Machtprobe in der EU? Was wäre wenn …

Das EU-Parlament kann einmal ablehnen. Das EU-Parlament kann ein zweites Mal ablehnen – aber das ist in den Verträgen eigentlich nicht vorgesehen. Sollte es das dennoch tun, stehen den Juristen spannende Tage ins Haus.

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Mit juristischen Texten ist das so eine Sache. Nur selten sind sie so eindeutig, wie sie sein müssten, um jegliche Fehlinterpretation zu vermeiden. Und so stellt sich auch das Verfahren zur „Wahl“ des Kommissionspräsidenten der SGO „Europäische Union“ nur scheinbar als unmissverständlich geregelt dar. Es vermittelt den Eindruck, dass diese vorgeblich wichtigste Position – vergleichbar dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland – ein echter Bürgerpräsident ist, der von den gewählten Parlamentariern in sein Amt gehoben wird.

So schreibt Artikel 9a (1) der das Vorgehen regelnden „Lissaboner Verträge“ fest:

„Es [das Europäische Parlament] wählt den Präsidenten der Kommission.“

Das klingt, als könne hier das Parlament nach eigenem Gutdünken handeln und abstimmen – eben so, wie dieses laut Grundgesetz die gewählten Parlamentarier des Bundestags tun können.

Dem ist aber mitnichten so. Denn wo kämen wir hin, wenn hier irgendwelche gewählten Abgeordneten völlig frei und unkontrolliert bestimmen würden, wer der EU-Exekutive vorzustehen hat?! Also schränken die Lisssaboner Verträge umgehend ein.

In Artikel 9d (7) wird das Verfahren dieser „Wahl“ detailliert geschildert:

„Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“

Damit ist schon einmal geregelt: Artikel 9a (1) trifft überhaupt nicht zu. Zutreffend ist vielmehr: Das EU-Parlament hat das Recht, über eine Person abzustimmen, die vom Rat der Regierungschefs der EU dem Parlament vorgelegt wird. Das erinnert ein wenig an „Friss Vogel, oder stirb!“

Und so ist es dann auch. In der Erkenntnis, dass dieses Parlament möglicherweise ungehorsam ist und diesem Ratsvorschlag entgegen der eindeutigen Formulierung nicht folgt, schreibt Artikel 9d(7) nun das weitere Vorgehen fest:

„Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, so schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats mit qualifizierter Mehrheit einen neuen Kandidaten vor, für dessen Wahl das Europäische Parlament dasselbe Verfahren anwendet.“

Was, wenn die Bewerber zweimal durchfallen?

Aha. Das EU-Parlament darf also einen Vorschlag zurückweisen. Dann muss der Rat eine andere Person als Kommissionsvorschlag einbringen.

Damit ist zumindest schon einmal klar: Scheitert Ursula von der Leyen beim Zustimmungsprozess erster Ordnung, war es das mit ihren EU-Ambitionen. Zumindest vorerst.

Die Chancen, dass es so kommt, stehen nicht schlecht. Sozialdemokraten und Grüne haben angekündigt, vdL nicht unterstützen zu wollen. Die Anti-EU-ler werden es auch nicht tun. Die Liberalen? Blieben sie üblichem Verhalten treu, enthalten sie sich. Für vdL stimmen werden vermutlich nur die Macronisten, weil die dafür Lagarde als Euro-Geldmaschine erhalten. Aber allein reichen die Stimmen von Macronisten und Volkspartei nicht – vor allem auch deshalb, weil vielleicht doch der eine oder andere Prinzipientreue in diesen Reihen zu finden ist, der das schnelle Einknicken des angeblichen Spitzenkandidaten Manfred Weber nicht nachvollziehen mag und Angst davor hat, dass die EU so endet wie die deutsche Bundeswehr.

Nehmen wir also an, vdL wird abgelehnt – soll heißen: Sie erhält nicht die notwendige Mehrheit der Stimmen im EU-Parlament. Dann muss der Rat einen anderen Kandidaten vorschlagen. Nur – da ist derzeit keiner. Und selbst wenn – wer garantiert, dass dieser Vorschlag nun die notwendige Mehrheit erhält? Wer garantiert, dass dieser zweite Vorschlag überhaupt eine Mehrheit bekommen soll?

Der Lissaboner Vertrag schreibt fest: Für die Wahl dieses Ersatzkandidaten wendet das „Europäische Parlament” dasselbe Verfahren an. Mehr steht da nicht. Weiteres ist nicht geregelt.

Was aber, wenn in diesem selben Verfahren der Ersatzkandidat ebenfalls scheitert?

Alle Welt tut so, als müsse das Verfahren so lange fortgesetzt werden, bis endlich irgendwann eine Mehrheit der EU-Parlamentarier einem Ratsvorschlag die Mehrheit schenkt. Nur: Genau davon steht nichts im Vertrag.

Das EU-Parlament kann einmal ablehnen. Das EU-Parlament kann auch ein zweites Mal ablehnen – aber das ist in den Verträgen eigentlich nicht vorgesehen. Sollte es das dennoch tun, stehen den Juristen spannende Tage ins Haus.

  • Die EU-Parlamentarier werden in einem solchen Falle voraussichtlich darauf bestehen, einen dritten, vierten, xten Kandidaten vorgeschlagen zu bekommen.
  • Der Rat hingegen wird sich hinstellen und sagen: Ihr habt Eure Chance gehabt – und sie verspielt! Nun brauchen wir Euch nicht mehr, denn laut Vertrag haben wir das Vorschlagsrecht – und ihr nur zweimal das Zustimmungsrecht.

Warum das so ist? Weil im Vertrag ausdrücklich nicht steht, dass die Europäische Union für den zweiten Wahlgang dasselbe Verfahren anwendet, sondern festgeschrieben wurde, dass dieses ausschließlich für das EU-Parlament zutrifft. Zweimalige Chance des EU-Parlaments. Nicht mehr.

Also kann der Rat nun tun und lassen, was er will. Er kann beispielsweise auf seinen ersten Vorschlag zurückgreifen und bestimmen, dass vdL nun doch Kommissionspräsident wird. Auch ohne Parlamentsmehrheit. Denn das EU-Parlament ist raus.

Naheliegend, dass dieses Zeter und Mordio geben wird. Die EU-Parlamentarier werden gemäß Artikel 9a(1) darauf bestehen, den Kommissionspräsidenten zu wählen. Der Rat wird hingegen darauf hinweisen, dass das Parlament gemäß Artikel 9d(7) seine Chance gehabt hat.

Dann wird der Rat seinen Wunschkandidaten bestimmen – und vielleicht, was an die unterhaltsamen Konflikte von Papst und Gegenpapst des Mittelalters erinnert, käme in einer solchen Situation dann doch das Parlament überein, sich auf einen eigenen Kandidaten zu einigen. Einen, der nicht vom Rat vorgeschlagen wurde.

Das ist zwar in den Verträgen nicht vorgesehen – doch da das Prozedere nach zweimaliger Ablehnung nicht geregelt ist, hat das Parlament ebenso viel Recht auf eigene Vertragsinterpretation, wie der Rat es sich anmaßen dürfte.

Vielleicht also hat die EU in absehbarer Zeit sogar zwei konkurrierende Kommissionspräsidenten. Das könnte zumindest dann geschehen, wenn das Parlament auf seiner Unabhängigkeit besteht und nicht vor den Regierungschefs kuscht. Spannend wäre es allemal schon deshalb, weil es klären könnte, wie künftig die Machtverhältnisse geregelt werden. Entscheidet zumindest ansatzweise das „Volk“, indem die Parlamentarier der Rätedemokratie EU den Kommissionspräsidenten als Staatsratsvorsitzenden bestimmen? Oder bestimmen die Lokalräte mit doppelter Mehrheit den Chef der Exekutive und ist das Parlament nur ein teures Unterhaltungsprogramm?

Das zu klären wäre dann die Aufgabe ganzer Heerscharen von Staatsrechtlern. Denn – wie gesagt: Die Lissaboner Verträge sind hier mehr als schlampig und oberflächlich verfasst. Sie gingen offenbar von einer Eitel-Sonnenschein-EU aus. EU-Europäischen Klimawandel aber hatten sie offensichtlich nicht vorgesehen.

Und so könnte das aktuelle Personaltableau, welches der Rat dem EU-Parlament hingeworfen hat, vielleicht bereits das Signal für etwas noch ganz anderes sein: Für den Einstieg in ein Kern- und ein Randeuropa in der EU. Denn das, was Merkel und ihre Kumpels hier ausgeklüngelt haben, ist ein Tableau der Westeuropäer: Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien, Italien. Sollten die unbotsamen Visegrad-Staaten merken, wie ihnen hier gerade mitgespielt wird, könnte es also darauf hinauslaufen, dass ihnen die alten EU-ropäer den Stuhl vor die Tür stellen. Das Kartell hätte es nur noch mit den italienischen Populisten zu tun. Aber die EU könnte sich dann  zurückdampfen auf jenen damals zumindest noch halbwegs geordneten Status, bevor aus geopolitischen Erwägungen aus der EU ein großeuropäisches Sammellager gemacht wurde.

Wahrscheinlicher allerdings ist, dass das EU-Parlament es auf eine echte Kraftprobe nicht ankommen lassen wird. Ein wenig Show noch, um das eine oder andere Kommissionspöstchen für die eigene „Parteienfamilie“ herauszuquetschen.

Und dann bleibt alles beim Alten: Die Regierungschefs bestimmen, wo es lang geht. Die Kommission nickt ab und setzt um. Und das Parlament klatscht Beifall oder mault ein wenig. Und das Ganze nennt sich dann Europäische Union.


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Kommentare ( 30 )

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Janno
5 Jahre her

Das „Parlament“ ist ein zahnloser Tiger und nicht fähig, sich gegen den Rat zu positionieren. Insbesondere die Grünen haben sich dieser Tage als taktisch besonders unfähig gezeigt, ihnen wurden Grenzen gesetzt, die den Deutschen Wahlgewinner ziemlich deppert darstehen lassen. Auch die Deutsche SPD rumpelt noch wie Stielzchen, weil sie anscheinend nicht gemerkt haben, dass Spanier und Italiener jetzt den Ton bei den Sozialisten angeben. So haben im Rat 7 Sozialdemokraten von Schweden über Dänemark bis Portugal und Spanien vdL mitgewählt und dafür den Hohen Vertreter und den EP-Präsidenten bekommen. Bei der Wahl von Sassoli haben EVP und RE zugestimmt, damit… Mehr

horrex
5 Jahre her

Gleichgültig was kommt, deutlich wird einmal WIEDER, was für ein „Saftladen“, welch unglaublich selbstreferentielle Fehlkonstruktion die EU in der gegenwärtigen Konstruktion ist. – Und DAS wird – ganz simpel – daran selbst enfachsten Menschen deutlich, dass Weber bei der Wahl beworben wurde und nun eine Andere auf den Posten gehoben werden soll. – Selbst in ansonsten sehr regierungsnahen Medien wird geradezu verzweifelt nach einer Rechtfertigung für dieses Vorgehen gesucht. – Ein Freund meinte: Die (Merkel,EU, Macron, …) lästern verächtlich über das Abstimmungschaoes nach dem Brexit Referendum in GB. Und nun produzieren – demonstrieren geradezu – sie SELBST Spaltung und Chaos… Mehr

W aus der Diaspora
5 Jahre her

Wie ist das eigentlich? Muss v.d. L. ihr Ministeramt niederlegen bevor sie sich wahlen/ nicht wählen läßt? Oder läuft alles nach iher Nicht-Wahl so weiter wie bisher?

teanopos
5 Jahre her

Ach wissen Sie, die wenigsten haben bereits begriffen: Das „Recht“ und ihre „Sprechung“ ist EU-Weit sowie in ihren Nationastaaten soweit verkommen und verkompliziert dass diese nur noch der Geldadel bzw. jene die Geld in Zeit umtzutauschen in der Lage sind sich in ihrem Sinne daran bedienen können. Wieviel Juristen sitzen im Bundestag? Keep it simple stupid sollte der erste Satz der nächsten Verfassung sein, denn alles andere würde schon den ersten Artikel des alten GG verletzen und dieser Verletzung stehen Artikel 3, 5, 8, 12, 12a, 13, 17, 17a, 18 des „GG“ und ihre Ausnahmen/Verweise und darauf beruhenden Dichtungen/Interpretationen/Urteile in… Mehr

Johann Thiel
5 Jahre her

Sehr schön und klar sortiert.

teanopos
5 Jahre her

Ach wissen Sie, die wenigsten haben bereits begriffen: Das „Recht“ und ihre „Sprechung“ ist EU-Weit sowie sowie in ihren Nationastaaten soweit verkommen und verkompliziert dass diese nur noch der Geldadel bzw. jene die Geld in Zeit umtzutauschen in der Lage sind sich in ihrem Sinne daran bedienen können. Wieviel Juristen sitzen im Bundestag? Keep it simple stupid sollte der erste Satz der nächsten Verfassung sein, denn alles andere würde schon den ersten Artikel des alten GG verletzen und dieser Verletzung stehen Artikel 3, 5, 8, 12, 12a, 13, 17, 17a, 18 des „GG“ und ihre Ausnahmen/Verweise und darauf beruhenden Dichtungen/Interpretationen/Urteile… Mehr

mlw_reloaded
5 Jahre her

Eine Verfassung, die Probleme bei einer Personalwahl nicht vorsieht, ist ebenso schlampig wie eine Verfassung, die der politischen Mehrheit erlaubt, Gesetze zu brechen.

Klaus
5 Jahre her

Nachdem die SPD die Backen aufgeblasen hat ist schnell wieder Ruhe eingekehrt, warscheinlich durfte man endlich mit Macron telefonieren.

Für die EU Feinde und Europa-Freunde läuft alles super, auch was den EURO Crash betrifft muss man sich keine Sorgen mehr machen, der wird jetzt noch schneller kommen.

Unsere ganze Kraft können wir jetzt darauf verwenden, den Übergang in das Neue vorzubereiten, denn das Alte wird sehr bald sterben.

Andreas aus E.
5 Jahre her

Ich war mal sehr angetan vom „europäischen Gedanken“. Gemeinsam statt nebeneinander oder gar gegeneinander, freies Reisen, Friede, Freude, Eierkuchen – toll. Die Einführung des Euros führte zu erstem Unbehagen. Es gab doch schon ECU und außerdem fand ich es spannend, auf Reisen lauter verschiedene Währungen in der Geldbörse zu haben. Schulte zudem das Kopfrechnen. An die finanzwirtschaftliche Dimension dachte ich gar nicht, fand es immerhin interessant mit den neuen Münzen. Mal abwarten, wird schon – so dachte ich, war ja noch was jünger. Aber nun, die permanent mit Europa verwechselte (absichtlich?) EU, diesen Moloch, mit der ganzen Reinregierei, unzähligen Vorschriften,… Mehr

andreashofer
5 Jahre her

Die EU offenbart sich. Und damit rutscht dieses System völlig in die Krise. Fragen nach ob und wer was wo wird sind völlig nachrangig.
Ich möchte fast sagen: Schwefel oder Pulverdampf liegt in der Luft.

horrex
5 Jahre her
Antworten an  andreashofer

In einem Word:
Das jetzige Verhalten IST – letztlich – der „Offenbarungseid“!
Offenbarungseid von der Bagatelle namens Gurkenkümmung bis zur quasi „grundgesetzlichen“ Wahl auf wesentliche Positionen. –