Die deutsche Regierung und ein willfähriges, zur Opposition unfähiges Parlament werden sich in künftigen Geschichtsbüchern als jene wiederfinden, die aktiv Europas Ideale verraten haben und die Mitverantwortung tragen für eine Katastrophe, die heute vielleicht gerade noch zu verhindern wäre – aber offensichtlich nicht verhindert werden soll.
Endlich! Unsere Bundestagsabgeordneten dürfen endlich wieder zu unseren Bundeswehrsoldaten in die Türkei! Der Präsident aus dem Morgenland hat es großzügig genehmigt – und Deutschland dafür den Rest seiner Selbstachtung aufgegeben. Kein Wunder also, dass der türkische Außenminister Cavusoglu larmoyant erklärte, Deutschland habe alle „türkischen Bedingungen“ erfüllt. Das Herrchen streichelt seinen Dackel: „Brav! Sitz!“
Angesichts dieser offenbar bedingungslosen Unterwerfung, die man bei einem etwas kämpferischer veranlagten Volk als den Deutschen auch als bedingungslose Kapitulation hätte bezeichnen können, scheint es angemessen, den Rahmen der Selbstaufgabe zumindest oberflächlich zu beschreiben. Oberflächlich deshalb, weil derzeit kaum jemand wagt, darüber nachzudenken, was unter der Oberfläche des Offensichtlichen noch alles an Kotau versteckt ist.
Doch bevor wir dieses tun, sollten wir noch einen kurzen Blick auf den vorgeblichen Anlass der Unterwerfung werfen.
Die Patriots sind überflüssig
Die Bundesrepublik hatte sich im Rahmen ihrer NATO-Bündnisverpflichtungen bereit erklärt, deutsche Patriot-Raketenabwehrsysteme in der Türkei zu stationieren. Der türkische Verbündete – so die Begründung – befürchtete Attacken aus dem Kriegsschauplatz Syrien. Die Bundesrepublik war bündnistreu und stationierte.
Mittlerweile aber hat sich einiges getan an der Südgrenze der Türkei. Die Gebiete, aus denen Raketen zu erwarten gewesen wären, befinden sich mittlerweile weitestgehend in der Hand der mit dem Westen verbündeten Kurden. Diese hatten bislang keinerlei Anlass, gegen die Türkei Raketen auf den Weg zu schicken. Das allerdings könnte sich derzeit deutlich ändern, da die Türkei nunmehr gezielt gegen die Kurden vorgeht. Allerdings setzt auch dieses voraus, dass die Kurden über entsprechende Raketen verfügen – was bislang als ausgeschlossen galt. Insofern stellte sich bereits seit geraumer Zeit die Frage, welchem tatsächlichen Zweck die deutschen Patriots eigentlich dort dienen sollen.
Hinzu kommt, dass selbst für den Fall, dass man der türkischen Darstellung Glauben schenken will, sie wolle nunmehr gegen den IS vorgehen, der Einmarsch türkischer Militäreinheiten, da hierfür keine entsprechendes Mandat vorliegt, völkerrechtlich als Angriffskrieg und Verstoß gegen Artikel 1 des NATO-Vertrages zu werten ist. Es gab keinerlei tatsächliche Provokationen aus syrischem Gebiet, die diesen Einmarsch als Abwehrmaßnahme hätten begründen können. Terroranschläge, zu denen sich der IS niemals bekannte und die sich vorrangig gegen Kurden richteten, sollen so etwas wie eine Legitimation des Einmarsches schaffen.
Sollten nunmehr in Folge dieses Einmarsches Raketen auf die Türkei abgefeuert werden, darf jedoch die Bundeswehr ihre Patriots nicht einsetzen. Denn die NATO ist ein ausschließliches Verteidigungsbündnis – und der Bündnisfall setzt einen unprovozierten Angriff von außen voraus – den es nicht gegeben hat und angesichts der türkischen Militäroffensive auch nicht mehr geben kann.
Tornados im OIP
Neben den Patriots hat die Bundeswehr auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik seit Januar 2016 im Rahmen der „Operation Inherent Resolve“ (OIP) Panavia-Tornado-Aufklärungsflugzeuge stationiert. Zur Absicherung des Einsatzes, der offensichtlich für einen längeren Zeitraum geplant ist, sollen rund 65 Millionen Euro allein in Infrastrukturmaßnahmen wie Unterkünfte und einen Gefechtsstand fließen. Die Einsatzführung des Geschwaders befindet sich in Potsdam, die Aufklärungsergebnisse gehen an das Combined Air and Space Operations Center in Katar. Von dort werden die Einsätze im Rahmen der OIP koordiniert. Doch der Einsatz ist derzeit bis zum 31. Dezember 2016 befristet – was derartig hohe Investitionen mehr als fragwürdig macht.
Bei der OIP handelt es sich um eine internationale Zusammenarbeit mit dem ausschließlichen Ziel, den Islamischen Staat (IS) zu bekämpfen. Bislang beschränkten sich die nicht-syrischen Beteiligten auf Luftangriffe gegen den IS und die entsprechende Unterstützung der verbündeten Landeinheiten der Kurden und der sogenannten „Freien Syrischen Armee“.
Für die Bundeswehr bedeutet ihre Teilnahme an OIP, dass sie ausschließlich zu entsprechenden Maßnahmen gegen den IS berechtigt ist. Eine Unterstützung beispielsweise eines türkischen Angriffskrieges gegen syrische Kräfte außerhalb des IS ist durch das Mandat nicht abgedeckt.
AWACS über Europa
Im Juli 2016 hatte die NATO beschlossen, mit AWACS-Überwachungsflugzeugen den Kampf gegen den IS zu unterstützen. Bei diesen Maschinen, deren Mannschaften auf deutsche Beteiligung angewiesen sind, handelt es sich um sogenannte „Fliegende Augen“ vom Typ Boeing 737 AEW&C, die in einem Radius von rund 500 Kilometern optimale Fernaufklärung leisten können. Für ihren Einsatz gelten dieselben Bedingungen wie für die Tornados – ein Einsatz für türkische Angriffskriege ist durch das Mandat nicht gedeckt.
Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass die Satellitenüberwachung des Luftraums der Krisenzone zwischen Nordmeer und Persischem Golf ohnehin durchgehend garantiert ist. Soll heißen: Was auch immer geschieht – es ist anhand der NATO-Protokolle nachvollziehbar. Warum dieses von Bedeutung sein kann, wird später erläutert werden.
Mit Konrad Adenauer nach Incirlik
Da die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, wollten deutsche Parlamentarier in diesem Sommer die Einsatzkräfte in der Türkei besuchen. Dieses wurde von dem NATO-Verbündeten Türkei ohne Angabe von Gründen verhindert – eine Thematik, die den medialen Sommer bestimmen sollte. Eine Frage allerdings wurde dabei nie gestellt – und daher auch nicht beantwortet: Warum überhaupt mussten die Abgeordneten die Türkei fragen? Der Bundesminister der Verteidigung verfügt als der IBuK (Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt) über die Befehlsgewalt auch der deutschen „Airforce One“ – der A340 16+01 „Konrad Adenauer“. Diese Maschine ist mit hochmodernen Raketenabwehrmöglichkeiten ausgestattet und hätte damit alle Anforderungen zur Sicherheit an Maschinen, die Incirlik anfliegen, erfüllt gehabt. Völlig zu Recht fragt deshalb der US-Politikwissenschaftler Stefan Prystawik im Gespräch mit TE: „“Warum flog die Ministerin denn nicht einfach mit den Abgeordneten zum Standort Incirlik?“
Ein solcher Flug hätte zwar angemeldet werden müssen – wer und was sich in der Maschine befindet, geht jedoch niemanden etwas an. Und glaubt jemand im Ernst, die Türkei hätte diese Maschine abgeschossen oder deshalb die diplomatischen Beziehungen abgebrochen? Offensichtlich hat sich die Bundesregierung mit Vorsatz in eine öffentlich debattierte Situation gebracht, in der sie nur verlieren konnte. Gleichzeitig haben die deutschen Parlamentarier ihre Unfähigkeit belegt, indem bis heute keine Anfrage vorliegt, warum nicht ein solcher Weg gewählt wurde, um die Ablehnung der Türkei auszuhebeln.
Der Verweis auf die Armenien-Resolution
Statt nun aber das Kreuz durchzudrücken und dem kleinen Despoten vom Bosporus gegenüber Selbstbewusstsein zu zeigen, kroch die deutsche Regierung zu Kreuze und gab damit gleichzeitig das gewählte deutsche Parlament der Lächerlichkeit preis.
Schon bei der Abstimmung über eine Resolution, in der der staatlich organisierte Massenmord an Armeniern durch eine türkische Regierung als Völkermord bezeichnet wurde, fiel negativ auf, dass die drei Abgeordneten, die gleichzeitig die Führung der Bundesregierung innehaben (Gabriel, Merkel, Steinmeier), sich der Abstimmung entzogen hatten. Im August dann erklärte die Regierung auf Druck der Türkei faktisch die Irrelevanz der Resolution – ein formaljuristisch zulässiger Schlag in das Gesicht des Parlaments. Das versagte nun erneut, ergab sich in sein Schicksal und verzichtete auf jedwede Missbilligung, die aufrecht gehende Abgeordnete in einem solchen Falle per Antrag auf den Weg hätten bringen können. Da hat es dieses Parlament wohl nicht besser verdient, als nicht mehr ernst genommen zu werden. Selbst bei den sogenannten Oppositionsparteien: Sommer- und Sendepause.
Der herbeigeputschte Staatsstreich
Ein Totalversagen des Parlaments zeigte sich bereits bei der Beurteilung des angeblichen Putsches in der Türkei. Warum? Ich wies bereits darauf hin: Die NATO hat den Luftraum an seiner Ostflanke bis hinunter nach Syrien ständig unter Beobachtung. Wie aus NATO-Kreisen bestätigt wird, ist davon auszugehen, dass auch die Luftaktivitäten über der Türkei in der Nacht auf den 16. Juli bestens dokumentiert sind.
Die NATO wird wissen, ob die zahlreichen Geschichten, die von Erdogan über angebliche Angriffe der Putschisten auf diverse Stellungen und gegen sein Feriendomizil ebenso wie sein angeblicher Flug von der Küste bei Bodrum nach Istanbul tatsächlich stattgefunden haben. Bis heute jedoch herrscht dazu tiefes Schweigen – und nicht eine einzige Parlamentsfraktion wagt es, hierzu konkrete Fragen an die Bundesregierung zu stellen.
Manchmal allerdings spricht Schweigen Bände. So auch in der Folge dieses sogenannten Putsches. Abgesehen von den üblichen, scheinheiligen Grußbotschaften an den dann doch nicht weg geputschten Erdogan hielten sich die NATO-Verbündeten mehr als zurück. Keine schnell angekündigten Solidaritätsbesuche, keine freundschaftlichen Einladungen an den gerade noch mit Müh‘ und Not im Amt verbliebenen Präsidenten. Was wiederum diesen nun weiter erboste und zu Ausfällen gegen die Partner veranlasste, sie stünden mit den Putschisten in Einvernehmen.
Stillschweigendes Einvernehmen?
Vielleicht ist es sogar so. Dann nämlich, wenn der Putsch von Erdogans Geheimdienst inszeniert worden sein sollte und dieses den Partnern bekannt ist. Denn die sonst so sehr auf Demokratie und Menschenrecht bedachten Regierungen der westlichen Demokratien ließen es widerspruchslos geschehen, dass auf den vorgeblichen Putsch der eigentliche Staatsstreich folgte. 16.000 Menschen waren bis zum 28. Juli wegen ihrer Putschbeteiligung verhaftet worden. Am 5. August wurden bereits 26.000 Menschen als verhaftet vermeldet. Mittlerweile hat die Welt aufgehört zu zählen. Eher beiläufig nahm man zur Kenntnis, dass Erdogan eine Massenamnestie für über 30.000 Kriminelle erließ, um Platz für die verhafteten „Putschisten“ zu schaffen, die unter unmenschlichen Umständen in irgendwelchen Lagern untergebracht sind.
Parallel dazu erfolgten Massenentlassungen. Erst traf es die Schaltstellen der Macht: Militär, Staatsanwaltschaften, Gerichte. Es folgten Bildungsstätten und andere Institutionen und Medien, in denen missliebige Personen entfernt wurden – allein 15.200 Professoren und Hochschullehrer bis zum 19. Juli. Nun traf es selbst international renommierte Wissenschaftler wie die Brüder Ahmet und Mehmet Altan von der Universität Istanbul, die sich als Erdogan-Kritiker in die Reihen der Inhaftierten einreihen durften. Andere sind einfach verschwunden – so haben wir zu einem unserer langjährigen Partner und hochgeschätzten Professor seit Wochen keinen Kontakt mehr – niemand weiß etwas über seinen Verbleib.
Von der weltanschaulichen zur ethnischen Säuberung
Was offiziell als „Säuberungsmaßnahme“ gegen Erdogans Hauptfeind und langjährigen Verbündeten im Kampf gegen eine laizistische Türkei, Fetullah Gülen, begann, weitet sich nun aus zu einer Aktion gegen Volksgruppen. Jüngst traf es rund 11.000 kurdische Pädagogen. Als diese gegen diese Willkürmaßnahme protestierten, wurden sie mit Wasserwerfern und Tränengas auseinander getrieben. Das türkische Bildungsministerium kündigte an, es würden weitere Entlassungen folgen.
Gleichzeitig konfisziert der Staat Privat- und Firmenvermögen von Personen, die angeblich der Bewegung des in den USA lebenden Gülen angehören. Wie dereinst bei der Vernichtung der deutschen Juden und des Großbürgertums geht es dabei auch um Geld. Erdogan muss seinen Staatsstreich finanzieren. Und er schafft sich dabei ein Hasspotential, das er – will er ihm nicht eines Tages selbst zum Opfer fallen – mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln wird bekämpfen müssen. Denn hinter jedem Inhaftierten, hinter jedem Entlassenen stehen die Familien, manchmal ganze Sippen, die ab sofort unter einer modernen Form der Reichsacht und Sippenhaft keine Ernährer mehr haben. Niemand weiß, wie diese Menschen überleben sollen – ohne Einkommen, ohne Vermögen.
Die Rache des Muslimbruders macht vor niemandem halt. Zigtausende von Pässen wurden eingezogen, damit niemand mehr das Land verlässt, den die türkische Regierung noch nicht verhaftet oder ausgeplündert hat. Der Ehefrau des aus guten Gründen geflohenen Can Dündar – jener Journalist, der die Kooperation des türkischen Gemeindienstes mit radikalislamischen Kämpfern in Syrien aufdeckte – hat Ausreiseverbot. Der Deutsche Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kurdischen Gemeinden in Deutschland, hat durch noch bestehende Kontakte erfahren, dass er auf den „schwarzen Listen“ der Türkei einen prominenten Platz hat. Jedem, der auch nur ansatzweise öffentlich oder in den von AKP-Spitzeln durchsetzten türkischen Gemeinden im Ausland Kritik an Erdogan äußert, ist dringend abzuraten, das Land seines Ursprungs zu besuchen. Mit Glück wird ihm nur die Einreise verweigert.
EU und NATO versagen
All das ist bekannt. Die meisten der Fakten werden regelmäßig durch türkische Regierungsstellen als Erfolgsmeldungen verbreitet. Doch was macht unsere Regierung? Was macht die EU? Was macht die NATO?
Weniger als nichts. Unsere Regierung unterwirft sich kritiklos den Forderungen aus Ankara. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz reist zum Kotau zu Erdogan, der ihn mit Eisesmiene abblitzen lässt, während sich die EU vor dem Alleinherrscher in den Staub wirft und weiter darüber verhandelt, diesen sich zur islamisch-nationaltürkischen Diktatur wandelnden Staat in ihre Reihen aufzunehmen.
Und die NATO? In ihrem Vertrag steht als Präambel zu lesen:
„Sie [die NATO-Vertragsstaaten] sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Kulturerbe ihrer Völker, gegründet auf die Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des einzelnen und die Grundsätze des Rechts, sicherzustellen.“
Wofür wird die Türkei gebraucht?
Würde das Verteidigungsbündnis seinen Vertrag ernst nehmen, so müsste die Türkei sofort in hohem Bogen vor die Tür gesetzt werden. Doch angeblich wird sie noch gebraucht – doch wofür?
Um den Einfluss Russlands einzudämmen, das sich Dank eines klugen Schachzugs seines Präsidenten längst derart geschickt in Syrien festgesetzt hat, dass es dort die kommenden Jahrzehnte als Machtfaktor maßgeblich mitspielen wird?
Die Außenminister der USA und Russlands haben nun verkündet, sie hätten einen gemeinsamen Friedensplan für das geschundene Land. Putin ist endlich dort, wo er hinwollte: Auf Augenhöhe mit den USA. Und das mit einer Wirtschaftsmacht, die im Weltvergleich derart unbedeutend ist wie der nicht einmal zwei Prozentanteil der Russen an der Weltbevölkerung.
Oder um – wie Erdogan nun vorgibt – gemeinsam mit den anderen NATO-Staaten den Islamischen Staat zu bekämpfen?
Wer Kontakte in die Kriegsregion hat, der weiß längst: Erdogan ist der Verbündete der radikalen Muslime. Bei der Übernahme der syrischen Stadt Djarabulus wechselten Islamkämpfer schnell zur türkischen Armee – kein Problem. Seit Anfang dieses Monats bedrängen türkische Truppen Kobane. Kobane war jene Stadt, in der kurdische Einheiten unter hohem Blutzoll den IS vertrieben hatten – sehr zum Unwillen der Türkei, die erst von den USA gezwungen werden musste, den PKK-nahen Kurdeneinheiten den Zugang zu ermöglichen.
IS-Kämpfer unter falscher Flagge
Flüchtlinge aus dem Kobane dieses Spätsommers berichten, dass IS-Kämpfer in gestohlenen Kurdenuniformen mit Billigung der Türkei in die Wohnungen der Kurden eindringen und die Menschen massakrieren. Werden bei den inneren „Säuberungen“ der Türkei Erinnerungen an die Machtfestigung der NSDAP in Deutschland wach, so scheint Erdogan auch in Sachen Tricksen und Täuschen von ihr gelernt zu haben. Der Sender Gleiwitz lässt grüßen.
Und um von diesen Taten abzulenken, an denen Erdogan maßgeblich beteiligt ist, lässt der NATO-„Verbündete“ effektvoll ein paar seiner aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammenden M-60-Panzer nebst türkischen Wehrpflichtigen abschießen. Die Verbündeten vom IS verbreiten diese Bilder genüßlich, während sie sich in die Reihen der türkischen Okkupanten einreihen. So liefern sie dem Despoten die Bilder, die er braucht um der NATO zu demonstrieren: Seht, ich opfere sogar Soldaten für Euren Kampf gegen den IS.
Was Erdogan wirklich will
Ich habe hier schon des öfteren aufgezeigt, was der türkische Präsident will. Und mit jedem Tag wird es offensichtlicher. Im Inneren geht es um die totale Vernichtung erst der eigenen Opposition, dann der ethnisch nicht mehr passenden Bevölkerungen. 28 Lokalregierungen sollen bis Ende September „dem Willen der PKK entzogen“ werden, verkündete der türkische Innenminister und schritt umgehend zur Tat. Tatsächlich handelt es sich dabei um demokratisch gewählte Vertreter der HDP, die diktatorisch durch regierungsnahe Verwaltungen ersetzt werden.
Diyarbakir, die Metropole der türkischen Kurden, liegt bereits weitgehend in Trümmern. Die traditionellen Kurdenviertel werden dem Erdboden gleich gemacht – den Menschen die Lebensgrundlagen entzogen. Angeblich geht es immer gegen PKK-Kämpfer. Tatsächlich aber sind diese längst im Nordirak oder kämpfen in den Reihen der syrischen YPG an der Seite der USA als Ausputzer gegen den IS. Diyarbakir ist nicht der einzige Ort im Osten der Türkei, der von Kurden „gereinigt“ wird. Grenznahe Ortschaften haben aufgehört zu bestehen, weil der türkische Kampf gegen die kurdischen „Terroristen“ offiziell keinen anderen Weg ließ.
Erdogans Kampf gegen die Kurden
Erdogan geht es nicht darum, den IS zu vernichten. Ganz im Gegenteil wird er diese von ihm unterstützte Kampfeinheit mit allen nicht offensichtlichen Mitteln zu erhalten suchen. Er braucht die Schlächter in seinem Kampf gegen die Kurden, die auf syrischem Gebiet auf dem besten Wege waren, eine selbstverwaltete Region zu etablieren, die im Westen von Afrin bis an die irakische Grenze im Osten reichen sollte.
Damit aber wäre nicht nur Erdogan von seinen IS-Verbündeten abgeschnitten gewesen – er hätte nach der autonomen, demokratisch verwalteten Region der Kurden im Nordirak ein zweites, staatsähnliches Kurdistan vor seiner Südgrenze gehabt. Damit wäre auch sein Einfluss nach Syrien geschwunden.
Deshalb arbeitet er jetzt an einem Korridor zu seinen Verbündeten in Raqqah und bekämpft gleichzeitig die Kurden im westlichen Afrin und im östlichen Rojava: Kurden. die bis gestern die engsten und treuesten Verbündeten der westlichen Militärallianz gegen die Islammilizen gewesen sind.
Der Verrat wird Folgen haben
Es ist nicht das erste Mal, dass die Kurden verraten wurden. Schon in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war ihnen von Frankreich und Großbritannien ein eigener Staat zugesagt worden. Dann war die Türkei wichtiger.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass die USA in der Region Verrat begehen. Im ersten Krieg gegen den Irak wurden die Schiiten im Süden und die Kurden im Norden des Landes, die schon in den Neunzigern von den Truppen Saddam Hussein abgeschlachtet worden waren, zum Widerstand ermutigt. Als die USA ihre Ziele erreicht zu haben meinten, blieben diese Aufständischen ihrem Schicksal überlassen und zahlten mit einem Blutzoll, der nach offiziellen Schätzungen in die hunderttausende geht. Als 2003 diese „Killing Fields“ des Irak entdeckt wurden, erklärten sich die USA für diese Verbrechen als „nicht zuständig“.
Das anhaltend tiefe Zerwürfnis zwischen den USA und dem Iran rührt auch daher, dass man die USA mitverantwortlich macht für den Massenmord an den Glaubensbrüdern im Irak. Ein Vorwurf, der sich nicht entkräften lässt.
Sollten die USA dieser Linie des Verrats an regionalen Verbündeten treu bleiben, so wird dieses nicht nur ihre Reputation bei den ortsansässigen Menschen abschließend zerstören. Es wird auch die Idee der konservativen US-Thinktanks um Paul Wolfowitz, um derentwillen seinerzeit Georg W. Bush offiziell in den Dritten Golfkrieg zog, abschließend zu Grabe tragen. Jene hatten seinerzeit die Vorstellung vertreten, ein demokratischer Irak würde als Leuchtturm in der Region eine umfassende Demokratisierungswelle erzeugen. Wie absurd und aus einer naiven US-Binnensicht gespeist diese Vorstellung war, solange man als engste Verbündete die Fundamentalmuslime in Sa‘udi-Arabien und Qatar hat (wir erinnern uns: Dort ist das Hauptquartier der Operation Inherent Resolve angesiedelt), war schon damals jedem Kenner der Region klar. Die Entwicklung des Irak hat den abschließenden Beweis erbracht, dass es nicht reicht, ein demokratisches Samenkorn in einen zerfurchten Acker zu werfen.
Chance auf Demokratisierung verspielt
Mit der Unterstützung der Kurden jedoch bestand erstmals wieder die Chance, zumindest in einigen Regionen zwischen Mittelmeer und Golf kleine Pflänzchen islamischer und dennoch demokratischer Staaten anzupflanzen, die vielleicht tatsächlich jene Vorstellungen der US-Thinktanks hätten befördern können. Mit allen aus puristischer Sicht gebotenen Vorbehalten gibt es derzeit nur drei Staaten oder staatenähnliche Gebilde in der Region, die demokratisch sind oder zumindest glaubwürdige, demokratische Ansätze zeigen: Das zionistische Israel, das hashemitische Jordanien und eben jenes irakische Kurdistan.
Statt nun alles daran zu setzen, den hehren Zielen ihres Vertrages gerecht zu werden, schwenkt die NATO um, verrät ihre Verbündeten und ihre eigenen Ideale.
Sehenden Auges in die Katastrophe
Und unsere Regierung, unser Parlament? Die EU? Sie schauen nicht nur weg, sondern beginnen sich aktiv daran zu beteiligen, wie ein unberechenbarer türkischer Potentat ein Land, das auf dem besten Wege schien, sich westeuropäischen Standards anzunähern, in einen faschistischen, islamisch geprägten Gottesstaat umgewandelt wird. Sie schämen sich nicht ihres eigenen Versagens bei dem Massenmord an den Armeniern – und schauen weg bei der von Erdogan offensichtlich geplanten Vernichtung der Verbündeten von Gestern.
Doch nicht nur das ist erbärmlich. Erbärmlich ist auch, dass Deutschland und die europäische Staatengemeinschaft mit ihrer willfährigen Umkehr dafür sorgen werden, den Krieg aus Syrien und dem Irak in die Türkei selbst zu tragen – und damit die Basis Incirlik, die nun mit Millionen deutscher Steuergelder aufgerüstet werden soll, einer mehr als ungewissen Zukunft auszusetzen. Denn die Kurden werden mit jedem Schlag, den die Türkei ihnen in den von ihnen befreiten Gebieten versetzt, einen Schritt mehr in die Türkei machen. Wer sich verraten fühlt und nichts mehr zu verlieren hat, der ist bereit zu kämpfen.
Wie man kämpft, das haben die Kurden in Syrien gelernt. Wie man stirbt auch. Beides unterscheidet sie maßgeblich von einer türkischen Armee, deren strategische Köpfe von Erdogan abgeschlagen wurden und deren Soldaten sich aus jenen Wehrpflichtigen rekrutieren, deren Eltern nicht reich genug waren, um die Ablöse vom Wehrdient zu finanzieren. Erdogans Kanonenfutter und seine Hybris, gespeist durch die Unterwerfung des Westens unter seinen Willen, werden ein Pulverfass zum Explodieren bringen.
Der Platz in den Geschichtsbüchern
Die deutsche Regierung ebenso wie ein willfähriges, zur Opposition unfähiges Parlament werden sich in künftigen Geschichtsbüchern als jene wiederfinden, die aktiv Europas Ideale verraten haben und die Mitverantwortung tragen für eine Katastrophe, die heute vielleicht gerade noch zu verhindern wäre – aber offensichtlich nicht verhindert werden soll.
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