Die Totengräber der Meinungsfreiheit

Die sich selbst als zivilisiert betrachtende Menschheit bewegt sich in Riesenschritten in ein Zeitalter des verkrampften Meinungsdiktats der Intoleranz jener selbsternannten Wahrheitswisser gegenüber allem, was nicht in ihr eigenes, nicht selten selbst faktenbefreites Weltbild passt.

Getty Images

Die Totenglocken werden längst geläutet. Das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz vollendete den Anfang des Geläuts – und jener Mensch, der es einst verabschieden ließ, agitiert vehement, ähnliches und noch verschärftes „Recht“ auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft und am besten auf dem gesamten Planeten zu schaffen. Seine Verbündeten in diesem Kampf sind jene, denen Freiheit schon immer ein Dorn im Auge ist, und es steht zu erwarten, dass die konzertierte Aktion jener, die sich im Besitz einer einzigen Wahrheit wähnen, das berühmt-berüchtigte „Alles“ daran setzen werden, mit der Freiheit des Internets auch der Meinungsfreiheit ein Ende zu setzen.

Die sich selbst als zivilisiert betrachtende Menschheit bewegt sich in Riesenschritten in ein Zeitalter des verkrampften Meinungsdiktats der Intoleranz jener selbsternannten Wahrheitswisser gegenüber allem, was nicht in ihr eigenes, nicht selten selbst faktenbefreites Weltbild passt. Dabei bewegen sie sich selbst nicht selten in den Fesseln des Nonfaktischen, welches nur allzu oft wider die Wahrheit bestimmt, was als Wahrheit zu gelten hat und was sie als vorgebliche „Lüge“ den von ihr als solche behaupteten „Leugnern“ anzulasten willens sind.

Die europäische Hochkultur des Geistes und der Durchdringung der Erkenntnis, aus der die Zivilisationen der Moderne werden sollte, beerdigt die Werte, die ihre eigentliche Grundlage gewesen sind. Weil sie es nicht mehr aushält, die Dummheit und Ignoranz des Anderen zu tolerieren, macht sie ihre eigene Dummheit und Ignoranz zum Maß aller Dinge. Jene Maßstäbe, die einst denkende Europäer setzten, vergehen im Kleingeist der Kleingeister, die eine sich selbst minimierende Erkenntnisgesellschaft an ihre Stelle gespült hat.

Teil 1 – Von Toleranz und Meinungsfreiheit

Die Irrationalität der Welterklärungsmodelle physischer und metaphysischer Kollektivisten, (pseudo)politischer und (pseudo)religiöser Welterklärer sowie die beiden gemeinsame Orientierung auf einen determinierten Endzustand des menschlichen Seins ist ohne Zweifel ein nicht zu unterschätzendes Element bei der Erklärung der Entwicklung von Staat und Gesellschaft im ersten Jahrhundert des dritten nachchristlichen Jahrtausends.

Das eine – das, was als Religion daherkommt – ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Es diente seit eh nicht nur dem Zweck, für das Gegenwärtige des Unerklärlichen Erklärungen zu finden, sondern auch und maßgeblich dem Ziel, durch die Herbeirufung höherer Mächte die Masse Mensch, den lenkbaren Sklaven und Untertan ebenso wie den selbstbewussten Bürger, gefügig zu machen zur Unterwerfung unter die gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen der Herrschenden. Im Biblikon-Projekt hatte ich maßgeblich anhand der Figuren des jahudaischen Herrschers Josia (JéAshéjah, der das Feuer von Jah ist) und des vermeintlichen Propheten Jeremia (Jéréméjah – der der von Jah Erhobene ist und der in der realen Welt ein Agent Babylons war) aufgezeigt, wie die Fixierung auf eine einzige Figur der göttlichen Macht, inkarniert im Herrscher von Babylon, in der Lage gewesen ist, die Basis zu einer Glaubensphilosophie zu legen, welche vielfältig bis in die Gegenwart wirken sollte.

Das andere – das, was als politische Ideologie daherkommt – ist zumeist jünger und angesichts des fehlenden Auftrages einer höheren Macht weniger langlebig. Es ersetzte, wie es Karl Marx in perfekter Vollendung tat, unter der Prämisse der Aufklärung als Überwindung eines göttlichen Auftrages diesen durch eine vorgebliche Wissenschaftlichkeit, die die gesellschaftlich-politische Entwicklung als Zwangsläufigkeit der Geschichte definiert und das Heil nicht in einer fiktiven Vision des himmlischen Paradieses sucht, sondern in einer nicht minder fiktiven, gesellschaftlichen Idealvorstellung.

Letztlich sind beide Wege nichts anderes als die beiden Seiten derselben Medaille. Die Fiktion, der Glaube als Wahrheitsannahme einer unbewiesenen und unbeweisbaren Wahrheitsvermutung, ersetzt den vernunftbedingten Pragmatismus der Kant‘schen Prämisse des sapere aude: Gebrauche Deinen Verstand! Gebrauche ihn, um die Welt zu verstehen – missbrauche ihn hingegen nicht, um die Vorstellungen des Irrealen gegen das Reale durchzusetzen.

Das Grundprinzip menschlicher Ethik

Darauf – und ausschließlich darauf – basiert der Kategorische Imperativ als Grundprinzip menschlicher Ethik: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Denn Gesetz, diese Regel, die eine Gesellschaft sich selbst gibt, um als solche funktionsfähig zu sein, war für Kant nur dann Gesetz, wenn es der Prämisse des Verstandes, der Vernunft, entsprach. Irrationale Zielerwartungen, Wunschgebilde von etwas, das nicht ist und niemals sein wird, waren nie etwas, das Kant als Regel des gesellschaftlichen Zusammenlebens hätte akzeptieren können. Und doch erlebt das Zeitalter der Postaufklärung, das irgendwann im 20. Jahrhundert begann, die Renaissance des Nonfaktischen, dabei vorgeblich Alternativlosen. Die Begründung findet diese Wiedergeburt des Irrationalen auch darin, dass die Vernunft es scheinbar nicht nur zugelassen, sondern verursacht habe, dass in vergangenen Jahrhundert die Menschen sich in zwei sogenannten Weltkriegen massenhaft abschlachteten und ihre Zivilisationen an den Rand der Vernichtung brachten.

Die Protagonisten des Nonfaktischen, des Alternativlosen, finden zurück zu den vor-aufklärerischen Dogmen des Irrationalen, dessen, was als „Glauben“ eben nicht Faktum sein kann. Aus der Erfahrung der geplanten Selbstvernichtung schöpfen sie das Argument, die Visionen des Irrealen erneut zum unvermeidbaren Abschluss menschlicher Entwicklung zu erheben – und sie verkennen, dass der Weg in die Selbstvernichtung, den vor allen anderen die europäische Hochkultur 1914 und 1939 gegangen ist, in sich selbst bereits der Prämisse der Kant‘schen Vernunft widersprach auch dann, wenn scheinbar pragmatische und deshalb „vernünftige“ Abwägungen den Weg in den Völkerkrieg von 1914 unumgänglich zu machen schienen. Doch bereits der erbarmungslos geführte Krieg ab 1939, verknüpft mit dem größten bekannten Genozid der Menschheitsgeschichte, war ein Krieg der Überwindung der Kant’schen Vernunft. Es war der tribalistische Rückfall in die Geisteswelt der irrealen Weltfiktionen, bei denen es am Ende unbedeutend ist, ob wir sie als Religion oder Pseudoreligion, als Philosophie oder Ideologie bezeichnen.

Die Symbiose des Irrealen

In der Folge rangen scheinbar noch der atheistische Weg zum menschengemachten Paradies und der theologische zum himmlischen jeweils um die Vorherrschaft über die Vernunft – bis beide in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, ohne sich dessen bewusst zu werden, eine Symbiose eingingen. Denn sie einte die Vorstellung des Zwangsläufigen, ihre philosophische Nähe in der Vorstellung eines unvermeidlichen Automatismus‘, der am Ende der Zeit zwangsläufig zu dem führen werde, was sie jeweils als Paradies bezeichnen.

Doch reicht diese philosophische Nähe in den Zielerwartungen des Irrealen aus, um aus einer menschlichen Gemeinschaft Aldous Huxleys „Brave New World“ zu formen? Reicht der Anspruch beider, ihre jeweilige Heilsperspektive als unabänderlich autoritär durchzusetzen, um jene totalitären Modelle zu schaffen, wie sie George Orwell in seiner „Animal Farm“ und noch deutlicher in „1984“ beschrieb? Möglicherweise finden sich noch weitere Impulse, andere Motivationen, die jene kollektivistischen Autokraten des Irrealen bewegen, die Errungenschaften der europäischen Zivilisation Stück um Stück abzubauen und einer Re-Klerikalisierung der Gesellschaft durch Denk- und Diskussionsverbot näher zu kommen.

Das Ende des Freiheitsdogmas

Ist diese Entwicklung darauf zurück zu führen, dass ideologisch geprägte, mangelhaft gebildete Vertreter des postbürgerlichen Proletarismus als entbildete Elite die gesellschaftliche Führung übernahmen?

Können wir dafür vielleicht sogar „übergeordnete“ Faktoren ausmachen, die im Sinne tatsächlicher oder gefühlter Befehlsketten die Exekution der Vernichtung der Zivilisation unumgänglich, ja sogar wünschenswert erscheinen lassen?
Oder handelt es sich, wenn wir den Blick konkret auf Deutschland richten, in dem diese Entwicklung in besonderem Maße prägnant ist, vielleicht nur um das letzte Aufbäumen einer traumatisierten Generation, die in ihrer reflexartigen „Anti-Hitler-Reaktion“ den 1949 gegründeten, demokratischen Staat mit einer Anti-Hitler-Republik verwechselt und damit eine weltweit einzigartige Vergewaltigung der zivilisatorischen Werte des aufgeklärten Europas zu verantworten hat?

Die Antworten auf diese Fragen werden wir schuldig bleiben müssen. Nicht aber jene auf Fragen, die gegenwärtig kaum noch schleichend und dennoch zumeist ungestellt im Raum stehen:

Gilt Voltaires Freiheitsdogma nicht mehr, niedergeschrieben in „Questions sur les miracles“?

Der Franzose der Aufklärung postulierte:
„Le droit de dire et d’imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse. Ce privilège nous est … essentiel … ; et il serait déplaisant que ceux en qui réside la souveraineté ne pussent pas dire leur avis par écrit.“
(„Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht ist essentiell; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“)
Ist Voltaire alias François-Marie Arouet gestorben, weil die Bereitschaft fehlte, Karl Poppers „Paradoxon der Toleranz“ zu begreifen – oder man es begriff, stellte es aber in den Dienst der eigenen Intoleranz?

In „The Open Society and Its Enemies“ formulierte der Wiener:
„Less well known is the paradox of tolerance: Unlimited tolerance must lead to the disappearance of tolerance. If we extend unlimited tolerance even to those who are intolerant, if we are not prepared to defend a tolerant society against the onslaught of the intolerant, then the tolerant will be destroyed, and tolerance with them. — In this formulation, I do not imply, for instance, that we should always suppress the utterance of intolerant philosophies; as long as we can counter them by rational argument and keep them in check by public opinion, suppression would certainly be unwise. But we should claim the right to suppress them if necessary even by force; for it may easily turn out that they are not prepared to meet us on the level of rational argument, but begin by denouncing all argument; they may forbid their followers to listen to rational argument, because it is deceptive, and teach them to answer arguments by the use of their fists or pistols. We should therefore claim, in the name of tolerance, the right not to tolerate the intolerant.“
(„Weniger bekannt ist das Paradoxon der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt notwendig zum Verschwinden der Toleranz. Wenn wir uneingeschränkte Toleranz selbst auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht vorbereitet sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. – Mit dieser Formulierung will ich nicht implizieren, dass beispielsweise wir grundsätzlich die Äußerungen intoleranter Philosophien unterdrücken müssen; so lange wir ihnen mit rationalen Argumenten begegnen können und sie durch die öffentliche Meinung im Zaum halten können, wäre Unterdrückung sicherlich unklug. Aber wir sollten das Recht beanspruchen, sie, wenn notwendig, selbst mit Gewalt zu unterdrücken; sollte sich herausstellen, dass sie nicht bereit sind, uns auf der Ebene rationaler Argumentation zu begegnen, jedoch beginnen, jedem Argument durch Brandmarkung zu begegnen; sie ihren Anhängern verbieten mögen, auf rationale Argumente zu hören, weil diese betrügerisch seien, und sie ihnen lehren, auf Argumente durch den Gebrauch von Fäusten und Pistolen zu antworten. Daher sollten wir im Namen der Toleranz das Recht beanspruchen, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“)

Der Konflikt zwischen Voltaire und Popper

Bereits dem Unterschied zwischen Voltaire und Popper wohnt eine Gefahr inne, welche vermutlich dem einen wie dem anderen nicht bewusst gewesen ist.
Voltaire vertritt die Position der absoluten, uneingeschränkten Liberalität in der Meinungsäußerung. Zwangsläufig beinhaltet dieses das Recht eines jeden, auch die Abschaffung derselben durchsetzen zu wollen – und es beinhaltet die Möglichkeit, dass in einer demokratisch organisierten, freien Gesellschaft jene, die dem Argument oder der Behauptung des Gegners der Meinungsfreiheit folgen, eine Mehrheit bilden, womit die Meinungsfreiheit – und damit die freie Gesellschaft – sich um ihrer selbst willen abschafft. Das ist es, was Popper meinte, als er letztlich die Intoleranz der Toleranten den Intoleranten gegenüber beschrieb: Das Paradoxon der Toleranz.
Was nun aber, wenn der Intolerante unter Bezug auf das Popper‘sche Paradoxon die Toleranz im Namen der Toleranz als Intoleranz einfordert? Wenn also beispielsweise die Anhänger jener oben beschriebenen Philosophien des Irrationalen den nonfaktischen Ansatz ihres Weltanschauungsmodells im Namen der Toleranz gegen die vorgebliche Intoleranz der Toleranten erfolgreich zu verteidigen und durchzusetzen meinen müssen?

Die Merkmale des Heuchlers

Der frühere Muslimbruder und Islamkritiker Hamed abdel-Samad postulierte am 8. November 2018 in einem Beitrag bei Facebook diese Situation beispielhaft unter Bezug auf fundamentalistische Anhänger Mohammeds, jenes frühmittelalterlichen Schöpfers einer klerikalpolitischen Weltanschauung:
„Zehn Zeichen, woran man einen skrupellosen Heuchler erkennen kann:

1. Er bejubelt die Wahl einer muslimischen Frau zum US-Kongress, protestiert aber, dass ein Christ Bürgermeister in Ägypten oder ein Jude Tourismusminister in Tunesien wird.

2. Er will im Westen Moscheen bauen und missionieren, lehnt aber die Errichtung von Kirchen und Bahai Tempeln in seiner muslimischen Heimat.

3. Er will eine Christin im Westen heiraten und will, dass sie zum Islam konvertiert, lehnt aber die Ehe zwischen einer Muslimin und einem Christen strikt ab

4. Er will, dass eine muslimische Frau mit Kopftuch in Österreich und Deutschland Richterin wird, akzeptiert aber ihre Zeugenaussage vor einem islamischen Gericht nicht und lehnt ihre Gleichberechtigung in der Erbschaft ab.

5. Er betrachtet das Nichttragen vom Kopftuch und Homosexualität als schwere Sünde, Atheismus als Verbrechen, aber das Tragen von Niqab und Burka als persönliche Freiheit.

6. Er wählt rechtsextreme Islamisten in seiner Heimat, die für Unfreiheit, Schließung und moralische Kontrollen werben, aber im Westen votiert er für linksliberale Parteien, die für mehr Öffnung und Vielfalt sind.

7. Er beschreibt Andersdenkende und Andersgläubige als ungläubig, unmoralisch und unrein, flippt aber selbst aus, wenn man ihn [als] radikal bezeichnet, und nennt das Rassismus. Und an Ende besteht er darauf, dass seine Religion die Religion des Friedens und der Toleranz sei.

8. Er kritisiert, was Buddhisten mit Muslimen in Burma oder Israelis mit Palästinensern in den besetzten Gebieten machen, drückt aber ein Auge zu, wenn Muslime ihre christlichen Nachbarn angreifen und töten. Nicht einmal um Muslime im Jemen kümmert er sich. Denn für ihn sind die Täter wichtiger als die Opfer.

9. Er will, dass der Westen sich nicht in die Angelegenheit der islamischen Länder einmischt, macht aber im Westen Politik und Lobbyarbeit zu Gunsten von Erdogan, Katar und dem Iran, und versucht die hiesige Bildungspolitik und Justizwesen zu unterwandern.

10. Kurzum: Er will im Namen der Toleranz für ihn maßgeschneiderte Menschenrechte und Privilegien, die er den anderen verweigert. Seine Intoleranz versteht er aber als kulturelle Besonderheiten, die den Westen bereichern!“
Das Paradoxon des Paradoxons der Toleranz

Dieses Paradoxon des Paradoxons der Toleranz findet sich auch, wenn beispielsweise der Justizminister einer Bundesrepublik Deutschland, die in ihrem staatlichen Manifest die Meinungsfreiheit als absolut definiert, die Internetzensur einführt und gleichzeitig den folgenden Satz veröffentlicht:
„Meinungsfreiheit kann nur in einem gesellschaftlichen Klima bestehen, in dem niemand wegen seiner Haltung und seiner Meinung bedroht wird oder gar um Leib und Leben fürchten muss – weder um das eigene noch um das seiner Familie.“

Einmal abgesehen davon, dass mit dem Begriff „Haltung“ etwas in die Diskussion eingeführt wird, das per se irrational ist, impliziert dieser Satz den Anspruch, im Namen der hier definierten Meinungsfreiheit eben genau diese dort nicht gelten zu lassen, wo daraus eine Bedrohung zu werden scheint. Beachtet werden muss hierbei, dass der Autor Heiko Maas mit dem „oder gar“ die Bedrohung für Leib und Leben als die eine Situation beschreibt, somit jedoch eine Bedrohung „wegen seiner Haltung und seiner Meinung“ als ein anderes, für sich allein stehendes Bedrohungsszenario versteht. Es geht folglich nicht nur darum, dass der Drohende, der Intolerante, die unmittelbare Bereitschaft erkennen lässt, den Bedrohten, den Toleranten, in Leib oder gar Leben zu schädigen. Die Bedrohung im Sinne des nicht Zulässigen beginnt bereits in dem Moment, wo die „Haltung und Meinung“ des vorgeblich Toleranten sich bedroht fühlt – also ein subjektives anstelle eines realen Bedrohungsgefühls vorliegt.

Dabei zeichnet sich die Aussage des Ministers – und damit dessen Wollen selbst – bereits durch etwas aus, was wir in Anlehnung an Popper als das Paradoxon der Bedrohung bezeichnen könnten. Denn die Abwehr einer realen oder fiktiven Bedrohung erfordert eben diese Bedrohung gegen jenen, der als Ziel der Abwehr erkannt wird. Wenn es das Ziel ist, dass niemand „wegen seiner Haltung und Meinung“ bedroht wird, dann darf auch derjenige, dessen Haltung und Meinung als Bedrohung der Meinung und Haltung eines anderen empfunden wird, nicht wegen seiner Haltung und Meinung bedroht werden. Doch der vermeintlich Abwehrende greift notwendig genau zu dem, was abzuwehren er als Intention vorgibt.

Teil 2 – Gesetze als Mittel gegen die Meinung

Das Bedrohungsgefühl der „Haltung“

Gesetze, die im Namen der Meinungsfreiheit die Meinungsfreiheit beschränken, werden von ihren Schöpfern begründet mit der Abwehr von Bedrohungen „gegen die Haltung und Meinung“ der Bedrohten. Aber: Unterscheiden sich „Haltungen und Meinungen“ in ihrem Schutzanspruch – und wenn ja, wodurch? Und wo beginnen diese Bedrohungen, wenn die Bedrohung bereits durch die Meinungsäußerung eines anderen erfolgen kann?

Die „Haltung“ des Irrationalen kann sich bereits bedroht fühlen, wenn sie durch die Ratio in Frage gestellt wird. Der sich selbst als religiös definierende Eiferer erkennt die Bedrohung bereits, wenn sein Philosophiemodell kritisiert, vielleicht gar abgelehnt wird; wenn, wie es der Koran formuliert, ein „Ungläubiger“ sich anmaßt, über den Koran nachdenken zu wollen. Nicht viel anders verhält es bei den Ideologen der politischen Irrationalität. Die ministerielle Differenzierung zwischen rationaler Bedrohung für „Leib und Leben“, die in strafrechtlicher Relevanz durch ein Strafgesetzbuch definiert wird, und irrationaler Bedrohung für „Haltung und Meinung“, die rational eben nicht durch ein solches definiert werden kann, offenbart hier jenen, der scheinbar in Kenntnis des Paradoxons der Toleranz die Intoleranz propagiert. Doch wenn bereits die Bedrohung im dargelegten Sinne als widersprechendes oder gegen die Haltung eines Anderen gerichtetes Wort zur Bedrohung der „Haltung“ als etwas Irrealem wird und deshalb nicht zu tolerieren ist, dann wird die Intoleranz des Toleranten zwangsläufig zur Intoleranz des Intoleranten. Poppers Intoleranzgebot des Toleranten gegenüber dem Intoleranten wird zum Instrument des Intoleranten gegen die Toleranz. Womit die von Voltaire propagierte Freiheit der Meinung durch jene, die im Sinne Kants als Irrationalisten des Ideologischen nicht bereit sind, den Argumenten des Rationalisten auf der Ebene des Rationalen zu begegnen, faktisch bereits abgeschafft ist.

Das „Recht“ als Instrument gegen die Meinungsfreiheit

Wie diese Intoleranz des Intoleranten im Namen der Toleranz konkret wirkt, erklärte besagter Minister mit einem anderen Satz, dessen Kernaussage auch aus dem Munde seiner Nachfolgerin zu hören war:

„Die Meinungsfreiheit schützt auch abstoßende und hässliche Äußerungen – sogar Lügen können von der Meinungsfreiheit gedeckt sein. Aber: Die Meinungsfreiheit endet da, wo das Strafrecht beginnt.“.

Strafrecht nicht nur in der Weise, wie der zitierte Minister, damals der Justiz, es verstehen sollte, hat jedoch mit Meinungsfreiheit nichts zu tun. Recht greift in einer freien Gesellschaft erst dann, wenn fundamentale Rechte anderer berührt werden – beispielsweise dann, wenn über fälschlich erhobene Tatsachenbehauptungen deren Ansehen geschädigt wird. Oder wenn konkrete Bedrohungen ausgesprochen, konkrete Beleidigungen und Diffamierungen verbreitet werden.

Derartige Straftatbestände sind in einem republikanischen Recht jedoch generell zu ahnden – und sie haben mit Meinungsfreiheit nicht das Geringste zu tun, nicht einmal mit dem Missbrauch derselben. Wenn ein Minister der Justiz gleichwohl meint, in einem solchen Zusammenhang den Begriff der Meinungsfreiheit einführen zu müssen, so offenbart er damit, dass nicht der vorgeblich notwendige Schutz vor Bedrohung, sondern die Meinungsfreiheit selbst das Objekt seines Handelns ist.

Meinungsfreiheit endet in einem freiheitlich-demokratischen Staat nicht dort, wo das Strafrecht beginnt – weil dieses Strafrecht notwendig nur erfassbare Strafrechtbestände des Rationalen erfassen darf, nicht aber Meinungen des Irrationalen. Das genau aber sind „Meinungen“ und „Haltungen“ notwendig immer: Auffassungen, die selbst dann, wenn sie sich auf Fakten und Tatsachen beziehen mögen, aus der persönlichen Betrachtung und Überlegung des Individuums entstehen. „Meinungen“ selbst sind keine Fakten – es sind Ansichten. Und Ansichten sind keine Wahrheiten – weshalb Meinungen auch niemals Gegenstand sogenannter „Faktenchecks“ sein können, die den Versuch unternehmen, sich auf „Wahrheiten“ zu berufen, dabei jedoch nur allzu häufig ihre eigenen Ansichten und Interpretation mit Wahrheit verwechseln.

Die Meinungsfreiheit endet nirgendwo

Wenn die Meinungsfreiheit dort „endet, wo das Strafrecht beginnt“, dann beschreibt dieses nichts anderes als die Diktatur und in einer parlamentarischen Demokratie nichts anderes als die Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit. Denn nur diese kann in einem demokratisch verfassten Staat mit einfacher Mehrheit Strafgesetze verabschieden. Damit kann sie, so sie jener falschen Behauptung aus der Exekutive folgt, jede in ihrer Begriffswelt nicht zutreffen sollende, also aus politischen Erwägungen unzulässige Aussage unter Strafe stellen.

Behauptet beispielsweise ein Mensch, der Mond bestünde aus Schweizer Käse, so ist dieses eine Behauptung, deren Richtigkeitswert durch rational-wissenschaftliche Erkenntnis unschwer als Unwahrheit zu erkennen ist. Sollte diese Aussage in dem konkreten Wissen aufgestellt worden sein, dass der Mond nicht aus Schweizer Käse besteht, so erfüllt diese Aussage als Tatsachenbehauptung die Definition einer Lüge – also einer Aussage, die laut Bundesminister der Justiz „sogar von der Meinungsfreiheit gedeckt sein kann“. Sollte eine Parlamentsmehrheit nun auf die Idee kommen, beispielsweise Lügen grundsätzlich nicht im Rahmen der Meinungsfreiheit unbestraft zuzulassen, wäre jener, der diese Behauptung aufstellt, automatisch anzuklagen.

Nun sieht es derzeit noch so aus, dass die Behauptung, der Mond bestehe aus Schweizer Käse, auch dann, wenn sie wider besseres Wissen erfolgt, kaum eine Strafverfolgung nach sich zöge. Deutlich anders aber sieht dieses dann aus, wenn jemand entgegen rational-wissenschaftlicher Erkenntnis beispielsweise die Behauptung aufstellt, es habe im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 keine Vernichtungslager gegeben. Diese seien, so die als persönliche Überzeugung des Behauptenden vorgetragene Auffassung, nichts anderes als eine vorsätzlich von den Siegermächten verbreitete Lüge. Eine solche Behauptung zieht als strafrechtlich bewehrte „Holocaust-Lüge“ zwangsläufig die Strafverfolgung nach sich – und wir können davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung diese Strafverfolgung durchaus als angemessen empfindet.

Eine Lüge ist eine Lüge – aber ist es die Unwahrheit auch?

Und doch sind es keine Äpfel, die hier mit Birnen verglichen werden. So sehr sich die Mond-Lüge von der Holocaust-Lüge in ihrer politischen und humanistischen Dimension unterscheidet, so scheinen doch beide in der sachlich-juristischen Betrachtung als Lüge identisch. Denn ihr Kerninhalt ist in beiden Fällen die Behauptung einer irrationalen Auffassung wider die rational-wissenschaftliche Erkenntnis. Wobei hinsichtlich der Beurteilung sogar die Einschränkung zu machen sein könnte, dass der Behauptende möglicherweise überhaupt nicht bewusst eine Lüge als Unwahrheit verbreitet, sondern aus welchen Gründen auch immer fest davon überzeugt ist, dass die von ihm vertretene Auffassung der Wirklichkeit, die er als Wahrheit fehlinterpretiert, entspricht.

Eine solche Situation begegnet uns selbst in der modernen, scheinbar aufgeklärten Gesellschaft tagtäglich, ohne dass wir darüber Gedanken verschwenden. Ich beziehe mich hierbei auf jenes, was gemeinhin als Religion bezeichnet wird.
In „Wahrheit – Religion – Wirklichkeit“ hatte ich dargelegt, dass Glaube die Wahrheitsannahme einer unbeweisbaren Wahrheitsvermutung und Religion der Wahrheitsanspruch dieser Wahrheitsannahme ist. Das bedeutet: Der Glaubende ist davon überzeugt, dass seine Gottesvorstellung eine unabänderliche Wahrheit ist. Tatsächlich aber kann er für diesen Glauben keinerlei rationalen Beweis erbringen – und irrationale Beweise sind solche nicht. Vielmehr weisen die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Rationalismus darauf hin, dass jene Gottesvorstellungen, wie sie in diesen Religionen behauptet werden, mit einer definitiven Wahrheit nicht das Geringste zu tun haben, sondern lediglich eine gefühlte Wirklichkeit definieren.

Die Toleranz gegenüber unbeweisbaren Wahrheitsbehauptungen

Behauptet der Gläubige nun eine Lüge, die im Sinne eines Lügen-Verbots strafrechtlich zu verfolgen wäre? Nein, sicherlich nicht. Denn in seiner individuellen Wirklichkeit kann seine Gottesvorstellung der Realität entsprechen, selbst wenn sie irreal ist. Tatsächlich behauptet er keine Tatsache, sondern eine persönliche Auffassung, die gemeinhin als Weltanschauung bezeichnet wird. Diese muss in einer freien Gesellschaft als solche grundsätzlich und immer durch die Meinungsfreiheit gedeckt sein auch dann, wenn der Behauptende den Nachweis der Richtigkeit seiner Behauptung als „Wahrheit“ nicht erbringen kann. Folgerichtig schreibt eine freie Gesellschaft die Freiheit des Glaubens und der Weltanschauung fest – sie toleriert im Sinne der Meinungsfreiheit die ständige Verbreitung von Wahrheitsbehauptungen, die solche jedoch nicht sein können, weil sie als faktenbasierte Tatsache niemals zu beweisen sind.

Dieses gilt im Bezugsrahmen des Religiösen ebenso für überzeugte Atheisten: Sie gehen davon aus, dass durch die Erkenntnis der Wissenschaften gleichsam der Anti-Gottes-Beweis erbracht sei – will sagen: Da jede rational-wissenschaftliche Erkenntnis gegen die von Religionen vertretenen Gottesvorstellungen spricht, ist die Behauptung einer Gottesexistenz zwangsläufig eine Unwahrheit. Doch auch das ist nichts anderes als eine Unwahrheit und daher eine Lüge. Denn ebenso wenig, wie der Theist die Existenz seines Gottes rational beweisen kann, kann der Atheist das Gegenteil beweisen. Beide Positionen basieren auf individuellen Annahmen und Schlussfolgerungen – und sind damit, die eine wie die andere, Meinungen ohne tatsächlichen Wahrheitsgehalt. Womit sie gleichwohl keine Lügen sind, denn der Behauptende stellt seine Behauptung nicht vorsätzlich wider besseres Wissen auf, sondern in der festen Überzeugung, es sei so, wie er es behauptet.

Die Ratio der Wahrheit

Was aber hat das nun wiederum mit Mond- und Holocaust-Lüge zu tun? Auf den ersten Blick scheinbar nichts bis gar nichts. Denn sowohl die Mondlüge als auch die Holocaustlüge scheinen in ihrer Falsch-Einordnung rational-wissenschaftlich belegbar – und somit das Vorhandensein einer vorsätzlichen Falschbehauptung und damit einer Lüge zu belegen. Doch ist das tatsächlich so?

Angenommen, der Mond-Lügner verteidigt sich damit, dass er als „Wahrheit“ nur akzeptiere, was er persönlich habe überprüfen können. Alles andere möge vielleicht so sein, wie es von anderen behauptet wird, und vielleicht sei es sogar so, dass der Mond nicht aus Schweizer Käse bestehe – er jedoch fühle sich verpflichtet, nicht etwas als zutreffend zu erkennen, was er nicht persönlich in Augenschein habe nehmen können. Dieser Augenschein jedoch – soweit er ihm möglich sei – ließe ihm persönlich nur die Annahme, dass der Mond aus dem entsprechenden Käse bestehe. Zwar räume er ein, dass seine Behauptung, der Mond bestünde aus Schweizer Käse, letztlich eben nur eine schlussgefolgerte Annahme und damit seine Meinung sei – doch die für ihn nicht überprüfbare Behauptung, der Mond bestünde aus etwas anderem, sei aus seiner rationalen Sicht auch nichts anderes als eine Annahme, wenn der andere mangels Möglichkeit nicht selbst den Wahrheitsgehalt seiner Aussage habe prüfen können. Wenn also nun jemand, der ebenso wenig wie er selbst in der Lage gewesen ist, die tatsächliche Substanz des Mondes zu überprüfen und sich lediglich auf die Behauptungen und behauptete Erkenntnisse Dritter beruft, welche er ungeprüft übernehme, dann unterscheide sich diese Behauptung von der seinen sogar noch dadurch, dass seine eigene auf dem ihm zwar eingeschränkten, doch bewusst vorgenommenen persönlichen Augenschein beruhe, während die des Anderen nicht einmal die persönliche Inaugenscheinnahme voraussetze, sondern lediglich die ungeprüfte Übernahme von Behauptungen Dritter sei. Insofern sei die Qualität seiner eigenen Aussage letztlich sogar substantieller, denn sie sei unmittelbar und nicht mittelbar.

Hat der Mann des Käsemonds nun recht oder unrecht? In seiner Logik verbreitet er keine vorsätzliche Unwahrheit, keine Lüge. Seine Behauptung beruht insofern zwar nicht auf Tatsachen rational-wissenschaftlicher Erkenntnis und ist nichts anderes als eine persönliche Annahme, von deren Zutreffen er aus für ihn logischen und nachvollziehbaren Gründen jedoch überzeugt ist. Insofern – und damit schließt sich der Kreis – ist auch seine Behauptung nichts anderes als die Gottesbehauptung eines „Gläubigen“. Beide nehmen aus für sie nachvollziehbaren Gründen etwas als zutreffend an, was sie nicht beweisen können und für das sie einen Gegenbeweis, wenn überhaupt, nur dann zulassen, wenn sie ihn persönlich und unmittelbar nachvollziehen können. Besagter Käsemondlügner ist daher in seiner Substanz nichts anderes als der Gottesgläubige: Beide vertreten eine Auffassung, welche sie nicht beweisen können und für die sie einen von Dritten behaupteten Gegenbeweis nicht gelten lassen, die sie für sich jedoch als Tatsache für „wahr“ nehmen.
Gleiches gilt letztlich auch – trotz der nicht vergleichbaren Dimension – für die Holocaust-Lüge: Kaum jemand ist achtzig Jahre nach diesem Menschheitsverbrechen noch in der Lage, die damalige Wirklichkeit aus eigener Anschauung zu wissen. Das Wissen über die Verbrechen beruht auf Berichten Betroffener und rational-wissenschaftlicher Erkenntnis. Wer diesen Berichten und Erkenntnissen keinen Glauben schenkt, wer sich auf den Standpunkt stellt, nur Wissen und damit als Wahrheit behaupten zu können, was er persönlich unwiderlegbar verifiziert hat, der kann die Position vertreten, solchen Berichten und Erkenntnissen nicht glauben zu wollen. In einer Gesellschaft der Meinungsfreiheit muss er folglich das Recht haben, dieses als seine Meinung – nicht als verbürgtes Wissen – zu formulieren auch dann, wenn eine breite Mehrheit der Gesellschaft diese Meinung für falsch, für irrig und für abwegig hält und eine tatsächliche Wahrheitserkenntnis die Unwahrheit des Behaupteten belegt.

Teil 3 – Das Ende der toleranten Gesellschaft

Wo endet die Meinungsfreiheit?

Wenn, wie dargelegt, alles als persönliche Meinung behauptet werden kann, dann kommen wir nun zur Schlüsselfrage der Meinungsfreiheit: Hat das Individuum das Recht, jede noch so irrige oder irrig erscheinende Behauptung aufzustellen, solange er damit lediglich seine persönliche Auffassung, seine „Meinung“ kundtut und seine „Haltung“ dokumentiert?

Folgen wir Voltaire, so muss er dieses Recht haben. Für Voltaire ist das Recht, selbst den größten Unsinn zu behaupten, absolut. Für Voltaire ist das Verbot der Äußerung dieses Unsinns „Tyrannei“.

Doch er muss es auch dann haben, wenn wir Popper folgen. Für Popper hat ein Verbot so lange zu unterbleiben, wie die in Frage stehende Äußerung nicht anstrebt, sich gewaltsam oder durch Unterdrückung anderslautender Auffassungen als Diktat durchzusetzen. Das Paradoxon der Toleranz besagt, jegliche Meinungsäußerung zu tolerieren, solange sie die Toleranz selbst nicht in Frage stellt. Die Holocaust-Lüge als bereits unter Strafrecht gestellte Unwahrheit mag zwar wider die rationale Erkenntnis, wider die Vernunft und wider die ethische Selbstgewissheit stehen – doch solange sie nur eine individuelle Meinungsäußerung ist, hat eine freie Gesellschaft sie zu ertragen. Gesetze, die eine solche Aussage, eine solche Meinung verbieten, dokumentieren somit einen staatlichen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit und das Ende einer freien Gesellschaft.

Damit sind wir wieder bei der Aussage des für die Justiz zuständigen Ministers. „Die Meinungsfreiheit endet da, wo das Strafrecht beginnt.“, postulierte er. Dabei ist ihm im Sinne des Rechtspositivismus durchaus zuzustimmen dann, wenn das Gesetz das Recht auf partielle Aussetzung der Meinungsfreiheit definiert. Gleichzeitig aber beschreibt diese Aussage eben auch das Ende der freien Gesellschaft selbst. Denn es entscheiden mit dem Gesetz jene, die die Macht haben, dieses zu tun – in der Parlamentarischen Demokratie die einfache Mehrheit der Abgeordneten, in der Diktatur der Diktator und im postdemokratischen Parteienstaat die Exekutive-, darüber, dass die Meinungsfreiheit endet, indem sie bestimmen, wo die Meinungsfreiheit endet. Die Strafbewehrung von Äußerungen auch dann, wenn sie in ihrem Inhalt einer Mehrheit unerträglich erscheinen mögen, setzt der Meinungsfreiheit eine Grenze, die die Meinungsfreiheit selbst abschafft in dem Moment, zu dem sie beginnt, statt juristisch fassbarer Nicht-Meinungsäußerungen meinungsgeäußerte Glaubenssätze unter Strafe zu stellen.

Behauptete „Wahrheit“ ist zumeist nichts anderes eine Beschreibung von Wirklichkeit
Zutreffend wird islamischen Staaten wie Saudi-Arabien oder Pakistan der Vorwurf gemacht, mit der Strafbewehrung von Äußerungen, die die Glaubenssätze des Koran in Frage stellen, gegen das vorgebliche Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung zu verstoßen. So, wie vor der Aufklärung in Europa Äußerungen, welche gegen die Glaubenssätze der christlichen Kirche verstießen, Strafverfolgung bis hin zum „Ketzertod“ nach sich ziehen konnten und nach sich zogen.

Wenn eine vorgeblich freiheitliche Demokratie ebenso verfährt gegenüber Meinungsäußerungen, die sie als „abstoßend oder häßlich“ empfindet oder denen sie unterstellt, eine historische oder sonstwie definierte „Wahrheit“ zu leugnen, so unterscheidet sie sich letztlich nicht von jenen Gesellschaften, die Gleiches tun, weil damit vorgeblich ein „Prophet“ oder ein „Gott“ beleidigt werde.

In „Wahrheit – Religion – Wirklichkeit“ hatte ich mich ausgiebig mit der Problematik eben dieser „Wahrheiten“ auseinandergesetzt. Ich kam seinerzeit zu dem Ergebnis, dass fast alles, was als „Wahrheit“ behauptet wird, letztlich nichts anderes als eine Beschreibung von gefühlten Wirklichkeiten ist. Wirklichkeiten aber sind subjektive Wahrnehmungen, Auffassungen. Sie unterscheiden sich von Individuum zu Individuum – und eine Wahrheit kann – wenn überhaupt – nur eine wissenschaftlich und absolut bewiesene Sacherkenntnis sein. Nicht einmal eine Statistik oder eine empirische Erkenntnis kann „Wahrheit“ schaffen – denn die aus ihr gezogene Schlussfolgerung beruht immer nur auf der Interpretation desjenigen, der sie als vorgeblichen Wahrheitsbeweis anführt.

Die Tyrannei der Mehrheit

Meinungsfreiheit bedeutet deshalb notwendig, jede individuelle Wirklichkeit zu tolerieren – nicht jedoch, sie sich selbst zu eigen machen zu müssen. Ein Staat, der solche Wirklichkeiten jenseits einer tatsächlichen und nicht nur „gefühlten“ Bedrohung für Leib und Leben und damit behauptete Bedrohungen von „Gefühlen“ oder Einbildungen verbietet, ist im Sinne Voltaires tatsächlich eine Tyrannei. Ein solcher Staat ist, so dieses Verbot als „Gesetz“ von einer wie auch immer definierten Obrigkeit beschlossen wird, eine Diktatur. Ist diese Obrigkeit ein Parlament, so wird der freiheitliche Staat zu einer parlamentarischen Tyrannei der Mehrheit.

Dieses und nichts anderes besagt in seiner Konsequenz jener zitierte Satz eines Bundesministers der Justiz, der die Freiheit der Meinung an den „Grenzen des Strafrechts“ enden lassen will und durch konkrete Gesetzgebung enden lässt. Dabei geht das, was als „Gesetz“ das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft regeln soll, gleichzeitig den Weg der Entsachlichung des Rechts, wenn das Gesetz die Behauptung des Irrealen unter Strafe stellt. Umso mehr gilt dieses, wenn eine Ideologie des Irrealen die Behauptung des Realen und/oder wider diese Ideologie des Irrealen streitende, andere Irrealismen per Gesetz zum strafbewehrten Gegenstand der Rechtsprechung macht.

Auch entsteht so ein Effekt, der das Gegenteil von dem bewirkt, was das Gesetz vorgeblich bewirken soll. Durch die Strafbewehrung einer vorgeblich abweichenden, unzulässigen Meinung manifestiert sich diese Meinung im Bewusstsein ihrer Gesellschaft. Die Strafbewehrung wertet die strafbewehrte Meinung auf, indem sie ihr eine Bedeutung zukommen lässt, die sie als bloße Meinung eines Einzelnen oder einer Gruppe niemals erfahren hätte. Ein Staat, der Meinungen verbietet, schafft sich somit einen Sockel von verbotenen Meinungen, deren Behauptung er benötigt, um wiederum sein Verbot der Meinungsfreiheit zu begründen. Auch das ein Paradoxon.
Die Sicht des Intoleranten

„Wehret den Anfängen“, lautet die gängige Begründung eines solchen Tuns. Doch den Anfängen von was? Davon, dass jenseits des Popper‘schen Anspruchs, die Position des Intoleranten so lange zu tolerieren, wie sie nicht zur Gefahr für die tolerante Gesellschaft wird, eine Realität geschaffen wird, in der bereit der bloße Vortrag der Position des Intoleranten genügt, um eine tolerante Gesellschaft zur intoleranten zu wandeln? Oder den Anfängen davon, dass die Meinung bereits deshalb als strafbewehrte Gefahr definiert wird, wenn sie jenseits des Rationalen als Mindermeinung des tatsächlichen oder vermeintlichen Irrationalen gegen eine Mehrheitsmeinung des vermeintlichen oder tatsächlichen Irrationalen steht?

Es ist die Sicht und die Vorgehensweise des Intoleranten, nicht die des Toleranten, die sich in solchen Aussagen und Vorgehensweisen wie denen des früheren Justizministers ebenso wie in den gleichlautenden seiner Nachfolgerin beweist. Beide instrumentalisieren das, was als „Recht“ gelten soll, über die Entsachlichung eben dieses Rechts als Wirkmittel der eigenen Irrationalität gegen die Irrationalität des Anderen. Damit verlassen sie und mit ihnen das Recht die Idee der Aufklärung – die Vorstellung, dass ein jeder das denken, glauben und formulieren darf, wonach ihm der Sinn steht, auch dann, wenn dieses abweicht von dem Denken, Glauben und Formulieren einer Mehrheit – oder schlimmer noch: Vom Denken, Glauben und Formulieren der Herrschenden.

Die Gefahr für die Meinungsfreiheit besteht nicht in der geäußerten Meinung, die sich wider die Erkenntnis von Wissenschaft und menschlicher Vernunft artikuliert. Die Gefahr für die Meinungsfreiheit besteht darin, solche Meinungen verbieten zu wollen. Denn es ist das Verbot von Meinung die eigentliche Manifestation der Vernichtung von Meinungsfreiheit auch dann, wenn sie sich hinter der Camouflage einer vermeintlichen Wahrheit zu verstecken sucht.

Die Hippies der Anti-Vietnam-Bewegung prägten in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts den Satz „Fighting for peace is like fucking for virginity“. Er trifft uneingeschränkt zu auch auf jene, die den Kampf für eine von ihnen definierte Vorstellung von Meinungsfreiheit mit dem Verbot einer missliebigen Meinung austragen zu müssen meinen. Sie tragen genau das zu Grabe, was sie vorgeben, mit ihrem Totengesang retten zu wollen.

Anzeige

Unterstützung
oder

Kommentare ( 47 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

47 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
friedrich - wilhelm
3 Jahre her

……aus dem altgriechischen oder lateinischen habe ich früher einmal übersetzt: glückliche sklaven sind die erbittersten feinde der freiheit…..- doch wenn die zustände unerträglich werden, machen unglückliche sklaven aufstände! –

Engelbogen
3 Jahre her

Es ist wie bei den Schafen:“Wer sich nicht wehrt wird gschert“

Auch der Nazionale Sozialismus und der Holocaust wurden erst durch politische Buckler und Vorteilshascher und die bequeme Masse möglich.

Ralf Poehling
3 Jahre her

Wie immer brillant seziert, Herr Spahn. Das Kernproblem ist folgendes: Zitat:“In „Wahrheit – Religion – Wirklichkeit“ hatte ich mich ausgiebig mit der Problematik eben dieser „Wahrheiten“ auseinandergesetzt. Ich kam seinerzeit zu dem Ergebnis, dass fast alles, was als „Wahrheit“ behauptet wird, letztlich nichts anderes als eine Beschreibung von gefühlten Wirklichkeiten ist. Wirklichkeiten aber sind subjektive Wahrnehmungen, Auffassungen. Sie unterscheiden sich von Individuum zu Individuum – und eine Wahrheit kann – wenn überhaupt – nur eine wissenschaftlich und absolut bewiesene Sacherkenntnis sein. Nicht einmal eine Statistik oder eine empirische Erkenntnis kann „Wahrheit“ schaffen – denn die aus ihr gezogene Schlussfolgerung beruht… Mehr

Ben Goldstein
3 Jahre her

Ich bin auch entschieden der Meinung, dass „Beleidigung“ kein Straftatbestand in einem zivilisierten Land sein kann, weil jeder meint, sich wegen allen möglichen Sachen beleidigt fühlen zu können. Anders als falsche Tatsachenbehauptungen (Diffamierung) ist die Beleidigung immer subjektiv. Ein solcher Straftatsbestand kann immer als Eingangstor für Willkürherrschaft missbraucht werden.
Aber manche, und ich würde so weit gehen fast alle Deutsche dabei zu sehen, finden halt ein Wort wie „Arschloch“ so superschlimm, dass sie für dessen Ahndung alles in Kauf nehmen. Sie hocken sich heulend und Daumen lutschend in die Ecke, während sie auf die Polizei warten; kaum besser als Erdogan.

Manfred_Hbg
3 Jahre her

ANBEI Rechtsstaat UND Meinungsfreiheit nun entgültig Ade!? Ich hatte grad folgende RTL Teletext-Meldung gelesen…..: „Beobachtung der Querdenker“ „Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobavhtet Personen und Hruppen innerhalb der Querdenker-Bewegung. n…….) Dit darf der VS nun Daten zu Personen aus der Szene beobavhten. Da die Bewegung keinem der bishet bekannten Phänomenbereiche wie etwa Rechtsextremismus, Linksextremismus oder Islamismus zuzuordnen isei, sei eine (AVHTUNG) neue Kategorie “ Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ geschaffen worden, hieß es weiter.“ > UNGLAUBLICH was in diesem Land mittlerweile abgeht. Jeder und Alles wer nicht mit der linksgrünen Regierung im Gleichschritt mitmaschiert und anderer Meinung ist, ist heute, im Jahre… Mehr

Plikiplok
3 Jahre her

Zitat:
„Die Tyrannei der Mehrheit“
Da fällt mir doch gleich der schon alte, leicht defätistische Kalauer ein:
„Millionen Schmeißfliegen können nicht irren! Freßt die Schei*e!

Gleichwohl alle Achtung und herzlichen Dank für die tiefgehende, außergewöhnliche Abhandlung!

reconquistadenuevo
3 Jahre her

Idi Amin (Diktator von Uganda von 1971 -1979 (der mehr als 300 000 Menschen brutal ermorden ließ) zur Meinungsfreiheit:.
“There is freedom of speech, but I cannot guarantee freedom after speech.”
Deutschland nach 16 Jahren Merkel-Herrschaft:
Hier kann jeder frei seine Meinung äußern, aber ohne Garantie, dass er danach nicht sozial, beruflich und/oder wirtschaftlich ruiniert ist

bfwied
3 Jahre her

Sehr gute Analyse, die leider nicht massenweise gelesen und verstanden wird. Doch: „Weil sie es nicht mehr aushält, die Dummheit und Ignoranz des Anderen zu tolerieren, macht sie ihre eigene Dummheit und Ignoranz zum Maß aller Dinge.“ Das ist natürlich richtig, aber nicht ganz, denn so ausgedrückt fehlt etwas, denn es sind ja nicht alle dumm! Es werden heute Behauptungen verbreitet, die die Nichtdummen als Dumme ausgeben, auch wenn die Nichtdummen lediglich, wie es richtig ist, jede Forschung nur als Zwischenstand darstellen und eben darauf hinweisen, dass dies und jenes noch völlig unklar ist, was natürlich wiederum das angebliche Verbrechen… Mehr

bkkopp
3 Jahre her

Wie schon öfter: Respekt und Dank für den lehrreichen Text. Die intellektuelle Spannweite und die Tiefe sind schwere Kost, aber spannend. Den ersten Absatz, das NetzDG, kann ich nicht in Beziehung zu den weiteren 14 Seiten bringen. Die digitalen Plattformen, und um die geht es, nicht ums “ Internet „, sind kommerzielle Einrichtungen die mit Freiheit sehr wenig zu tun haben. Es geht um clicks/likes/re-tweets aus Geschäftsinteresse. Sie sind keine Agora. Das NetDG ist mangelhaft, weil es leicht missbräuchlich angewandt werden kann, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung die digitale Jauchengrube von Twitter/Facebook & Co. trocken zu… Mehr

peer stevens
3 Jahre her
Antworten an  bkkopp

Ihr letzter Satz:“…Die millionenfach gesteigerte Nutzung von Medien/Plattformen, technischen Möglichkeiten, zur Verbreitung von Lügen, Verdächtigungen, Beleidigung, Demütigungen – das ganze digitale Mobbing, sind nicht per se ein Raum von Meinungsfreiheit.“ …sicher nicht und auch richtig! …aber wer darf/soll denn nach welchen Kriterien entscheiden duerfen, was da alles dazu gehoert und wer entscheidet dann, wie Medien/Plattformen genutzt werden …dann folge ich doch lieber Voltaire … so komme ich um die strafbewehrten „Meinungen und Haltungen“ der Herrschenden herum von denen wir zurzeit ja wieder kaum vorstellbare und vermeintlich laengst ueberwundene totalitäre Tendenzen erleben und ertragen mussten …also bleiben wir doch lieber eine… Mehr

bkkopp
3 Jahre her
Antworten an  peer stevens

Voltaire, Kant, sogar Popper haben sich nicht mit Massenkommunikation unserer Zeit befassen können. Das ist unser Problem. Die alten Weisheiten sind wichtig, wir müssen aber für heute und morgen entscheiden welche Massenkommunikation wir wie regeln können und wollen. Niemand sagt dass es einfach ist. Freiheit ist nie absolut. Auch Voltaire meinte wahrscheinlich nicht, dass jeder Quacksalber, wegen Meinungs- und Redefreiheit, mit Lügen und falschen Narrativen betrügen kann was das Zeug hält.

friedrich - wilhelm
3 Jahre her

……well done, herr spahn! meinunggsfreiheit ist wohl die wichtigste errungenschaft – kann ich noch schreiben?- unserer westlichen zivilisation. sie wurde in der europäischen aufklärung zum recht erhoben! verfolgen lassen sich bestrebungen nach meinunhsfreiheit allerdings bis zum stoiker epiktet! lassen wir sie uns zu erhalten suchen mit allen mitteln!