Mit der „Mutter aller Schlachten“ drohte der damalige irakische Diktator Saddam Hussein 1990 den Vereinigten Staaten von Amerika . Eine wahre „Mutter aller Schlachten“ beginnt nun im Norden des Irak. Ein Beitrag über die Hintergründe und Folgen.
SITA statt NATO
Eine SITA nach dem Modell, wie es Erdogan vorschwebt, würde umgehend die türkische Mitgliedschaft in der NATO ersetzen. Widerstände aus der eigenen, ursprünglich eng mit der NATO vernetzten Armee hat er nicht mehr zu fürchten. Was an pro-westlichen, kemalistischen Offizieren bis 2016 noch nicht pensioniert oder inhaftiert war, wurde in Folge des angeblichen Putsches ebenso beseitigt wie Anhänger der Gülen-Bewegung. In „F.P.1 antwortet nicht“ beschrieb ich bereits die Situation unmittelbar nach Beginn der Erdogan’schen Säuberungswelle. Die Situation hat sich seitdem verschärft – in den USA und Europa suchen türkische Diplomaten und Militärs um politisches Asyl nach – alles erscheint ihnen erstrebenswerter als die Rückkehr in die Heimat.
Künftige Frontlinien gegen Kurden und Russen
Mit der SITA hätte Erdogan das Instrument, seine Großmachtpläne aktiv zu befördern. Da für Erdogan das Kappen der Beziehungen zwischen SITA und NATO zwangsläufig ist – es sei denn, die NATO ließe sich von ihm die künftigen Bedingungen der Kooperation diktieren – stehen die Kurden als erste Opfer bereits fest. Ohne die Rückendeckung durch die USA wäre weder das nordsyrische Rojava noch die Autonome Region im Irak überlebensfähig. Die PKK stünde nach ihrer Annäherung an die westliche Großmacht ebenfalls auf verlorenem Posten.
Die syrischen Alawiten des Präsidenten Assad von Russlands Gnaden haben in dem sunnitischen Bündnis ebensowenig eine Existenzberechtigung wie andere, nicht-sunnitische Glaubensgemeinschaften. Assad wird damit auf Gedeih und Verderb auf Russland angewiesen bleiben – wobei Erdogans SITA ohnehin auch gegen Russland zielt. Nicht nur die Anwesenheit dieser neuen Kreuzfahrer in West-Syrien wird Konfrontationen unvermeidbar machen – auch das großtürkische Ziel der Eingemeindung Armeniens, der griechischen Inseln und Mazedoniens sowie die Schutzmachtfunktion über jene bedrängten islamischen Völker des russischen Reichs birgt zumindest langfristig erhebliches Konfliktpotential gegenüber Moskau.
Jordanien auf verlorenem Posten – und Israel?
Problematisch allerdings würde auch die Situation des immer noch prowestlichen Jordaniens, dessen offene Grenzen in Steppe und Wüste weder gegen Syrien noch gegen Arabien erfolgreich zu verteidigen sind. Dessen liberaler König Abdullah 2 wäre quasi im Norden und Süden von der SITA umzingelt und müsste sich entscheiden, als gegängelter Juniorpartner dem Bündnis beizutreten oder sich letztlich davon erdrücken zu lassen. Die Situation des Hashemiten wird insbesondere deshalb höchst problematisch, weil seine behutsamen Demokratisierungsversuche im eigenen Land auf tönernen Füßen stehen. Der liberale jordanische Blogger Naseem Tarawnah beschreibt, dass viele seiner Landsleute in Erdogan einen modernen Saladin erblicken. Rund 72 Prozent der Jordanier befürworteten in einer Umfrage des Jahres 2012 die Einführung des islamischen Sharia-Rechts. Lediglich ein Prozent befand, dass das Recht völlig unabhängig von religiösen Vorgaben bleiben müsse. Das islamische Virus hat insofern auch das jüngst vom deutschen Entwicklungshilfeminister besuchte, kleine Königreich längst infiziert.
Spätestens dann, wenn Jordanien unter türkisch-sa’udische Kontrolle geraten sollte, steht Israel unter unmittelbarer Bedrohung. Sein Ziel, Jerusalem zu „befreien“, hat Erdogan wiederholt öffentlich verkündet. Für den Muslimbruder war das mehr als werbewirksame Wahl-Propaganda. Er meint das ebenso ernst, wie er dereinst sein Ziel der Abschaffung der laizistischen Türkei ernst gemeint hat. Zwar verfügt Israel immer noch über die leistungsfähigste Armee in der Region – doch gegen ein koordiniertes Vorgehen von Türken und Sa’ud mit im Zweifel auch nuklearer Rückendeckung aus Pakistan wäre Israel kaum überlebensfähig. Wenn Israel derzeit um ein entspannteres Verhältnis zu seinem neuen russischen Nachbarn im Norden bemüht ist, dann schwingt dabei nach dem Versagen der USA auch die Suche nach möglichen Verbündeten gegen eine geballte sunnitische Front mit.
Hauptfeind Iran
Auf kurze Sicht wäre der Hauptgegner der SITA jedoch der schiitische Iran. Der Ajatollah-Staat, der nach wie vor seinen Anspruch auf die im Spätmittelalter von den Türken annektierten Gebiete im heutigen Irak nicht aufgegeben hat, stünde einem Gegner gegenüber, der – indirekt über Afghanistan und direkt über Belutschistan – seine bislang militärisch vernachlässigte Ostgrenze unmittelbar bedroht. Gleichzeitig lägen im Süden die Arabischen Staaten und im Nordosten die Türken und die von diesen annektierten Kurdengebiete als gegnerische Aufmarschgebiete.
Der Konflikt zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen ist so alt wie der Konflikt zwischen Persern und Türken, Persern und Arabern. Seit eh geht es um die Hegemonie in der Region. Nach dem Untergang des Osmanischen Reichs 1918 und der Unterstützung der Araber auf der Halbinsel durch Briten und US-Amerikaner hatte sich ein Kräftegleichgewicht eingependelt, in dem sich die drei Konkurrenten gegenseitig neutralisierten. Im Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran fand dieses seinen Höhepunkt, indem die Sa’ud mit US-Unterstützung dem Irak halfen, während die USA selbst heimlich den angeblich verfeindeten Iran militärisch aufrüsteten.
Erdogans Sendungsbewusstsein als neuer Mahdi
Mit dem Syrienkrieg, der Zurückhaltung der USA und der Intervention der Russen hat sich die Situation grundlegend geändert. Die fundamental-islamisch, anti-amerikanischen Kräfte unter der Führung Erdogans wittern Morgenluft. Der Misserfolg des Putsches oder – je nach Betrachtungsweise – der Erfolg der Putschinszenierung hat Erdogan das Gefühl der Unüberwindbarkeit gegeben. Er sieht sein persönliches Ziel, als neuer Führer der sunnitisch-islamischen Welt in die Geschichte einzugehen, in greifbare Nähe gerückt. Die Kotau-Politik der Europäischen Union und die Inkonsequenz der mit der aktuellen Situation gänzlich überforderten US-Administration beflügeln ihn in seinem historischen Sendungsbewusstsein.
Wenn Erdogan im Herzen des rückwärtsgewandten, sunnitischen Arabiens verkündet, ein befreites Mosul müsse eine rein sunnitische Stadt werden, dann ist das weit mehr als ein Dokument seines islamischen Führungsanspruchs und mehr als eine fast schon unmittelbare Kriegserklärung gegen die schiitische Führung in Bagdad. Es ist eine unverhohlene Attacke gegen den Iran, der sich immer noch als Schutzmacht der irakischen Schiiten begreift. Und es ist ein Angriff gegen die USA und die westeuropäischen Verbündeten – denn es zielt darauf ab, über ein neues Bündnis der Sunniten deren Herrschaft zwischen Balkan und Indus, Rotem Meer und Kaukasus wie einst unter den Kalifen zu reanimieren und alle europäisch-abendländischen Einflüsse der vergangenen einhundertfünfzig Jahre zu überwinden. Erdogan will in die Fußstapfen jenes Mohamed Ahmed treten, der in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts als Mahdi im Sudan seinen Traum von einer geeinten sunnitischen Weltmacht unter seiner Führung träumte.
Neue Bündnisse?
Diese Entwicklung erklärt zum einen, warum sich Europäer und Amerikaner so schwer tun, die permanenten Menschenrechtsverletzungen im Kernland des Wahabismus konsequent anzuprangern. Und sie könnte gleichzeitig zu völlig neuen Koalitionen führen. Ein sunnitisches Militärbündnis der SITA schüfe nicht nur für Israel und den Iran eine gemeinsame Bedrohung. Auch die USA könnten erkennen, dass ihre globale Politik dadurch irreparablen Schaden nehmen müsste. Die SITA würde es für sie notwendig machen können, nicht nur das Verhältnis zum Iran auf eine völlig neue Grundlage zu stellen – selbst das derzeit unberechenbare Russland könnte in einer langfristigen Strategie der Eindämmung der sunnitischen Renaissance weiter an Gewicht gewinnen und heute kaum vorstellbare Kooperationen zwischen Washington und Moskau unvermeidbar machen.
Noch können Erdogans Träume platzen
Ob es tatsächlich so weit kommen wird, steht allerdings jenseits der Träume Erdogans derzeit noch dahin. In der Vergangenheit scheiterten alle Bündnisversuche zwischen Türken und Arabern ebenso wie zwischen arabisch dominierten Staaten regelmäßig an den unvermeidbaren Widersprüchen und Eifersüchteleien. Doch das Menetekel an der Wand ist nicht mehr zu übersehen. Und so wird die bevorstehende Schlacht um Mosul tatsächlich zur Mutter vieler Schlachten werden können, wenn es Erdogan gelingen sollte, dabei seine persönlichen Ziele an den Noch-Verbündeten vorbei erfolgreich durchzusetzen.
Der Westen wäre angesichts dieser Entwicklung gut beraten, endlich eine eigene Strategie für den Nahostraum zu entwickeln. Eine Strategie, in der die Türkei keine Bedeutung mehr haben wird und deren Großmachtträume nicht nur in der Ägäis, sondern auch durch die Beförderung eines vereinten kurdischen Riegels von Sulaimaniya bis an die türkische Provinz Hatay geerdet werden. Erdogan ist derzeit dabei, seine Türkei über zwei Wege in den Süden auszudehnen – er sucht über das IS-beherrschte Raqqa und das ebenfalls noch vom IS gehaltene Mosul den islamisch-ideologischen Anschluss an das Arabien der Sa’ud in der Erwartung eines gemeinsamen, sunnitischen Bündnisses. Sollte er dabei erfolgreich sein, werden nicht nur die kurdischen Selbstbestimmungsbestrebungen in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören – es wird auch eine vollständige Neuordnung der postkolonialen Grenzziehungen und Staatenbildungen in der Region zur Folge haben.
Der dann kaum noch zu vermeidende Konflikt zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam wird ein Pulverfass zum Explodieren bringen, das die gegenwärtige Weltordnung in ihren Grundfesten erschüttern kann. Mosul könnte so nicht nur zur Mutter aller Schlachten gegen den Islamischen Staat der gegenwärtig dort herrschenden Terrorbande werden – es könnte auch der Startschuss eines Großislamischen Reichs der Sunniten unter der Führung Erdogans sein. Spätestens dann aber werden die ewigen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten neu und mit unberechenbarer Gewalt aufbrechen – und anders als in der Vergangenheit nicht mit Säbeln, sondern mit massenmörderischen Vernichtungswaffen ausgefochten werden.
aktualisierter Beitrag zum Geschehen.
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