Messias im Ténék

Sowohl die Messias-Funktion als auch die Annahme, mit Jesus den wahrhaftigen Sohn Gottes vor sich gehabt zu haben, haben sich erst im Laufe des ersten Jahrhunderts nc herauskristallisiert und in der sich zunehmend von seinen jüdischen Wurzeln lösenden, christlichen Glaubensauffassung manifestiert.

picture-alliance / dpa | epa AFP

Der christliche Messias basiert auf der altgriechischen Übersetzung der Evangelien. Die antiken Übersetzer bedienten sich dabei des aramäischen „méshéjah“ (M-Sh-J-H), aus dem sie ein Mεσσἰας machten. Dem aramäischen méshéjah wiederum entspricht das alt-hebräische méshéjéch (חישמ) – was insofern interessant ist, als dass dieses Wort konkret ausschließlich im Buch Daniel des Ténék zu finden ist und – anders als die aramäische Version – mit dem „jéch“ keinen Bezug zum als Kurzform des Gottes Jahɰah interpretierten „jah“ herstellt.

Daneben allerdings findet sich eine Verbform des M-Sh-(J)-cH an wenigen Stellen sowohl in der Tora (tɰrah) (M3.07/08) als auch vorrangig in den Büchern Samuel (Sa1.15/16; Sa2.12) und Könige (K1.01) sowie in den Psalmen. Hier steht es für die im Deutschen mit „salben“ verknüpften Inhalte, wobei das deutsche „salben“ in Folge der christlichen Tradition recht eindeutig einen klerikal-religiösen Charakter hat. Dieser ist bei seiner Verwendung im Ténék weitaus weniger ausgeprägt – soweit er überhaupt unterstellt werden kann. Vielmehr beschreibt er die heraushebende Ehrung einer gesellschaftlich hochgestellten, übergeordneten Persönlichkeit wie beispielsweise einem (weltlichen) Herrscher.

Im Hebräischen haben Begriffe mit einem „jéch“ häufig mit Gruppe oder Gemeinschaft zu tun, können aber auch eine Verb-Funktion beschreiben. Ein „mésh“ findet sich in „méshá“ (אשמ) für Fracht oder zu transportierende Last und – zumindest im modernen Ivrit – auch für eine prophetische Vision. Als „més“ (סמ) steht es für Steuern beziehungsweise Abgaben an staatliche Institutionen, woran wir unschwer erkennen können, dass die Last der Steuern im Hebräischen durchaus vorpekuniären Ursprung hat.

Ein méshéjéch könnte daher im Altsemitisch ursprünglich entweder für jemanden stehen, der – auch im übertragenen Sinne – die Lasten der Gemeinschaft trägt, oder auch für jemanden, der für das Einnehmen staatlicher Abgaben zuständig gewesen ist. Jemand, der „gesalbt“ wird, wäre in diesem Verständnis eine Person, die von höherer Stelle für die entsprechenden Aufgaben ausgewählt und – mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet – auf den Weg geschickt wurde.
Hinsichtlich der im Ténék gesalbten mélékjm Sháɰl, Déɰéd und Shélémah (Saul, David, Salomo) kann dieses als Bild ebenso verstanden werden wie beim Jesus der noch jüdisch geprägten Evangelien: Die mélekjm tragen die Last der Verantwortung für die Gemeinschaft ihres Volkes – und Jesus nimmt die Last der Schuld der Gemeinschaft auf sich.

Messias bei Daniel

Werfen wir einen Blick auf die einzige Stelle des Ténék, in der ein méshéjéch unzweifelhaft als Substantiv verwendet wird (Daniel/Dénéjál 9), so findet dort diese Interpretation deutliche Unterstützung.

Es ist offensichtlich, dass die nur scheinbar prophetische Passage in Da.0925, die im Ténék auf das erste Jahr des Darius (Déréjɰsh)* datiert wird (folglich auf das Jahr 521/520 vc), einen recht konkreten, weltlichen Inhalt beschreiben kann.

Da.0925 So wisse denn und verstehe: Vom Ausgehen des Wortes, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis auf den Messias [Gesalbten], den Fürsten, sind sieben Wochen und 62 Wochen. Straßen und Gräben werden wiederhergestellt und gebaut werden, und zwar in Drangsal der Zeiten.
Da.0926 Und nach den 62 Wochen wird der Messias [Gesalbte] weggetan werden und nichts haben. Und das Volk des kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, und das Ende davon wird durch die überströmende Flut sein; und bis ans Ende: Krieg, Festbeschlossenes von Verwüstungen.

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Unterstellen wir, dass die Formulierung – sollte sie prophetisch zu verstehen sein – eine nachträglich rückdatierende Prophezeiung aus der Situation heraus – ein vaticinium ex eventu – ist, so könnte darin ein Hinweis auf die künftige Tätigkeit des persischen Staatsdieners Néchéméjah (Nehemia) zu erkennen sein, der 444 vc zum Statthalter über Jerusalem ernannt worden sein soll und die eigentliche Aufgabe der Ansiedlung der im mesopotamischen Kernland angeworbenen Siedler übernahm.

Deutlich unmittelbarer ist jedoch der Bezug auf den Wiederaufbau des ehemaligen Haupttempels der Áshérah als jüdisches Gotteshaus in Jerusalem unter Ssérébébél, der diesen als persischer Statthalter im Jahr 515 vc und damit fünf Jahre nach der Inthronisation des Déréjɰsh vollendet haben soll. Es fände sich damit im Buch Daniel die Bestätigung für den Aufbau-Auftrag eines „Serubabel“ (Ssérébébél, was als „Sproß Babels“ übersetzt wird und sowohl ein Eigenname, aber auch nur ein Hinweis auf seine staatliche Auftragsfunktion für Babylon als „Zar [Fürst] für Babel“ sein kann), wie er u. a. in Sacharia 06.12 dargestellt wird.

Dieser, der als Nachfolger oder sogar leiblicher Nachkomme des 597 vc anlässlich der ersten Disziplinierungsaktion der Babylonier nach Babylon in Geiselhaft gegangenen jahudahischen Kurzzeitherrschers Kénéjah/Jɰjékjn dargestellt wird, ist im Sinne des Buches Daniel tatsächlich ein „Gesalbter“, indem er durch den obersten, göttlichen Herrscher Babylons den persönlichen Auftrag als Statthalter bekommen hat.

Im Ténék lautet die entsprechende Formulierung für den jeweiligen Statthalter der Hegemonialmacht „méshéjéch négéjéd“ (דיגנ חישמ). Soweit sich das négéjéd auf den Stamm des négéd (דגנ) zurückführen lässt, beschreibt es erst einmal nichts anderes als das „Gegenüber“. Als négéjéd oder négjd steht es für einen „Vornehmen“. Es findet sich beispielsweise auch in der äthiopischen Herrscherbezeichnung des „Negus“. Es macht Sinn, sich hier den Ursprung des Begriffs in einer vom Obersten Führer unmittelbar als „ihm gegenüber“ bevollmächtigten Person zu denken.

Elberfeld übersetzt das „méshéjéch négéjéd“ als „den Messias, den Fürsten“, während Luther von „Christum dem Fürsten“ und die Evangelische Übersetzung von „dem Gesalbten, einem Fürsten“ spricht. Tatsächlich steht dort, wenn wir den „Vornehmen“ als jemanden begreifen wollen, der das Recht hat, dem Herrscher unmittelbar ins Antlitz zu schauen, ohne direkten Artikel „gesalbter Vornehmer“. Wäre die Elberfelder Übersetzung korrekt, so hätten wir im Quelltext auf ein „Gesalbter UND Vornehmer“ (דיגנו חישמ) im Sinne einer Aufzählung der Eigenschaften des Bezeichneten stoßen müssen. Luther orientiert sich notwendig an seiner griechischen Bibelversion und quält sich zu einem im theologischen Sinne unsinnigen „Christum dem Fürsten“ durch.

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Die evangelische Übersetzung verkennt, dass „der Gesalbte“ im Quelltext „ein Gesalbter“ ist – was notwendig darauf hinweist, dass Jesus damit keinesfalls gemeint sein kann. Denn: Wo es „einen“ Gesalbten gibt, da wird es auch andere Gesalbte geben. Das wiederum widerspräche dem christlichen Verständnis, dass es nur einen einzigen Messias gibt, der in der Person des Gottessohnes in Erscheinung getreten ist, führt aber gleichzeitig den Beweis, dass die Messias-Funktion des Jesu in der antiken Welt kein Alleinstellungsmerkmal gewesen sein kann.

Tatsächlich wird die Daniel-Passage korrekt als „ein gesalbtes Gegenüber (des Herrschers)“ im Sinne der Genitivbildung im Hebräischen (Constructus-Verbindung) zu interpretieren sein – was die andernorts im Ténék beschriebene, staatsbeauftragte Funktion des Ssérébébél (Serubabel) ebenso wie die spätere des Néchéméjah (Nehemia) perfekt beschreibt. Der „Vornehme“ als Gegenüber des Herrschers wird innerhalb des Beamtenapparats des Herrschers quasi als eine Art Hauptabteilungsleiter zu verstehen sein.

Damit nun macht auch Da.0926 Sinn: Ein „méshéjéch négéjéd“ bekommt nach einer Vorbereitungsphase von sieben Wochen (Da.0925) für seinen persischen Staatsauftrag eine Frist von weiteren 62 Wochen (rund fünfzehneinhalb Monate beziehungsweise eineinviertel Jahre) eingeräumt.

Danach endet seine Tätigkeit, ohne dass er – dieser Hinweis dürfte (nicht nur) damaligen Gepflogenheiten geschuldet sein – aus seinem Staatsauftrag zusätzlichen (materiellen) Nutzen beispielsweise über die Einnahme von ungenehmigten Abgaben als Vorteile zu eigenen Zwecken ziehen soll.

Der Hinweis auf den „kommenden Fürsten“ – gern als Prophezeiung der Zerstörung Jerusalems durch die Römer anlässlich der qénáj/Zeloten-Rebellion der Juden im Jahr 70 nc interpretiert – könnte in diesem Zusammenhang eine Verquickung mit der abschließenden babylonischen Übernahme der Stadt im Jahr 586 vc herstellen – eine historisch unzutreffende Zusammenstellung zweier unterschiedlicher Vorgänge zwecks Dramatisierung. Denkbar bleibt jedoch auch, dass dieser Zusatz erst nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer erfolgte und insofern dieser Teil des Daniel-Buches in nachchristlicher Zeit erstellt oder zumindest deutlich überarbeitet wurde.

Nicht unterbleiben soll in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass jenes „Volk“, welchem hier die Zerstörungsfunktion zugeschrieben wird, im alttestamentarischen Verständnis in der Regel die bewaffneten Männer – gern auch das „Heer“ – meint. Zu beachten ist, dass der Quelltext hinsichtlich des „Fürsten“ von einem דיגנ (N-G-J-D oder négéjéd/négid) spricht. Hiermit ist im Althebräisch erst einmal nichts anderes als ein „Vornehmer“ gemeint – und es kann folglich sowohl ein persischer Staatsbeamter wie jede andere hochgestellte Persönlichkeit sein.

Fassen wir diese Überlegungen zusammen, so kommen wir zu dem Schluss, dass die Daniel-Passagen mit einer Figur Jesus nicht das Geringste zu tun haben müssen. Der Bezug auf den christlichen Messias ist insofern nichts anderes als die christlich-klerikale Interpretation eines Textes, der zu einer Zeit entstanden ist, als an einen Messias Jesus überhaupt noch nicht zu denken war.

Der Messias des Buches Daniel ist insofern tatsächlich nichts anderes als ein hochgestellter persischer Beamter, der innerhalb eines bestimmten Zeitraumes eine Aufgabe zu erfüllen hat.

Messias in den Evangelien

In den christlichen Evangelien findet sich der Begriff des (aramäischen) Méshéjah, nunmehr mit konkretem Jahwah-Bezug versehen, zweimal.

Jesus bei Johannes

In Joh01.41 wird dargestellt, wie mit Andreas und Simon die ersten beiden Jünger zu Jesus finden. Andreas bezeichnet den Jesus gegenüber seinem Bruder Simon als „Messias“, woraufhin sich beide dem „Rabbi“ Jesus anschließen. Dieser findet zuerst seinen eigenen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden.

Hier ist deutlich der frühe, judenchristliche Einfluss zu erkennen. Zwar war der persische Réb, von dem sich der jüdische Rabbi ableitet, nicht zwingend ein Mann des Klerus, jedoch hatte sich zur Zeit des Jesus der Begriff des Rabbi als (Schrift)gelehrter des Glaubens (nicht jedoch als Priester) längst etabliert.

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Parallel dazu hatte die ursprünglich auf den mélék Jéáshéjah (Josia – t 609 vc – vergl. Biblikon Bd. 2) bezogene Heilsbringerfunktion eine eigene Dynamik entfaltet, die nicht zuletzt über das Buch Sacharia (ßékéréjah) die Vorstellung eines endzeitlichen Heilsbringers sich verselbständigen ließ. Der Gesalbte des Johannes verknüpft in Joh01.41 auf diesem Wege jüdische Gelehrsamkeitstradition mit Volksglauben.

In Joh04.25 wird eine Episode geschildert, in der Jesus mit einer Samaritanerin spricht, welche darlegt, dass ihnen, den Bewohnern der Stadt Samaria/Shémérɰn(ah), bekannt sei, dass ein Messias kommen werde. Jesus gibt sich daraufhin als dieser zu erkennen. Das Weib spricht zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, welcher Christus genannt wird; wenn jener kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.

Jenes „welcher Christus genannt wird“ ist offensichtlich eine von griechischen Übersetzern hinzugefügte Erläuterung. Im Zusammenhang mit dem Besuch Gabriels bei Maria, bei dem man als Betrachter der biblischen Geschichte in den Evangelien einen entsprechenden Messias-Hinweis erwarten könnte, findet sich hingegen eine Messias-Ankündigung nicht.

Lukas, der den Vorgang zwischen Gabriel und Maria recht ausführlich beschreibt, spricht davon, dass das Kind der Maria „Sohn (des) Höchsten“ genannt und ihm von Gott der Thron des (Vor)Vaters David gegeben werde – was nicht bedeutet, dass Jesus DER Sohn Gottes ist, sondern vielmehr davon ausgegangen wird, dass Jesus in der vorgeblichen, weltlichen Herrscherdynastie der Daviden die weltliche Herrschaft über die Juden erlangen wird.

Luk01.30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade bei Gott gefunden;
Luk01.31 und siehe, du wirst im Leibe empfangen und einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus heißen.
Luk01.32 Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott, wird ihm den Thron seines Vaters David geben;
Luk01.33 und er wird über das Haus Jakobs herrschen ewiglich, und seines Reiches wird kein Ende sein.

Bei sachlicher Betrachtung stellt sich diese Ankündigung des Gabriel allerdings in zweifacher Position als Falschaussage dar: Weder gelang es dem Menschen Jesus, weltlicher Herrscher über die Juden zu werden (was nach den von ihm in den Evangelien mitgeteilten Äußerungen auch nie sein Ziel gewesen ist), noch gelang es dem Gottessohn Jesus, die Juden spirituell für seine Lehre zu gewinnen.

Bemerkenswert ist weiterhin, dass mit dem Hinweis auf das „Haus Jakob“ eine Formulierung des Ténék gewählt wurde, die dort eine Unterscheidung zwischen den Bewohnern der Region Jahɰdah und der Region Jéshéréál vornimmt (so in M2.1903, Ps.114, Jes.1020 u.a., Jer.0204 u.a., Mi.0309). Dieses macht zumindest deutlich, dass Lukas umfassende Kenntnis der heiligen Bücher der Juden hatte.

Jesus bei Matthäus

Ähnlich betrachtet Matthäus die Situation. Er beschreibt Jesus als Nachkommen des Abraham (ábérahém) in zweiundvierzigster Generation (Mat01.17). Matthäus sieht den Erzeuger des Kindes der bislang laut Evangelien unberührten Maria im Heiligen Geist (Mat01.20) (Ruach HaQodesh, aram. / ruch h’qudésh, hebr. – Atem des Heiligen). Als „König der Juden” – vergleichbar der Lukas-Darstellung – wird er erst durch die entsprechenden Einlassungen der „Zauberer” (Magier im Sinne von Gelehrte, nicht weltliche Könige) aus dem Osten, also Mesopotamien, (Mat02.02) ausgewiesen.

Mat01,17 So sind nun alle Geschlechter von Abraham bis auf David vierzehn Geschlechter, und von David bis zur Wegführung nach Babylon vierzehn Geschlechter, und von der Wegführung nach Babylon bis auf den Christus vierzehn Geschlechter.

Mat01.18 Die Geburt Jesu Christi war aber also: Als nämlich Maria, seine Mutter, dem Joseph verlobt war, wurde sie, ehe sie zusammengekommen waren, schwanger erfunden von dem Heiligen Geiste.
Mat01.19 Joseph aber, ihr Mann, indem er gerecht war und sie nicht öffentlich zur Schau stellen wollte, gedachte sie heimlich zu entlassen.
Mat01.20 Indem er aber solches bei sich überlegte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen; denn das in ihr Gezeugte ist von dem Heiligen Geiste.
Mat01.21 Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus heißen; denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden.
Mat01.22 Dies alles geschah aber, auf daß erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, welcher spricht:
Mat01.23 “Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emmanuel heißen”, was verdolmetscht ist: Gott mit uns.
Mat01.24 Joseph aber, vom Schlafe erwacht, tat, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm sein Weib zu sich;
Mat01.25 und er erkannte sie nicht, bis sie ihren erstgeborenen Sohn geboren hatte; und er hieß seinen Namen Jesus.

Der Heilige Abend
Die Geschichte von der Geburt Jesu 
aus dem Evangelium für Selbstzweifler
Für Matthäus stellt das Erscheinen Jesu quasi den Beginn eines vierten jüdischen Zeitalters dar. Nach seiner Listung beginnt das erste dieser Zeitalter mit Abrahams Ausmarsch aus Mesopotamien und endet mit dem jüdischen mélék Déɰéd / König David). Das zweite Zeitalter endet mit der Zerstörung Jerusalems durch die Truppen Babylons und das dritte mit eben der Geburt Jesu. Jedem dieser Zeitalter werden vierzehn Generationen zugeordnet, wodurch wiederum eine Zahlenmagie entwickelt wird, die zu jener Zeit einen mystischen Wert an sich darstellte. Bemerkenswert an dieser Zeittafel des Matthäus ist die Tatsache, dass im jüdischen Selbstverständnis die entscheidende Zäsur – neben der späteren Zerstörung des Tempels durch Nebukadnerzar – der Auszug der Hebräer aus Ägypten unter Mose ist. Das könnte darauf hindeuten, dass sich Matthäus eher einer abrahamitischen denn mosaischen Tradition verpflichtet sah.

Unterstellen wir eine Zahlenmystik, so basiert diese auf zwei nachvollziehbaren Fakten. Zwischen der Zerstörung Jerusalems und der Geburt Jesu waren knapp 600 Jahre vergangen. Zwischen der legendären Figur David und der Zerstörung Jerusalems sind ebenfalls rund 600 Jahre zu verorten. Abrahams Auszug aus Mesopotamien hätte demnach in der Zahlenmystik um 1800 vc erfolgt sein müssen. Demnach hätte in der logischen Fortsetzung das vierte jüdische Zeitalter um 600 nc, das fünfte um 1200 nc und das sechste Zeitalter um 1800 nc enden müssen. Zumindest das Erscheinen des Méhéméd/Mohammed im siebten Jahrhundert würde in diese Zahlenmystik passen, was die Frage gestattet, ob entweder die vorgeblich prophetischen Taten des Méhéméd (im Falle einer realen Persönlichkeit) oder die Entwicklung einer Méhéméd-Legende in diesem Zusammenhang zu sehen sind, Méhéméd sich also gezielt und vorsätzlich einer solchen Zahlenmystik bediente.

Jesus bei Markus

Markus sieht in Jesus unmissverständlich einen „Sohn Gottes”, der bereits im Buch Jesaja prophezeit worden sei. Eine entsprechende Prophezeiung findet sich in Jes.1101 für einen „Spross des Isai” – somit einen Daviden. Wenn allerdings, wie im „Biblikon-Projekt” dargelegt, das Buch Jesaja in seinem Kern eine Edition über das Leben des jahudahischen Mélék Jéáshéjah (Josia) ist, dann bezieht sich Markus über seinen Jesaja-Hinweis auf K1.1302, wo die Geburt dieses bedeutendsten Herrschers der Jahɰdahjm ebenfalls im Sinne eines vaticinium ex eventu vorhergesagt wird.

Mar01.09 Und es geschah in jenen Tagen, da kam Jesus von Nazareth in Galiläa, und wurde von Johannes in dem Jordan getauft.
Mar01.10 Und alsbald, als er von dem Wasser heraufstieg, sah er die Himmel sich teilen und den Geist wie eine Taube auf ihn herniederfahren.
Mar01.11 Und eine Stimme geschah aus den Himmeln: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.

Mar09.05 Und Petrus hob an und spricht zu Jesu: Rabbi, es ist gut, daß wir hier sind; und laß uns drei Hütten machen, dir eine und Moses eine und Elias eine.
Mar09.06 Denn er wußte nicht, was er sagen sollte, denn sie waren voll Furcht.
Mar09.07 Und es kam eine Wolke, welche sie überschattete; und eine Stimme kam aus der Wolke: Dieser ist mein geliebter Sohn, ihn höret.

Sie folgten dem Stern
Die Weisen am Hof des Herodes auf dem Weg zum messianischen Kind
Es soll nicht der Hinweis unterschlagen werden, dass die Formulierung in Mar01.11 im zeitgenössischen Verständnis nicht zwangsläufig auf einen genetischen Sohn hinweist. Der Hinweis auf das „Wohlgefallen“, das Gott an Jesus gefunden habe, kann durchaus im Sinne einer conditio verstanden werden, welche die Voraussetzung für die in der nahöstlichen Antike gebräuchliche Sohn-Funktion ist, welche diese als genetische Linie ausschließlich über die Hinzufügung des Hinweises „aus den Lenden“ definitiv festschreibt. Demnach aber wäre Jesus eben nicht ein Sohn Gottes im Sinne der christlichen Dreifaltigkeit, sondern lediglich jemand, der in seinen Taten und Handlungen derart wirkt, dass er wie ein Sohn Gottes im Sinne eines uneingeschränkt ergebenen Dieners durch Gott selbst anerkannt wird.

Jesus wäre demnach bei seiner Geburt erst einmal nichts anderes als ein Menschenkind mit menschlichem Vater und menschlicher Mutter.
Es passt zu dieser Darstellung, dass Markus in seinem Buch gänzlich auf die Szene verzichtet, in der ein „Heiliger Geist“ die Maria ohne deren Zustimmung zur Austrägerin eines Sohnes Gottes bestimmt, sie also missbraucht im Sinne einer ungeschlechtlichen Vergewaltigung – und es passt die Darstellung durch Markus wiederum zu der Position der orientalisch-christlichen Ostkirchen ebenso wie zu der Beschreibung des Jesus als Prophet im Qérén/Koran des Islam.

Jesus bei Johannes

Das Buch Johannes lässt den Vorgang um die Zeugung und Geburt des Jesu ebenfalls völlig außen vor. Es verweist hingegen auf das Zeugnis des Täufers Johannes, wobei letztlich auch hier auf das Jesaja-Buch Bezug genommen wird.

Joh01.32 Und Johannes zeugte und sprach: Ich schaute den Geist wie eine Taube aus dem Himmel herniederfahren, und er blieb auf ihm.
Joh01.33 Und ich kannte ihn nicht; aber der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der sprach zu mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herniederfahren und auf ihm bleiben, dieser ist es, der mit Heiligem Geiste tauft.
Joh01.34 Und ich habe gesehen und habe bezeugt, daß dieser der Sohn Gottes ist.

Das wiederum spricht dafür, dass die ursprünglich auf Jéáshéjah zugeschriebene Prophezeiung sich tatsächlich im jüdischen Glaubensleben verselbständigt und ihren historischen Bezug verloren hatte. In Joh01.34 lässt Johannes, der Evangelist, Johannes, den Täufer, bezeugen, dass „dieser [Jesus] der Sohn Gottes ist”.
Derzeit wird die Auffassung vertreten, dass das früheste Evangelium jenes des Markus ist. Gegen diese Auffassung allerdings spricht die erkennbar deutliche Nähe zum Johannes-Evangelium, welches wiederum als jüngstes betrachtet wird. Angesichts der Auslassung der Zeugung und Geburt Jesu ebenso wie der eindeutig mystifizierten Sohn-Gottes-Rolle desselben dürfte die gängige, zeitliche Zuordnung des Johannes-Evangeliums in die späte zweite Hälfte des ersten Jahrhunderts nc zutreffend sein.

Hingegen deutet die Schwerpunktlegung auf die David-Nachfolge des Jesu und dessen Anspruch auf die weltliche Herrschaft auf eine frühe Phase der Entstehung des Christentums hin – jene Zeit, zu der die Anhänger dieser Religionsauffassung eindeutig jüdisch geprägt waren. Sowohl die Messias-Funktion als auch die Annahme, mit Jesus den wahrhaftigen Sohn Gottes vor sich gehabt zu haben, haben sich insofern erst im Laufe des ersten Jahrhunderts nc herauskristallisiert und in der sich zunehmend von seinen jüdischen Wurzeln lösenden, christlichen Glaubensauffassung manifestiert.

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Kommentare ( 15 )

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dobbi
3 Jahre her

Herrlich zu lesender Artikel.
Das richtige Katerfrühstück zum Neujahrsmorgen ;)). Vielen Dank. Das mentale System entspannt sich und ist endlich zurück auf Wissenswertes fokussiert.
Schön, dass es auch noch andere Mindgames gibt als die redundante Coronaplatte in ihrer eingebrannten Rille als Dauerschleife des versunkenen Jahres 2020nc. Nochmals danke.
Ich konnte so schön in ihren Text eintauchen, dass ich all die Badnews ganz vergessen habe.
Wann und wo gibts das Buch dazu und wie heißt es?

(Ich hoffe, Sie haben nicht Silvester mit Schreiben verbracht, weils keine Böller gab…?)

Biskaborn
3 Jahre her

Hochinteressant, vielen Dank für diese umfassende Darstellung!

olive
3 Jahre her

Spannend, danke Herr Spahn und Ihnen ein Gutes Neues Jahr.

Waehler 21
3 Jahre her

Der Glaube, fast jedweder, ist die Arroganz der Menschen einen universellen Sinn zu proklamieren und ein Schöpferwesen in seine eigenen Ketten zu legen, es dienbar zu machen.
Alleine die Tatsache, dass es einem Gott nicht zugestanden wird, dass er seine Meinung nicht ändert kann/ darf, ist Häresie. Offensichtlich haben nur Menschen das Recht ihre Meinung zu ändern!
Denn wäre es so, müßten neue Herolde her, die diese abweichende Meinung verkünden. Vermutlich aber würden wir sie einsperren oder in einigen Gegenden der Welt mit den Tot bestrafen.

Deutscher
3 Jahre her
Antworten an  Waehler 21

Es darf hier auch an den politischen Islam gedacht werden: Deren allmächtiger Gott ist nicht mal mächtig genug, sich selber gegen die, die ihn beleidigen, zu wehren. Er braucht dazu ein paar vollbärtige, ungewaschene Schwerstverbrecher mit Schnellfeuergewehren aus ehemals kommunistischer Produktion.

Last edited 3 Jahre her by Deutscher
Deutscher
3 Jahre her

„Sowohl die Messias-Funktion als auch die Annahme, mit Jesus den wahrhaftigen Sohn Gottes vor sich gehabt zu haben, haben sich erst im Laufe des ersten Jahrhunderts nc herauskristallisiert und in der sich zunehmend von seinen jüdischen Wurzeln lösenden, christlichen Glaubensauffassung manifestiert.“ Na, dann haben die Moslems wohl doch recht: Es gibt keinen Sohn Gottes, demnach ist Weihnachten eine Gotteslästerung. Mal ehrlich: Die monotheistischen Buchreligionen aus 1000 und einer Nacht sind nichts als Konstrukte aus Vermutungen, Märchen, Halbwahrheiten, Behauptungen und Lügen, basierend auf irgendwelchen Geschichten, von denen niemand weiß, wer sie aufgeschrieben, abgeschrieben, umgeschrieben hat. Anstatt das Göttliche im Augenblick zu… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Deutscher
Linkskatholik
3 Jahre her
Antworten an  Deutscher

Das klingt aber auch fundamentalistisch.

Leonor
3 Jahre her

Es kostet etwas Durchhaltevermögen nach der Silvesternacht diesen anspruchsvollen Artikel zu lesen. Aber den Genuss Herrn Spahn zu lesen kann ich mir nicht nehmen.
Danke lieber Herr Spahn für das Jahr voller wunderbaren Werke von Ihnen. Sie sind einer der Hauptgründe für mich täglich auf TichysEinblick unterwegs zu sein! Ein gutes neues Jahr für Sie!

AJMazurek
3 Jahre her

Eine spannende Interpretation. Im 2. Jh. rief aber Rabbi Akiba, ein wichtiger Kommentator des Talmud, den Rebellen Bar Kochba (Sohn des Sterns) zum Messias aus. Beide starben durch die Römer einen fürchterlichen Tod. Im 17. Jh. wurde Schabbtai Zwi als Messias gefeiert, bevor er Muslim wurde …

Andreas aus E.
3 Jahre her

Uff, schwere Kost zum Jahresbeginn – danke dafür!
Den Artikel werde ich mir abspeichern, gar ausdrucken, zwecks geruhsamer Lektüre.

Bis dahin erfreue ich mich an meiner „heidnischen“ Deutung – dernach das Weihnachtsgeschehen schlicht abbildet, was in nicht wenigen naturreligiösen Betrachtungen erkennbar, was Sache ist in der Natur: Dunkelste Nacht, bald wird (hoffentlich!) Frühling kommen, dann Sommer, im Herbst geht es ans Absterben usw., ewige Wiederauferstehung.

Frohes Neues!

Deutscher
3 Jahre her
Antworten an  Andreas aus E.

Stimme zu! Wer die Natur – nennen wir es ruhig auch Schöpfung – zu lesen weiß, bleibt von den Lügen der Bücher unbeeindruckt.

Unsere europäischen Vorfahren wussten Bescheid. Wir entdecken ihr Wissen heute wieder oder erarbeiten es uns von neuem. Das ist der spirituelle Heilungsprozess, den Europa braucht.

Leroy
3 Jahre her

Die ersten neutestamentarischen Aufzeichnungen stammen aus dem 2. Jahrhundert nc. Nun können Sie sich vorstellen welchen Wahrheitsgehalt eine Geschichte hat, die man sich über hundert Jahre lang am Lagerfeuer erzählt hat.Die ersten neutestamentarischen Aufzeichnungen stammen aus dem 2. Jahrhundert nc. Nun können Sie sich vorstellen welchen Wahrheitsgehalt eine Geschichte hat, die man sich über hundert Jahre lang am Lagerfeuer erzählt hat.

Talleyrand
3 Jahre her
Antworten an  Leroy

Die Evangelien sind als Schriften zwischen 70 und 100 nach Christus entstanden und nachgewiesen, zusätzlich gibt es außerbiblische Quellen aus derselben Zeit, zB in Flavius Josephus, Jüdische Altertümer ist Johannes der Täufer und Jesus beschrieben. Das sind keine Lagerfeuergeschichten. Beim Islam sieht es etwas weniger zuverlässig aus. Dort kann man eine schriftlose Überlieferung von über 150 Jahren ansetzen, wenn man die Lebenszeit Mohammeds (grob um 575-632) und die Entstehungszeit um 610 als korrekt annimmt.

Linkskatholik
3 Jahre her
Antworten an  Talleyrand

Stimmt doch, wieso Sie Minuspunkte für eine sachlich richtige Aussage bekommen ist rätselhaft.

Talleyrand
3 Jahre her

Ist es aber nicht auch so, dass in den Schriften und ihren Begriffen sich historisch konkretes mit zukünftig bildhaft erahntem an vielen Stellen merkwürdig vermischt? Und hat das etwas damit zu tun, dass Ereignisse der vordergründig linearen Zeit sich auf die immerwährende, rational unverständliche Jetzt-Gegenwart des Schöpfers zusammenziehen und darin gewissermaßen „gleichzeitig“ werden? Ich meine, Gott wohnt im „Jetzt“, in diesem menschlich unfassbaren, nicht mehr auflösbaren Quanten-„Jetzt“ quer zur Zeit, in dem für uns das Kommende noch nicht da und das Vergangene noch nicht im Vergangenen ist, in dem ein voranfänglicher Gottessohn, ein angekündigter Messias, ein geborener Jesus, ein gekreuzigter,… Mehr