Wäre es nicht so dramatisch, könnte man geneigt sein, Russlands Führung nebst ihren Erfüllungsgehilfen in den Sandkasten für schwererziehbare Kinder zu stecken, damit sie sich dort einmal so richtig austoben und sich gegenseitig auf den Kopf herumhauen können. Russlands mörderische Politik bewegt sich zwischen einem bockigen „Ich will“ und einem „wenn es nicht mir gehört, dann keinem!“ Der angeblich so schlaue und berechnende Wladimir Putin offenbart die Mentalität eines Leningrader Straßenbandenbosses. Seine Adlaten sind die Schläger des Soziopathen.
Die Drohung mit dem Super-GAU
Seit fast schon Wochen beherrscht das Kernkraftwerk Saporischschija die Schlagzeilen des russischen Terrorüberfalls auf die Ukraine. Wobei der Name des mit sechs Reaktorblöcken größten Kernkraftwerks Europas irreleitet. Tatsächlich liegt es am Südufer des zum Kachowkaer See gestauten Dnjepr gegenüber der Stadt Nikopol. Der Dnjepr bildet hier die Demarkationslinie zwischen den Verteidigern der Ukraine und den russischen Invasoren, welche das Kraftwerk Anfang März nach einem mit Raketenfeuer flankierten Angriff besetzten.
Der Auftrag: Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass die russischen Okkupanten damit begonnen hatten, das Kraftwerk zu verminen, um es im Fall eines Rückzugs zu sprengen und damit den Süden der Ukraine zur atomaren Wüste zu machen. Jewhenij Zymbaljuk, ukrainischer Vertreter bei der Internationalen Atombehörde IAEA: „Was dann im Radius von 40 oder 50 Kilometern um das Kraftwerk passieren würde, wäre mit Tschernobyl und Fukushima absolut nicht vergleichbar.“
Russland kappt die Stromverbindungen
Auch wenn Wassiljews Zitate später kommentarlos verschwinden, so liegen sie doch ganz auf der Linie des Wladimir Putin, der erklärt hatte, dass eine Welt ohne Russland nicht wert sei, zu existieren. Offiziell bestätigt wird dann nur, dass das Kraftwerk massiv mit russischen Luftabwehrstellungen ausgerüstet wird. Während die G7-Staaten gegen den Wind reden und die sofortige Rückübergabe der Anlage an die Ukraine fordern, lässt Russland wissen: Die Stromleitungen nach Norden in die Ukraine werden gekappt und neue zur russischen Krim gelegt.
Womit spätestens jetzt auch zweierlei klar wird: Die russischen Geländegewinne werden nach russischer Lesart unmittelbar und unveräußerlich russisches Staatsgebiet – und das Ziel, die gesamte Ukraine im Handstreich zu nehmen, ist vorerst auf Eis gelegt.
Unabhängig davon soll nun sogar eine Delegation der Internationalen Atombehörde das besetzte Kraftwerk inspizieren dürfen. „Von unserer Seite aus sind wir bereit, maximale Unterstützung zur Lösung organisatorischer Fragen zu leisten“, lässt das russische Außenministerium wissen. Doch die UN hätten eine bereits geplante Inspektionsreise abgesagt und damit eine neue Eskalation herbeigeführt – wenig glaubwürdig, nachdem die IAEA eine solche Inspektion wiederholt gefordert hat.
Massenflucht auf der Krim
Auch andernorts auf dem „theatre“, wie Angelsachsen die killing fields des Terrors nennen, tut sich einiges. So kündigt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht zum ersten Mal an, die annektierte Krim zurück zur Ukraine zu holen. Während die Russen genau deshalb ihre Demarkationslinie im Süden der Ukraine ausbauen und Einheiten vom Donbas verlagern, kommt es auf der Krim zu mindestens zwölf heftigen Explosionen. Russische Urlauber filmen, wie auf dem Militärflugplatz Saky riesige Rauchpilze in den Himmel steigen und laute Donnerschläge zu hören sind.
Ist der Krieg nun in dem angekommen, was der Kreml als Russland bezeichnet? Der von Russland als Krim-Verwalter eingesetzte Sergei Aksyonow bestätigt „die Tatsache mehrerer Explosionen im Gebiet von Novofyodorovka“. Im Internet kursieren Filmchen, auf denen Touristen fluchtartig die Krim in Richtung Russland verlassen. Anton Gerashchenko twittert einen Film entsetzter Urlauber, die auf ihrer Flucht einen einhundert Kilometer langen Stau verursacht haben sollen.
Rätsel um die Explosionsschäden
Das russische Verteidigungsministerium greift zu den üblichen Erklärungen – angeblich sei ein Fehler im Umgang mit der Munition schuld gewesen an den Explosionen. Ein Mann sei dabei umgekommen, fünf weitere wurden verletzt. Sonst gab es keine relevanten Schäden. Lew Anno Yieretz Israel veröffentlicht bei Twitter Filme, die eine andere Sprache sprechen. Reihen zerstörter Autos, deutlich entfernt vom eigentlichen Explosionsherd. Ein Stahlträger, der nach seinem Flug aus dem Seitenfenster eines Pkw ragt. Lew, der ständig Hintergrundinformationen zur Ukraine postet, spricht von mindestens 60 getöteten Piloten und Technikern. Weitere 100 seien verwundet worden. Das bestätige Informationen westlicher Geheimdienste.
Ein namentlich nicht genannter, hoher ukrainischer Militär wird zitiert mit der Aussage, es handele sich um die Folgen einer „in der Ukraine neuentwickelten Waffe“ – eine „Super-Rakete“ mit der Bezeichnung Grom. Andere sprechen davon, dass es Raketen gewesen seien, die von den US-amerikanischen Himars-Raketenwerfern abgefeuert wurden. Immerhin aber liegen zwischen ukrainischen Stellungen und dem Airfield über 200 Kilometer. Die Himars sollen nur eine Reichweite von 80 Kilometern haben. Die Washington Post berichtet hingegen von ukrainischen Spezialeinheiten, die in den besetzten Gebieten mit ortsansässigen Partisanen gegen die russische Logistik und deren Militärstellungen vorgehen.
Selenskyj als Sphinx
Selenskyj gibt sich in seiner täglichen Ansprache als Sphinx: „Dieser russische Krieg gegen die Ukraine und gegen das gesamte freie Europa hat mit der Krim begonnen und muss mit der Krim enden – mit ihrer Befreiung. Heute ist es unmöglich zu sagen, wann dies geschehen wird. Aber wir fügen der Formel für die Befreiung der Krim ständig die notwendigen Komponenten hinzu.“
Später wird sein Berater Michail Podoljak jede ukrainische Verantwortung offiziell zurückweisen: „Was haben wir damit zu tun? Vielleicht ist das einfach der Versuch, das schlechte Management innerhalb der Streitkräfte der Russischen Föderation zu verschleiern. Das ist alles. Es war eine Munitionsexplosion.“ Manchmal ist es besser, seine Möglichkeiten im Dunkeln zu lassen. Dann twittert Podoljak: „Das war nur der Anfang!“
Was auch immer tatsächlich auf der Krim geschehen ist – manches spricht dafür, dass die Ukraine sich nicht mehr auf die unmittelbare Gegenwehr der russischen Angriffe beschränkt.
Am Dienstag explodierte im besetzten Novooleksiivka, direkt an der Meerenge zur Krim, ein Munitionsdepot. Die Entfernung zur Front beträgt mehr als 150 Kilometer. Am Mittwoch gegen 11 Uhr MESZ wird ein Brand im Öldepot von Yeisk am russischen Ufer des Asowschen Meeres gemeldet. Was Folge ukrainischer Aktionen oder lediglich dem russischen Schlendrian geschuldet ist, lässt sich nicht feststellen.
Das Muskelspiel russischer Straßenbanden
So gilt auch für die angebliche Bereitschaft, das Kernkraftwerk lieber zu sprengen, als es an die Ukraine zurückzugeben: Möglich, dass der russische ABC-Waffenspezialist nur ein wenig mitspielen wollte im verbalen Muskelspiel russischer Straßenbanden. Möglich auch, dass seine Worte ohne Absegnung von Oben in die Öffentlichkeit gerieten. Für die Bewertung dessen, wie sich Russland seit dem 24. Februar 2022 aufführt, spielt es keine Rolle.
Putin hat die in Russlands Städten üblichen Kämpfe krimineller Banden auf die internationale Ebene gehoben. So, wie er erfolgreich das sich mühevoll auf den Weg in einen Rechtsstaat bewegende Russland korrumpiert hat, versucht er nun, den Rest der Welt zu korrumpieren. Staatliche Ordnung und Rechtsstrukturen spielen keine Rolle. Es geht nur noch darum, welcher der Bandenbosse am Ende den Sieg davonträgt. Seinen Sieg – seinen ganz persönlichen. Nicht den eines Landes oder einer Nation.
Es geht dabei auch nicht um das, was im internationalen Gebrauch als „Krieg“ bezeichnet wird. Es geht um die primitivste Form menschlichen Umgangs: Um den hemmungslosen Einsatz brutaler Gewalt durch gedungene Schläger – so lange, bis das Opfer in seinem eigenen Blut erstickt und mit zertrümmerten Knochen am Boden liegt. Dazu gehört die Drohung, die Einschüchterung und die Terrorisierung der Opfer und jener, die ihm vielleicht zur Hilfe eilen könnten, ebenso wie grenzen- und gnadenlose kriminelle Energie.
Die Blutspur seit der Antike
Wer sich dem Willen des Bandenchefs nicht unterwirft, hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Wer nicht bereit ist, dem Bandenboss das zu geben, was er begehrt, dem wird es mit Gewalt genommen werden. Und wenn es dem Bandenboss verwehrt wird, dann soll es eben niemand besitzen.
Es ist wie das Verhalten dieser kleinen, unerzogenen und ungesteuerten Kinder in der Sandkiste, die ihre ersten, unkontrollierten Machtgelüste ausleben. Wenn der Schwächere trotz Prügel sein Spielzeug nicht rausrückt, dann soll es lieber kaputt sein, als dass der andere noch damit spielen könnte.
Doch Putin und seine Getreuen sind keine kleinen, ungezogenen Kinder mehr – auch wenn sie sich genauso verhalten. Die Menschheit hat ihnen Machtinstrumentarien in die Hände gegeben; geeignet, die Welt zu zerstören.
Man könnte geneigt sein, dieses Verhalten, diese Affinität zur totalen Destruktion einschließlich der Vernichtung seiner selbst statt der Anerkenntnis einer Niederlage, als unmenschlich und krank zu bezeichnen. Tatsächlich allerdings ist es das nicht. Es ist lediglich der Beweis, dass sich die Menschheit in den vergangenen 5.000 Jahren nicht um ein Jota weiterentwickelt hat. Ganz im Gegenteil: Je größer der wissenschaftliche Fortschritt, desto minimaler die Fähigkeit zum zivilisierten Verhalten. Putin ist nur der weitere, traurige Beweis einer Erkenntnis, die sich als die Blutspur der Psychopathen durch die Weltgeschichte zieht.
Die Herrscher der Antike zogen aus, um von den Nachbarn Tribute einzutreiben. Wer nicht freiwillig gab, der wurde gezwungen und bei Widerstand ausgeplündert, versklavt oder ermordet. Der Assyrer Sanherib beschreibt in seinen Annalen voller Stolz, wie er jedes Jahr einen Feldzug plante und durchführte. Immer fühlte er sich dabei im Recht und selbstverständlich die Götter an seiner Seite.
Schlimmer als die Herrscher der Antike
Auch daran hat sich nichts geändert. Putin ist nichts anderes als jener Sanherib. Wobei – nein, das stimmt nicht. Für den Gottkönig von Ninive waren die Feldzüge unverzichtbar, um sich seinen eigenen Luxus sichern zu können. Das hat immerhin noch einen Hauch rational nachvollziehbarer Vernunft auch dann, wenn darüber tausende ihr Leben geben mussten. Für einen Putin aber kann dieses Argument nicht zählen. Sein Land hat alles, um seiner kriminellen Bande jeden Luxus zu sichern.
Für einen Putin jedoch kann es nicht den Hauch von Verständnis geben. Statt Reichtum zu stehlen, vernichtet er das Volksvermögen seiner Russen. So ist der russische Staatsfond nach Angaben des Finanzministeriums in Moskau allein vom 1. Juli zum 1. August 2022 von 211 auf 198 Milliarden Dollar geschrumpft. Bei gleichbleibender Situation ist er spätestens in 16 Monaten auf null – und das, obwohl die in die Höhe geschnellten Einkünfte für Gas und Öl täglich Milliarden in die russischen Kassen spülen. Doch Putin braucht das Geld des Fonds, der eigentlich für Zukunftsinvestitionen gedacht war, zum Stopfen von Haushaltslöchern. Löcher, die sein Terrorüberfall auf das Nachbarland gerissen hat und täglich reißt. Die Opfer hier: Jene Russen, die immer noch in Verblendung zu ihren Chefterroristen hinaufschauen und nicht wahrnehmen, wie absolut bedeutungslos sie für ihn sind.
Putins Umkehr der Realität
Ob Russe oder Ukrainer oder sonstwas: Wer einem Putin nicht gibt, was ein Putin will, der hat sich um sein Existenzrecht gebracht. Deshalb wird der Überfall auf den Nachbarn als militärische Polizeiaktion kaschiert. Deswegen wird gegen jedes Völkerrecht jedem, der den Überfallenen zu Hilfe eilt, mit derselben brachialen Gewalt gedroht. Dabei gilt immer noch: Offiziell befindet sich Putins Russland mit niemandem im Krieg. Es gibt in der Ukraine keine Kriegsverbrechen, weil es keinen Krieg gibt. Es gibt nur die kriminellen Exzesse einer terroristisch agierenden, aus dem Kreml gesteuerten Bande. Und genau deshalb ist es glaubwürdig, was Wassiljew wissen ließ. Dass Putin notfalls lieber eine atomar verseuchte Ukraine hinterlässt, als auch nur einen Quadratzentimeter des eingeheimsten Territoriums aufzugeben.
Wenn die Ukraine nicht Putin gehören darf, dann darf sie niemandem gehören. Schon gar nicht den Ukrainern, die es in Putins Weltbild nicht gibt, weil sie nationalistische Faschisten sind, die ihre eigentliche, russische Nationalität verraten. Allein das schon offenbart die Perversität des Denkens im Kopf des Soziopathen: Weil die Nation der Ukrainer im faschistischen Denken des russischen Nationalisten nicht sein darf, wird der terroristische Faschist zum Befreier und das Opfer zum Faschisten.
Putin – ein Soziopath ohne jede Ehre
Auch deshalb ist Putin mittlerweile ehrloser als jeder jener Bandenbosse, die in den Städten Russlands um ihre Claims kämpfen. Die Bandenbosse kennen den Kompromiss und die Verhandlung, wenn sie erkennen, dass sie ihr Ziel mit der Anwendung von Gewalt derzeit noch nicht erreichen können. Putin kennt nicht einmal mehr das – auch wenn sein verblendeter Freund aus der Hannoverschen SPD es nicht zu erkennen vermag.
Der Soziopath spielt um alles oder nichts. Und wird nur noch unberechen- und unnahbarer, wenn, wie jüngst geschehen, nun selbst schon auf der Krim vielleicht ukrainische Raketen einschlagen, um dort einen Militärflugplatz einsatzunfähig zu machen. Sollten demnächst ukrainische Raketen auf russischem Territorium ihre Ziele suchen, wird das Verhalten der Kreml-Kriminellen abschließend jede Rationalität verlieren. Dann wird sich der skrupellose Täter abschließend selbst zum Opfer stilisieren und nach erbarmungsloser Vergeltung rufen.
Denn auch das gehört zur Psyche eines Soziopathen: Er nimmt die Wirklichkeit nicht wahr. So, wie der Untergang der Moskwa einem zufällig ausgebrochenen Kombüsenfeuer und einem auf keiner Wetterkarte erkennbaren Sturm geschuldet war, so sind die Explosionen auf der Krim lediglich die Folge eines unbedachten Umgangs mit russischer Munition. Die Wirklichkeit ist das, was sich im Kopf des Soziopathen abspielt. Nicht das, was außerhalb des Kopfes geschieht. Mit Realität hat das nicht mehr das Geringste zu tun. Deswegen kann Putin diesen Kampf nicht verlieren – auch wenn Russland daran zugrunde gehen sollte.