Langsam klärt sich der Nebel über dem angeblichen Putsch in der Türkei. Und er öffnet den Blick auf Fakten, die so überhaupt nicht passen wollen zu dem, was wir glauben sollen.
Eigentlich bin ich kein Fan von Verschwörungstheorien. Sie dienen jenen im Denken Schwachen dazu, sich Dinge zu erklären, die ihren Horizont übersteigen, in ihrer Komplexität nach scheinbar einfachen Erklärungen suchen.
Deshalb lehnte ich am Wochenende auch jene Erklärungsversuche ab, die schnell zu der Auffassung gelangten, jener angebliche Putsch sei vom türkischen Geheimdienst MIT initiiert worden. Gegen diese Vorstellung sprach aus meiner Sicht vor allem jene Verlautbarung der Putschisten, dass sie „die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte“ retten wollten. Unabhängig davon, ob man den Militärs dieses Ziel abnimmt oder nicht – als vom Geheimdienst initiiert erschien mir diese Aussage dann doch zu zynisch, zu sophisticated, um aus diesen Quellen zu kommen.
Ich muss zugeben – ich gerate ins Zweifeln. Zu vieles an diesem sogenannten Putsch ist zu diffus, zu unlogisch, als dass man nicht zweifeln müsste. Halten wir uns also an die bislang bekannten Tatsachen – und unternehmen wir den Versuch, daraus schlüssige Überlegungen abzuleiten.
I. Die militärische Übung
Die Gefreiten, die am vergangenen Freitag als „Putschisten“ auf der Straße standen, erklärten übereinstimmend, zu einer „Übung“ befohlen worden zu sein. Von einem Putsch hätten sie erst über ihre Handys erfahren.
Gut möglich, dass die jungen Männer, von denen einige anschließend einem vom Staatspräsidenten aufgestachelten Lynchmob zum Opfer fielen, tatsächlich auf eine Übung befohlen wurden. Türkische Rekruten hinterfragen solches nicht – einen Putsch jedoch hätten sie vielleicht abgelehnt. Damit aber stand diese Komponente des Putsches von vornherein auf mehr als tönernen Füßen – denn die Drahtzieher haben wissen müssen, dass angesichts moderner Kommunikationsmöglichkeiten ihr Missbrauch den Rekruten schnell bewusst würde. Und wie hätten dann – wie es sich auch als unmöglich erwiesen hat – einige wenige Offiziere die Rekruten bei der Stange halten sollen?
II. Die militärischen Ziele
Nach Stand der Dinge konzentrierten sich die Luftangriffe angeblicher Putschisten auf zwei Ziele: Die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude, beide in Ankara.
Der Angriff auf die Geheimdienstzentrale scheint auf den ersten Blick Sinn zu machen. Denn tatsächlich hat sich längst der Erdogan-treue Geheimdienst als eigentliche Stütze des AKP-Systems herauskristallisiert. Nun aber sind Filme aufgetaucht, die diese Angriffe auf den MIT zeigen sollen. Wenn dieses so, wie dort zu sehen ist, dann waren diese Angriffe eine Farce: Einige Leuchtspurmunitionssalven in die Gartenanlagen und auf Wände, offenbar aus erhöhter Stellung abgeschossen – kaum sichtbarer Schaden. Dann erscheinen fünf oder sechs Männer in Zivil – die vermutlich Geheimdienstler darstellen sollen – und schießen mit Maschinenpistolen auf irgendwelche fiktiven Gegner, die sie offensichtlich ebenerdig vermuten. Dabei gehen sie recht ungeschützt vor und verlassen ihre Deckung. Ein Kampf um eine Geheimdienstzentrale sieht anders aus.
Der Angriff auf das Parlament macht dagegen überhaupt keinen Sinn – außer jenem vielleicht, auf den bereits am Sonnabend Kollegen unter Hinweis auf den Reichstagsbrand von 1933 hingewiesen hatten. Nicht das am Freitagabend leerstehende Gebäude eines Parlaments aus willenlosen AKP-Marionetten und verängstigten Oppositionellen kann das Ziel von Putschisten sein, die die Demokratie und die Menschenrechte retten wollten. Und selbst, wenn man diese Zielaussage in den Bereich der Propaganda verdammt – Sinn hätte es vielleicht gemacht, den Präsidentenpalast oder das Innenministerium unter Feuer zu nehmen. Die aber blieben offensichtlich unberührt – vielleicht deshalb, weil Erdogan das eine nicht beschädigt sehen wollte und das andere dringend gebraucht wurde?
III. Erdogan fliegt unbeschadet durch die Türkei
Der Präsident weilte zum Zeitpunkt des Putschbeginns angeblich in seiner Urlaubsresidenz bei Bodrum. Von dort aus startete er via CNN-türk einen Aufruf an seine Anhänger, sich den Putschisten entgegen zu stellen. Dann setzt er sich in eine zufällig bereitstehende Maschine und fliegt – nein, nicht nach Ankara, wo er als Präsident in einer Ausnahmesituation vielleicht gebraucht worden wäre, sondern nach Istanbul, um dort eine flammende Rede an seine Anhängerschaft zu halten.
Derweil ist angeblich die türkische Luftwaffe – spätestens seit dem Abschuss der russischen Suchoj auch über die Landesgrenzen hinaus für ihre Effizienz bekannt – putschmäßig über der Türkei aktiv – wobei unklar bleibt, ob sie den Putsch unterstützt und aus der Luft beispielsweise das Parlamentsgebäude angreift oder die Regierung verteidigt und Hubschrauber der Putschisten vom Himmel holt.
So oder so: Jeder Putsch hätte als erstes das Festsetzen des wichtigsten Mannes im Staate zum Ziel gehabt. Der aber kann um 23.38 Uhr ungestört theatralische Aufrufe in sozialen Netzwerken starten, anschließend via CNN türk und Handy-Telefonie an sein Volk sprechen – von der Nachrichtendame hübsch in die Kamera gehalten – und anschließend ungehindert durch die nächtliche Türkei fliegen. Da stellt sich doch die Frage, warum nicht zumindest der Versuch unternommen wurde, ihn in Bodrum festzusetzen – wo dieses doch um ein vielfaches leichter hätte sein müssen als beispielsweise in Ankara.
IV. Die Luftwaffe der Putschisten
Angeblich geht die Luftwaffenunterstützung der Putschisten von der Airbase des Taktischen Luftkommandos im kurdischen Diyarbakir aus. Von dort aus fliegen sie ihre Runden über das ferne Istanbul und Ankara – um dann im 170 Kilometer Luftlinie von Diyarbakir entfernten, ostanatolischen Malatya zu landen. Da darf man sich kaum noch wundern, dass sie es versäumt hatten, die Präsidentenmaschine ins Visier zu nehmen. Apropos: Die türkische Luftwaffe verfügt über fast 2.000 Maschinen – den von den Putschisten verursachten Schäden zufolge werden aber höchsten sechs oder sieben in der Luft gewesen sein. Ein Putsch sieht anders aus.
V. Die Bosporus-Brücken
Schon am Putschabend selbst hatte ich mir die Frage gestellt: Warum besetzen die Putschisten ausgerechnet die vielbefahrenen Brücken über den Bosporus? Wollten sie verhindern, dass sich aus dem anatolischen Teil der Türkei korrupte AKP-Schergen mit ihren ergatterten Reichtümern Richtung westliches Ausland absetzen? Nicht wirklich – denn diese Reichtümer liegen längst virtuell auf irgendwelchen Auslandskonten oder beispielsweise als Gold sicher in Banksafes. Einen militärischen Sinn also machte diese unerwünschte Störung des nächtlichen Verkehrs nicht – wohl aber einen propagandistischen. Man konnte an diesem prädestinierten Ort nicht nur endlos lange Staus und wunderbare Fernsehbilder der angeblichen Putschisten produzieren – man konnte sich, so dieses das Ziel gewesen sein sollte, auch sicher sein, dass die sich medienwirksam ergebenden Putschisten keine Chance hatten, dem Volkszorn zu entfliehen, wollten sie sich nicht von der Brücke in den Tod stürzen.
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