bis hin zu erzkapitalistischen Unternehmungen wie Mercedes-Benz – ganz an die Spitze vordringen zu können. Ob Hartz oder Steinkühler – sie sind der wahr gewordene Traum des kleinen Mannes, selbst bis ganz nach oben zu kommen.
Mit dieser Sozialdemokratisierung der Republik aber kam auch die Verantwortung. Wer Verantwortung für ein Gemeinwesen übernimmt, dessen Träume verblassen jedoch recht schnell. Denn wenn aus der fernen Utopie die Bewältigung der Gegenwart wird, scheitern Visionen schnell am Pragmatismus. Keiner entzauberte hierbei die Möglichkeiten der SPD derart offensichtlich wie Helmut Schmidt mit seiner Aussage, wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen. Denn das war nichts anderes als das Eingeständnis des zum Scheitern-verdammt-Sein seiner SPD, wenn sie in die Regierungsverantwortung geht. Schmidt musste dieses bei seinem eigenen Scheitern selbst erleben. Es war nicht die christdemokratische Opposition und es war auch nicht der „Verrat“ der FDP, die Schmidt aus dem Kanzleramt jagte – es war der unlösbare, innere Widerspruch der SPD, der Schmidt scheitern lassen musste. Er, dem zurecht eine verantwortungsvolle Politik für das Gemeinwesen Bundesrepublik zugesprochen wird, musste seinen sozialdemokratischen Träumern von einer besseren Welt den Zahn ziehen. Das misslang, weil es misslingen musste.
Der fundamentale Unterschied zwischen Links und Rechts
Wer wie die SPD davon lebt, die Träume der einfachen Menschen leben zu wollen, der kann dieses glaubwürdig nur aus der Opposition heraus tun. Die große Leistung der SPD sind weder die Ostverträge – die wären auch unter einem Kanzler Rainer Barzel gekommen – und nicht all die kleinen und großen Eingriffe in die Sozialpolitik, mit denen die SPD Stück um Stück die Träume der kleinen Leute Wirklichkeit werden lassen wollte und doch immer nur kleine Teilgruppen ihrer klassischen Klientel erfasste. Das eigentliche Verdienst der SPD ist es, aus einer Rolle der verantwortungsbewussten Opposition heraus die Regierenden ständig dazu gezwungen zu haben, den Wohlstand der kleinen Leute zu mehren um so den sozialen Frieden zu gewährleisten.
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen den christdemokratisch-sozialen und freidemokratischen Parteien auf der einen und den linken Parteien auf der anderen Seite. Die sogenannten bürgerlichen Parteien haben ihren Machtanspruch, ihren Willen, den Staat zu führen, immer deklariert. Deswegen entwickeln sie kaum Utopien – und werden auch nicht deshalb gewählt. Sie bekommen die Unterstützung des Bürgers, weil dieser genau diesen Führungsanspruch erwartet und mit dieser Erwartung den Anspruch verknüpft, pragmatisch und im Sinne des Gemeinwohls regiert zu werden.
Linke Parteien aber werden gewählt, weil der Wähler damit seine persönlichen Utopien auf eine bessere Zukunft, auf jene immer wieder postulierte „Gerechtigkeit“ – die er sich letztlich ganz persönlich und individuell definiert – verknüpft. Diese Utopien aber kann keine linke Partei, wenn sie tatsächlich in die Regierungsverantwortung kommt, realisieren. Darin und in nichts anderem liegt das Urdilemma der Sozialdemokratie. Sie kann ihre Wählerschaft nur so lange binden, wie sie als Nicht-Regierungspartei Träume artikulieren und befördern kann. Nur dann wird jedes Durchsetzen selbst kleinster Teilträume zu einem Erfolg der SPD – und sie wird weiter gewählt werden weil immer noch genug Träume vorhanden sind, um derentwillen der Bürger die SPD unterstützen kann.
In der Regierungsverantwortung jedoch kehrt sich die Realisierung des kleinen Teiltraumes in das Gegenteil – denn er wird niemals ausreichen können, um die großen Träume der sozialdemokratischen Wähler Wirklichkeit werden zu lassen – weil sie als Utopien eben immer Träume bleiben müssen und immer neue Träume entstehen, an denen man sich festzuklammern sucht.
Deshalb auch sind die Jusos eigentlich jene, die immer wieder neue Träume definieren und damit Erwartungen wecken, die die Alt-Sozis in der Regierung niemals erfüllen können. Die SPD wird damit in den Augen ihrer Wählerschaft zu einem unglaubwürdigen Papiertiger, der nicht hält, was er verspricht. Mit diesem permanenten Widerspruch aus sozialistischen Träumereien und regierungspragmatischer Notwendigkeit entzaubert sich die SPD. Das tat sie in der jungen Weimarer Republik – und sie tut es gegenwärtig, indem es die Träumer verprellt, verprellen muss.
Ein systemisches Problem
Dennoch kann der SPD an dieser zwangsläufigen Entwicklung letztlich nicht einmal die Verantwortung zugewiesen werden. Denn dahinter steht nichts anderes als ein systemisches Problem.
Im Kaiserreich gab es eine klare Gewaltenteilung. Der Kaiser berief die Regierung – sie bestand vorrangig aus erfahrenen Persönlichkeiten mit langjähriger Verwaltungserfahrung und ohne erkennbare Parteizugehörigkeit. Als Exekutive vertrat diese Regierung eine eher konservative, pragmatisch-utopiefreie Politik. In einer solchen Situation konnte die Sozialdemokratie ihre absolute Wirkkraft entfalten – eben weil sie als Opposition diejenigen Utopien entwickelte, mit denen sie die Regierung vor sich hertreiben konnte. Im Kaiserreich war die SPD das, was vor vierzig Jahren die Grünen waren und heute die AfD ist: Der Stachel im Fleisch der Etablierten. Nur war die SPD damals deutlich radikaler – was ihre bis heute wirkende Abneigung gegen das Kaiserreich erklären hilft.
Mit der Abschaffung der Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament ab 1919 aber wurde die Parlamentarische Tätigkeit automatisch auch zu einem Karrieresprungbrett in ein künftiges Regierungsamt. Ganz selbstverständlich wird in unserer Republik die Opposition als Regierungsalternative verstanden. Damit aber gehen nicht nur die oben ausführlich geschilderten Probleme einher – der Parlamentarier verliert auch seine ursprüngliche Funktion. Denn vom Kontrollorgan der Regierung wird er selbst zum Teil derselben selbst dann, wenn keine Vertreter seiner Partei an der gegenwärtigen Regierung beteiligt sind. Doch das Streben des Politikers richtet sich eben immer darauf aus, vielleicht selbst eines Tages in der Regierung zu sitzen. Das ist bei der SPD so – und mittlerweile nicht minder bei Grünen und der PdL. Wer aber seine parlamentarische Tätigkeit – und sei es nur unbewusst – mit dem Ziel der eigenen Regierungstätigkeit verknüpft, der verliert seine Kritikbereitschaft gegenüber der Regierung spätestens dann, wenn diese von der eigenen Partei gestellt wird. Wir können dieses Phänomen landauf-landab beobachten – und es ist die eigentliche Ursache dafür, dass scheinbar unerwartet und letztlich doch absehbar Bewegungen wie die AfD entstehen, die in Radikalopposition nun die Wünsche und Hoffnungen der kleinen Leute sammeln, welche sich durch ihre früheren Traumwerkstätten verraten fühlen.
Zurück zur strikten Gewaltenteilung?
So bleibt am Ende dieser Feststellung eigentlich nur die Erkenntnis: Die beste Überlebenssicherung der SPD wäre es gewesen, das politische System des von ihr so verschmähten Kaiserreichs auf ewig zu behalten. Denn dann hätte sie auf ewig die Träume der kleinen Leute als eigene vorantreiben können.
Eine immer noch vielleicht vorstellbare Überlebensmöglichkeit wäre es, den fast schon automatischen Übergang vom Parlamentarier zum Regierungsmitglied zu verunmöglichen: Eine Exekutive der Technokraten, die sich in ständiger, konstruktiver Konfrontation mit der Legislative befindet.
Die Realität aber spricht dagegen. Denn die SPD ist seit spätestens Mitte der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts ebenso wie die unutopistischen Parteien der damals rechten Mitte zum selbstverständlichen Karrieresprungbrett in höchste Staatsämter geworden. Weil sie aber den damit verbundenen Spagat zwischen Traum und Wirklichkeit niemals wird bestehen können, befindet sie sich derzeit in einem heftigen Abwärtsstrudel. Ihre einzige Chance wäre der schnellstmögliche Regierungsaussteig und der dauerhafte Selbstverzicht auf Regierungsbeteiligung. Das aber werden all jene, die heute in der Partei bestimmen und die nur deshalb dort eingetreten sind, weil sie darüber eben diese Karriere machen wollten, nicht zulassen. Und deshalb macht sich die SPD rasant überflüssig und wird in absehbarer Zeit durch Parteien ersetzt werden, die die kleinen und großen Träume der Underdogs wieder glaubwürdig vertreten können, weil sie auf jeden Regierungsanspruch verzichten und sich ausschließlich als Opposition zu den Herrschenden verstehen.
Das ist eine für die besonders materialistischen Vertreter der sozialdemokratischen Karriere-Generation wie Andrea Nahles und Heiko Maas bittere Erkenntnis. Aber diese haben ihre Schäflein längst ins Trockene gebracht und werden bis zum nicht wenig bitteren Untergang ihrer Partei an der pathologischen Schizophrenie ihrer Welt aus Regierungswirklichkeit und unerfüllbarer Utopie festhalten. C’est la vie – der Untergang ist unvermeidbar.
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