Sagt Ihnen, liebe Leser, der Name John Rowlands etwas? Nein? Nun, dieser später weltberühmte Mann wurde am 28. Januar 1841 im walisischen Denbigh als „Bastard“ geboren. So nannte man seinerzeit Kinder, deren Mütter unverheiratet und deren Väter offiziell unbekannt waren. 1858 verließ der junge Mann nach prägenden Stationen in einem Arbeitshaus, im dem er ständiger, auch sexueller Gewalt ausgesetzt war, seine Heimat und siedelte um nach New Orleans. Dort arbeitete er zuerst für einen Baumwollhändler. 1861 heuerte der junge Mann bei der Armee der Konföderation an.
Im Krieg war der immer noch junge Mann ebenfalls nicht vom Glück beschienen. Schon 1862 geriet er bei der Unionsarmee in Gefangenschaft – und um den unmenschlichen Bedingungen in den Gefangenenlagern zu entgehen, trat er nun in die Unionsarmee ein, wofür er mit der entsprechend eingeschränkten Freiheit eines Rekruten belohnt wurde. Zum Fronteinsatz sollte es nicht kommen: Der Migrant aus Wales erkrankte und wurde ausgemustert. 1865 versuchte er es noch einmal beim Militär, heuerte bei der Kriegsmarine der Union an. Doch das entsprach nicht mehr seinen Vorstellungen – und er desertierte, fand in St. Louis einen Job als freier Redakteur.
Irgendwann auf diesem Weg ersetzte er seinen ungeliebten Geburtsnamen durch den seines früheren Arbeitgebers. Später erzählte er, dieser hätte ihn adoptiert. Belege gibt es dafür nicht – und die Zeitschienen sprechen dagegen. Vieles spricht dafür, dass die Geschichte des Namenswechsels erst 1865 stattfand. Denn es wird John Rowlands gewesen sein, den die US-Armee erfolglos als Deserteur suchte, während ein freier und nicht vorbelasteter Reporter aus dem damaligen Grenzland über dramatische Schlachten gegen die Indianer schrieb und damit seinen neuen Namen weit über das kleine St. Louis hinaus bekannt machte.
Vom Deserteur zum Weltstar
Nun hieß der Mann aus Denbigh in Wales nicht mehr John Rowlands, sondern Henry Morton Stanley, war US-Bürger und machte sich unsterblich, als er 1870/71 im Auftrag des „New York Herald“ von Bombay aus nach Ostafrika fuhr, um einen verschollenen Arzt und Missionar namens David Livingston zu suchen. Den fand er nach unzähligen Abenteuern und Entbehrungen am 10. November 1871 nahe dem Tanganjikasee, begrüßte ihn mit den heute berühmten Worten: „Doctor Livingston, I presume?“
Stanleys gekabelte Berichte erregten großes Aufsehen. Er selbst gilt seitdem als Afrikaforscher. Und als fast-schon-Erfinder des journalistischen Genres der Reportage. Denn als Reporter war er einst in St. Louis gestartet, als solcher traf er auf Livingstone und als solcher verfasste er seine Berichte über weitere Reisen ins Innere des damals noch recht unbekannten, schwarzen Kontinents. Seine Berichte fanden reißenden Absatz, denn sie entführten die Leser in ihnen unbekannte und unerreichbare Regionen und Dimensionen.
Das Problem: Was an den Geschichten Stanleys auf Tatsachen beruhte, was vielleicht hinzu geschmückt oder gar erfunden wurde – das ließ sich damals so wenig klären wie heute. Manches an Sachinformationen ist verifiziert. Doch das Drumherum, die Kämpfe mit den Einwohnern und gegen die Natur – nicht beweisbar.
Allein die Tatsache, dass er sich einen neuen Namen erfindet, lässt auf ein gewisses Maß an Phantasie schließen. Was seine Berichte aus den Indianerkriegen betrifft: Da damals nur tote Indianer gute Indianer waren, konnten die zu den Berichten meist keine Stellung mehr nehmen. Auch war Stanleys Leserschaft eher in der gut situierten Bürgerschicht der Oststaaten zu finden als bei jenem ziellos zur Armee treibenden Prekariat junger Einwanderer aus Deutschland, Irland und Polen.
Auf Livingstone ist Rowlands/Stanley tatsächlich getroffen. Der schottische Forscher starb eineinhalb Jahre später, ohne über das Treffen mit dem Waliser Notizen zu hinterlassen. Doch die von Stanley beschriebene Dramatik bei der Suche nach Livingstone dürfte weitgehend erfunden sein – so wie auch das Schicksal seiner wenigen europäischen Begleiter ungeklärt bleibt. Ähnlich bei späteren Expeditionen des Neu-Amerikaners. Wie bei der Suche nach den Quellen des Nils oder quer durch den heutigen Kongo nach dem deutschen Eduard Schnitzer alias Emin Pascha, zu jener Zeit Gouverneur im vom radikal-islamischen Mahdi bedrohten Südsudan. Auch diese Geschichten zeichnen sich zumeist durch höchst dramatische Berichte und keine Zeugen aus. All das aber tat dem Weltruhm des unehelichen Sohnes einer Dienstmagd keinen Abbruch.
Der Reporter als Weltberichterstatter
Solche wie des Stanleys Berichte begründeten im 19. Jahrhundert, als die Europäer begannen, die Globalisierung zu einem vorläufigen Erkenntnisabschluss zu bringen, nicht nur populären und wissenschaftlichen Ruhm. Sie wurden für manchen auch zur Existenzsicherung. Die Europäer zwischen San Francisco und Sankt Petersburg lechzten nach solchen Geschichten, die neues Wissen mit scheinbar authentischem Abenteuer vermengten.
Ihre Helden selbst waren häufig nicht nur Wegbereiter der europäischen Migrationsbewegungen – sie waren auch die Prototypen jenes Reporters, wie ihn die Chefetage des Hamburger Unterhaltungsmagazins „Der Spiegel“ anlässlich ihres Relotius-Desasters beschrieb:
„Als Redakteur, als Ressortleiter, der solche Texte frisch bekommt, spürt man zuerst nicht Zweifeln nach, sondern freut sich über die gute Ware. Es geht um eine Beurteilung nach handwerklichen Kriterien, um Dramaturgie, um stimmige Sprachbilder. Es geht nicht um die Frage: Stimmt das alles überhaupt? … Dies ist eine besondere Form des Journalismus, bei der es vor allem um Anschaulichkeit und Lebendigkeit geht. Der Reporter ist dabei, schaut zu, hört zu, und schreibt dann auf, was er gesehen und gehört hat. Er gibt dem Ganzen eine Dramaturgie und gießt es in eine formvollendete Sprache. So manch einer kann da versucht sein, aus Journalismus Literatur zu machen, die in Fiktion mündet.“
Das Relikt einer vergangenen Zeit
Kurz: Der Reporter ist Drehbuchautor, Filmcrew, Darsteller und Cutter in einem. Das und nichts anderes ist bis heute seine Aufgabe.
Zu Zeiten Stanleys gab es noch kein Radio. An Fernsehen, gar an Internet war nicht einmal im Traum zu denken. Stanley und seine Kollegen verfügten ausschließlich über die Telegraphie – sie war es, die eine blitzschnelle Übertragung des tatsächlich oder scheinbar Erlebten zu den Lesern ermöglichte. Der Herausgeber, der die Artikel bekam, beurteilte sie nicht nach Wahrheitsgehalt. Dazu war er überhaupt nicht in der Lage. Und es interessierte ihn auch nicht. Er beurteilte „die Ware“ nach ihrem Unterhaltungs- und damit nach ihrem Verkaufswert. Genau so, wie es die Spiegel-Chefetage eben auch tat.
Dagegen ist unter kommerziellem Gesichtspunkt wenig einzuwenden. Das Bildungsbürgertum des 19.Jahrhunderts gierte nach spannenden Berichten mit leicht gruseligem Erkenntnisgewinn. Das geschriebene Wort – manchmal noch unterlegt mit einer am Text orientierten Radierung oder Lithographie, wie sie seinerzeit technisch möglich war und in gewisser Weise als Vorläufer von Photoshop betrachtet werden kann – war die einzig mögliche Informationsquelle. Die Reportage war das, was heute als Dokumentarfilm im Fernsehen angeboten wird. Andere Möglichkeiten gab es nicht.
Damit aber sind wir nun bei einer Grundsatzfrage der journalistischen Arbeit der Gegenwart. Magazine wie „Der Spiegel“ haben die Reportage zum Kernelement ihrer Printobjekte gemacht. Sie haben sie in gewisser Weise perfektioniert, indem sie den Eindruck vermitteln, ganz eng im Geschehen zu sein, und dieses mit den üblichen Versatzstücken einer „an der Zigarette“ ziehenden Gesprächspartnerin oder „am Cafefenster vorbeiziehenden, ihren Protest herausbrüllenden“ Leuten zu belegen.
Die Mitarbeiter des Magazins aus Hamburg haben diese Stilmittel in einem Maße in sich aufgenommen, dass sich der Eindruck aufdrängt: Sie können überhaupt nicht mehr anders. Selbst scheinbar sachlich-nüchterne Stücke werden mit solchen Reportage-Stempeln versehen. Gleichzeitig erfolgt eine ständige Wertung, wenn beispielsweise bei der ungarischen Regierung oder auch bei einem Donald Trump zum hundertsten Mal Adjektive wie „rechtspopulistisch“ oder „rechtsnationalistisch“ eingebaut werden. Diese Stereotypen wirken, als müssten sich die Redakteure ständig selbst vergewissern, dass es noch so ist; dass ihr Weltbild noch stimmt. Oder halten sie ihre Leser für so vergesslich, dass sie befürchten, diese könnten von Ausgabe zu Ausgabe angesichts des belehrenden, einordnenden Trommelfeuers vergessen, wer und was alles „rechtspopul-national-extremistisch“ oder sonstwie ist?
Nein, tatsächlich sind all diese Versatzstücke unverzichtbarer Teil eines Reportage-Stils, in dem sich die Redaktion selbst gefangen hat. Dabei merkt sie nicht, wie sehr sich dieser Stil längst vom eigenen Anspruch gelöst hat – wie die Stereotypisierung gelernter Schreibmuster einen redaktionellen Einheitsstilbrei schafft, der seine Konkurrenz nicht in dem elegant geschriebenen Sachbericht der alternativen Angebote des geschriebenen Wortes erkennt, sondern sich, aus seiner eigenen Historie heraus nachvollziehbar, an jenen Angeboten orientiert, die das neue Medium Fernsehen/Streaming liefert.
Von der Reportage verabschieden
Nicht anderes war die geliebte Reportage des Print-Zeitalters: Der Vorläufer erst der Radio-Reportage, dann der TV-Dokumentation.
Da aber kann das geschriebene Wort nicht mithalten. Denn es fehlen der Print-Reportage die bewegten und bewegenden Bilder. Da sie auf diese verzichten muss, versuchen sich die Schreiber mit jenen „stimmigen Sprachbildern, mit Dramaturgie und formvollendeter Sprache“. Doch das bewegte Bild, die unmittelbare Verknüpfung der Sinneseindrücke von Auge und Ohr, die die menschliche Emotion anregen und daraus unmittelbar erfahrbare Intensität schaffen – das kann keine noch so „formvollendet“ geschriebene Reportage leisten.
Sie muss es auch nicht. Denn eben diesen Platz hat längst das bewegte Bild selbst übernommen. Weshalb es an der Zeit wäre, sich von der klassischen Reportage als Bestandteil eines gedruckten Magazins zu verabschieden. Sie ist gestern. Nein, eigentlich ist sie sogar vorgestern. Sie ist 19. Jahrhundert.
Zwanzigstes Jahrhundert waren erst die Rundfunkreportage, dann die Fernsehdokumentation.
Einundzwanzigstes Jahrhundert ist längst schon YouTube, Instagram und Streamingdienste.
Wer das mittlerweile zu erkennen scheint, ist beispielsweise die Deutsche Telekom. Mit ihren neuen Magenta-Angeboten geht sie den ersten Schritt ist dieses umfassende Unterhaltungsangebot aus abendfüllendem Kinofilm, spannender Serie und Dokumentation. Die gut gemachte Doku ist hier nichts anderes als jenes, was einst Stanley und heute immer noch „Der Spiegel“ oldschool-mäßig nach dem Muster des 19. Jahrhunderts produzier(t)en: Ein Sockel aus Sachbeschreibung, vermittelt über hübsche, scheinbar stimmige Bilder, gepaart mit dem notwendigen Quentchen Emotion und Phantasie, um den Leser zu fesseln.
Deshalb aber bedarf es der klassischen Reportage des geschriebenen Wortes nicht mehr. Sie ist eigentlich schon längst gestorben – und wird nur noch künstlich am Leben gehalten mit jener Relotation der phantasievollen Wirklichkeitsergänzung, die schon Stanley meisterhaft beherrschte. Doch was vor 150 Jahren noch problemlos möglich war, weil niemand den Wahrheitsgehalt der formvollendet geschriebenen Reportage überprüfen konnte, stößt im Zeitalter der weltweiten Vernetzung zwangsläufig an seine Grenzen.
Wer dennoch in seinem old-school-Denken verharrt und die Wahrnehmung der Gegenwart verweigert, dem werden irgendwann solche Missgeschicke wie jenes vom Relotius-Spiegel geschehen müssen. Bevor er dann als Dinosaurier in seiner ökologischen Nische erst immer mehr an Bedeutung verliert, um irgendwann gänzlich zu verschwinden.
Die Zukunft ist der sachgerechte Bericht
Ist das nun der Abgesang auf die Printmedien? Einmal mehr das Menetekel vom Ende der geschriebenen Kultur?
Nein, sicherlich nicht. Nicht nur, dass der Autor an seiner Überzeugung festhält, wonach es kein besseres Instrument der Kommunikation gibt als das geschriebene Wort – Print ist auch nach wie vor das einzige Medium, das in der Lage ist, Information und Denkanregung in komprimierter Form längerfristig zu erhalten.
Der Journalismus muss sich nicht neu erfinden. Er muss auch nicht darauf verzichten, mit formvollendeter Sprache anzutreten. Ganz im Gegenteil: Es sind vor allem jene Texte, die gern auch mehrmals gelesen werden, weil sie über die Leichtigkeit eines gewissen Sprachwitzes verfügen. Texte, die den Leser hier zum Nachdenken, dort zu Schmunzeln bringen. Die ihm vielleicht sogar gelegentlich einen lauten Lacher entlocken.
Vor allem aber sind die journalistischen Texte von heute jene, die auf jene ausufernde Phantasie, die schnell in Schwülstigkeit ausufert, ebenso verzichten wie auf den ständigen Belehrungsversuch des Lesers durch den Autoren. Beides stößt jene Leserklientel ab, die sich zutreffend für erwachsen genug hält, Sachverhalte selbst einordnen und beurteilen zu können. Die es aber erwartet, über diese Sachverhalte umfassend informiert zu werden – und dabei jene Hinweise und Kenntnisse vermittelt zu bekommen, die zu eben dieser Einordnung und Beurteilung unverzichtbar sind.
Hier auch – das sei an dieser Stelle unterstrichen – liegt jener Konkurrenzvorteil, den das geschriebene Wort immer gegenüber den Instrumenten der Telekommunikation haben wird. Denn das ist etwas, was von der TV-Doku niemals geleistet werden kann: Die im Zweifel unendliche Fülle an unverzichtbaren Zusatzinformationen bündeln und ebenso nachlesbar wie verifizierbar ins Archiv von Schrank oder auch Hirn zu legen.
Diese Lücke, die die neuen Medien nicht füllen können und die alten Medien offenbar nicht füllen wollen, ist die eigentliche Zukunft des Print.
Die klassische Reportage ist tot
Die klassische, geschriebene Reportage jedoch, die Sachverhalt mit Phantasie und Belehrung vermengt, ist längst schon nicht einmal mehr ein Auslaufmodell. Sie wird nur noch künstlich beatmet von Redakteursmannschaften, die, in sich selbst verliebt und unfähig zur inneren Erneuerung, wie einst die Weber an ihren Webstühlen verharren. Und die deshalb, weil sich ihnen alle anderen Weg als scheinbar versperrt erweisen, darauf konzentrierten, aus dem ursprünglich gewebten Gebrauchsgegenstand erst einen teuren Luxusstoff zu weben, den sie ständig verbesserten und verschönerten – und den dennoch am Ende niemand mehr haben wollte, weil den einen das maschinell Gestrickte deutlich günstiger erscheint, während die anderen längst neues und anderes gefunden haben, das ihren Vorstellungen und ihrem Anspruch viel eher entsprach.
Deshalb gilt: Weder ist das Print tot noch muss sich der Journalismus neu erfinden. Beide müssen sich lediglich von jenem Ballast befreien, den sie seit bald zweihundert Jahren als scheinbare Königsdisziplin mit sich herumtragen. Die Reportage ist nicht mehr zeitgemäß. Sie ist gestorben. Die sachgerechte, intelligente Berichterstattung hingegen ist mehr denn je gefragt. Sie lebt und erfährt täglich neuen Zuspruch.
Jenen Berichten, die auf phantasievolle Romane ebenso verzichten wie auf mehr oder weniger unterschwellige Belehrung und stattdessen auf Information und unterhaltsame, gern auch anspruchsvolle Sprache setzen, gehört die Zukunft. Magazine wie „Der Spiegel“, „Die Zeit“ oder selbst „Der Stern“ haben dann vielleicht noch eine Chance auf Überleben, wenn sie diesen Wandel begreifen und ihn mitgehen. Tun sie es nicht, wird es sie in zwanzig Jahren nicht mehr geben. Und es wird sie dann auch niemand vermissen.
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