Jüngst las ich, PdL-Die Linke und AfD seien keine demokratischen Parteien. Bislang galt für mich, dass jede Partei demokratisch ist, solange sie nicht explizit in ihren Zielen etwas anderes anstrebt, solange sie sich den demokratischen Spielregeln unterwirft.
Jüngst postete ein von mir sehr geschätzter Kollege aus der gemeinsamen Fraenkel-Steffani-Schule die Feststellung, PdL-Die Linke und AfD seien für ihn keine demokratischen Parteien. Ich muss zugeben – ich war irritiert. Denn bislang galt für mich, dass jede Partei demokratisch ist, solange sie nicht explizit in ihren Zielen und/oder ihrer Programmatik etwas anderes anstrebt. Und selbst dann mag es fragwürdig sein, eine Partei als undemokratisch zu bezeichnen, solange sie sich den demokratischen Spielregeln unterwirft.
Demokratie – beste, ideale oder einzige Staatsform?
„Demokratie“ wird heute gleich einer Monstranz als Banner des politischen Geschäftes allem voran getragen. Ernsthaft wird zumindest in Deutschland die Frage nicht mehr gestellt, ob es vielleicht auch eine andere, vielleicht sogar eine bessere Staatsform geben könnte als eben diese Demokratie. Das hat durchaus gute und auch nachvollziehbare Gründe, die maßgeblich auf dem beruhen, was nach der Abschaffung der deutschen Demokratie 1933 geschehen ist. Insofern scheint es einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu geben, der die Demokratie als einzig zulässige Staatsform deklariert. Es gilt im Zweifel das berühmte Wort Winston Churchills aus seiner Unterhausrede vom 11. November 1947: „No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.“
Und doch sind Zweifel berechtigt. So scheint beispielsweise die Volksrepublik China zu beweisen, dass ein Land auch ohne Demokratie erfolgreich sein kann. Dem Gros seiner Bürger geht es um ein Vielfaches besser als noch vor wenigen Jahrzehnten. Seine Wirtschaft boomt. Ein als Kommunismus verkleideter Elitarismus hat in nicht einmal einem halben Jahrhundert aus einem Entwicklungsland eine der führenden Welthandelsnationen gemacht. Geht es also auch ohne Demokratie? Oder ist Demokratie irgendwann zwangsläufig, wenn gesellschaftliche Entwicklung und wirtschaftlicher Erfolg beim Bürger den Wunsch nach individueller Selbstbestimmung wecken – so wie es viele Demokratietheoretiker erwarten?
Andererseits: Den USA als Ursprungsland der modernen Demokratie wird gern vorgeworfen, sich zu einer Oligarchie gewandelt zu haben. Ganz falsch scheint dieser Vorwurf nicht zu sein: Das Volksvermögen kumuliert zunehmend mehr bei wenigen Sippen und Institutionen, denen unterstellt wird, die Geschicke des Landes zu bestimmen. Wäre es tatsächlich noch eine Demokratie, wenn das Volk zwar über seinen Führer auf Zeit und sein politisches Führungspersonal selbst bestimmen darf – aber die „normative Kraft des Faktischen“ als Macht der Wenigen faktisch den Handlungsspielraum der Gewählten derart einengt, dass von Entscheidungsfreiheit kaum noch die Rede sein kann?
Oder blicken wir nach Deutschland. Unsere Demokratie verschleißt sich zusehends darin, Kritiker als „undemokratisch“ gezielt auszugrenzen. Die demokratisch zulässige Breite des Denkens scheint zunehmend eingeengt zu werden – Rede- und am Ende Denkverbote werden im Namen der Demokratie nicht nur hoffähig, sondern durch höchste staatliche Stellen organisierter Alltag.
Da scheint es an der Zeit, die Frage zu stellen, was überhaupt unter Demokratie zu verstehen ist.
Demokratie – was ist das eigentlich?
Demokratie ist ein Begriff, der sich aus dem Griechischen ableitet. Er setzt sich aus den beiden Teilbegriffen demos (δῆμος), dem Staatsvolk (oder besser: der Bevölkerung des jeweiligen Gemeinwesens), und kratia (κρατία), der Herrschaft, zusammen. Demokratie besagt insofern in seinem Ursprung nichts anderes, als dass die Mitglieder eines Gemeinwesens selbst über ihre Geschicke bestimmen und sich in ihrem Tun und Handeln nicht irgendwelchen privilegierten Einzelpersonen oder Personengruppen zu unterwerfen haben.
Ursprünglich und in der Hellenen-Schwärmerei des 19. Jahrhundert begründet wurde dieses Demokratieprinzip als Erfindung der antiken Griechen glorifiziert. Faktisch handelte es sich bei jenen bis heute in den Köpfen der Menschen so demokratischen griechischen Staaten um nichts anderes als um geregelte Formen der Elitenherrschaft. Denn diejenigen, die als „Staatsvolk“ per Abstimmung über die Geschicke des Gemeinwesens zu bestimmen hatten, waren in der Regel nur wenige privilegierte Herren. Die Damen der Gesellschaft waren von der Beteiligung ebenso ausgeschlossen wie das niedere Volk, welches sich auf Sklavenstatus eigener Rechte zu enthalten hatte. Die hellenische Demokratie war insofern nicht demokratischer als der altgermanische Ting oder die im Tanach mehrfach beschriebene hebräische Ältestenversammlung – sämtlichst Entscheidungsgremien einer privilegierten Elite, in der über gemeinsames, künftiges Handeln gesprochen und per Mehrheit entschieden wurde. Die Minderheit hatte nur zwei Alternativen: Sie konnte sich dem Diktat der Mehrheit unterwerfen und mitziehen – oder die Gemeinschaft verlassen und fortziehen, so wie es dereinst der biblische David-Enkel Rehabeam (Réchébým) tat, als die Mehrheit der Stammesführer statt seiner den Jerobeam (Jérébým) zu ihrem Führer wählte.
Demokratie und Minderheit
Da das, was Immanuell Kant als „Vernunft“ bezeichnete und Michail Alexandrovic Bakunin als sozialistischen Libertarismus einer idealen Selbstverwaltung der auf Vernunft basierenden menschlichen Selbstverwirklichung als Utopie entwickelte, angesichts der Grundmuster menschlichen Verhaltens selbst in einer perfekten Gesellschaft aber nur selten zu einem umsetzungsfähigen Ergebnis führt, wurde die Demokratie um ihrer gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit willen unweigerlich an den Mehrheitsentscheid gekoppelt. Will sagen: Das Volk bestimmt zwar selbst über seine Geschicke. Da jedoch kaum zu erwarten ist, dass trotz aller Vernunft alle Mitglieder ein identisches Ziel verfolgen, wird über strittige Fragen (und damit faktisch über so ziemlich alles) erst gestritten, dann abgestimmt und schließlich der jeweilige Mehrheitsentscheid verwirklicht. Das wiederum hat nicht zu Unrecht der Demokratie den Ruf der „Diktatur der Mehrheit“ eingebracht und in hochentwickelten Demokratien dafür Sorge getragen, bestimmte Minderheitenrechte rechtlich derart zu verankern, dass sie trotz gegenteiligem Mehrheitswillen nicht ausgehebelt werden können.
Das Undemokratische der deutschen Demokratie
Nicht nur, aber auch um insbesondere diese Minderheitenrechte zu sichern, geben sich demokratisch verfasste Gemeinwesen Verhaltensmaßregeln, die sie als Verfassung oder Grundgesetz bezeichnen und die die rechtliche Grundlage des Gemeinwesens definieren. Bemerkenswert dabei ist, dass beispielsweise das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland selbst in gewisser Weise undemokratische Grundsätze festschreibt. Oder formulieren wir es korrekter: Unser Grundgesetz lebt mit einem Widerspruch, den es selbst nicht aufzulösen in der Lage ist. Denn in Artikel 146 legt es fest, dass „dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“ (Anmerkung: Mit „Volk“ ist hier – anders als im deutschen Mehrheitsverständnis – nicht eine ethnische Gruppe, sondern das Staatsvolk als Gemeinschaft von Staatsbürgern gemeint), seine Gültigkeit an dem Tage verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.
Einmal abgesehen davon, dass Skeptiker aus dieser Formulierung und der Tatsache, dass das Grundgesetz durch das Repräsentativorgan Bundestag und nicht durch das „deutsche Volk“ beschlossen wurde, ableiten, Deutschland habe keine Verfassung (was im Wortsinn zutrifft, jedoch dadurch irrelevant ist, dass das Grundgesetz Verfassungscharakter hat), könnte sich hier ein Widerspruch zu Artikel 20 (4) eben dieses Grundgesetzes auftun. Dort nämlich wird das „Recht zum Widerstand gegen jeden festgeschrieben, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“ – mit „Ordnung“ ist hier der durch eben dieses Grundgesetz definierte, demokratische Verfassungsstaat gemeint.
Was aber nun, wenn tatsächlich eine Mehrheit des Volkes in einem demokratischen Prozess beschließen wollen sollte, die demokratische Verfassung durch irgend etwas anderes zu ersetzen, das die Volksherrschaft nicht vorsieht? Dann gibt sich das Grundgesetz im Widerspruch zu Artikel 146 selbst und damit ihren Verfechtern das Recht, gegen die eigene Mehrheit Widerstand zu leisten – und dessen Mehrheitswillen zu ignorieren. Damit wird letztlich das in diesem Grundgesetz festgeschriebene demokratische Prinzip selbst über die Demokratie gestellt – und würden wir es korrekt formulieren, so wären wir als Deutsche Bürger nicht mehr Demokraten, sondern Über-Demokraten, die sich aus ihrer spezifischen Definition der Demokratie heraus das Recht ableiten, das ursprüngliche Demokratiekonzept auszuhebeln. Eine sogenannte Basisdemokratie, in der die Masse des Volkes selbst alles mögliche bestimmt, könnte – obgleich in Artikel 20 (2) als Möglichkeit vorgesehen – damit insbesondere dann Anlass des Widerstandes werden, wenn sie beispielsweise die Abschaffung des Bundestages zum Ziel hätte, da dieser zwar nicht explizit als Verfassungsorgan festgeschrieben, letztlich aber doch über Abschnitt III des Grundgesetzes als solches definiert wird.
Halten wir also fest: Unsere Demokratie definiert einen Handlungsrahmen, der deutlich über den ursprünglichen Demokratierahmen hinaus geht und dabei sich und das Volk unter den Vorbehalt stellt, seine eigenen Definitionen über einen möglichen Mehrheitsentscheid des Volkes zu stellen.
Die Tragweite der Überdemokratie
Das, was scheinbar nach staatsrechtlicher Atemübung klingt, entwickelt in der Praxis der Bundesrepublik Deutschland durchaus eine Tragweite, die – skeptisch betrachtet – den demokratischen Anspruch unsers Gemeinwesens hinterfragen lässt. Womit ich wieder bei meinem eingangs zitierten Kollegen und der Frage danach bin, was demokratisch ist und was nicht.
Unsere Demokratie basiert faktisch nicht mehr auf dem klassischen Mehrheits-Selbstbestimmungsrecht. Denn sie schränkt die Rechte der „Demokraten“ zur Selbstbestimmung deutlich ein. Ein Recht des Volkes, nicht nur die Demokratie an sich als Selbstbestimmung beispielsweise per Mehrheitsentscheid durch einen autoritären Kaiser oder Diktatoren zu ersetzen, sieht unsere Überdemokratie nicht vor. Doch auch zahlreiche, deutlich niederrangig anzusetzende Ziele und Denkansätze schließt unser Grundgesetz aus. Denn es definiert eben nicht nur Minderheitenrechte, die faktisch als Eigenheit der Überdemokratie festgeschrieben sind – es erklärt auch Inhalte, die als Nicht-Bestandteil der Überdemokratie nicht mehr im Rahmen dieses Systems zulässig sind.
Überrecht über der Überdemokratie
Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die Präambel, um zu erläutern, wie dieses zu verstehen ist. Dort steht folgender Satz: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Gehen wir davon aus, dass diese Präambel quasi das Fundament ist, auf dem unser Gesellschaftsmodell steht, dann bewegt sich jeder, der beispielsweise nicht „von dem Willen beseelt“ ist, als „Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, nicht mehr auf dem Boden unserer Verfassung – und es darf gemäß Artikel 20 (4) Widerstand gegen ihn geleistet werden.
Oder nehmen wir jemanden, der den unregulierten Zustrom von Zuwanderern beschränken oder vielleicht sogar gänzlich beenden möchte. Der würde unmittelbar nicht nur mit Artikel 16 a – dem „Asylrecht“ – sondern mehr noch mit Artikel 25 konfrontiert werden. Denn dort wird das sogenannte Völkerrecht in seinen „allgemeinen Regeln“ nicht nur als Bundesrecht auf die Ebene des Grundgesetzes gehoben, sondern explizit über deutsches Recht gestellt. Das Problem: Dieses sogenannte Völkerrecht wird faktisch an keiner Stelle des Grundgesetzes konkret definiert – und es besteht nach allgemeingültiger Interpretation nicht nur aus der Charta der Vereinten Nationen, sondern selbst aus „ungeschriebenem“ Völkergewohnheitsrecht sogenannter allgemeiner Prinzipien und verbindlicher Normen.
Nicht nur, dass damit letztlich das deutsche Volk den Zugriff auf ein sein eigenes Recht durch vorrangig zu betrachtende Fremdregeln aufgibt – es unterwirft sich auch vorgeblichen Prinzipien, denen – wenn wir nun einen Blick auf die Wirklichkeit unserer Welt werfen – viele Staaten sich nicht einmal pro forma beugen.
Wollte Deutschland also einmal mehr päpstlicher als der Papst sein, als es sich diese Formeln in sein Grundgesetz schrieb? Vermutlich müssen wir diese Frage mit „Ja“ beantworten – auch wenn die Intention derartiger Formulierungen durchaus in die Rubrik des „gut gemeint“ fallen. Denn letztlich wollten diejenigen, die solche Grundgesetzklauseln beschlossen, damit nur eines: Gewährleisten, dass sich eine Phase wie jene Jahre zwischen 1933 und 1945 in der deutschen Geschichte niemals wiederholen sollten. Niemand kann ernsthaft daran Zweifel haben, dass dieses Ziel in seinem Kern sinnvoll und zu gewährleisten ist.
Von der Staatsidee zum Supermarkt der Individualisten
Statt nun aber konkret zu definieren, was zu tun ist, um dieses sinnvolle Staatsziel zu gewährleisten, füllte sich das Grundgesetz mit eben solchen Floskeln wie dem „vereinten Europa“ ohne zu definieren, ob dieses nun ein politischer Zentralstaat, ein föderatives Staatsmodell oder nur nach britischen Muster ein Zusammenschluss souveräner Nationalstaaten sein soll. Es stellte sich nicht nur unter ein Völkerrecht, welches faktisch bis heute immer noch mehr utopischer Anspruch als gelebte Wirklichkeit ist – es unterwirft sich selbst ungeschriebenen Normen eines Gewohnheitsrechts – welches wiederum aus den unterschiedlichsten „Gewohnheiten“ besteht.
Tatsächlich wird unser Staat damit zu einer Art Utopia – einem Gemeinwesen, welches das hehre Ziel an die Stelle einer eindeutig nachvollziehbaren, pragmatischen Staatsidee stellt. Jenseits dessen, dass jede Gemeinschaft Utopien benötigt, über die sie nachdenken muss und die sie anstreben kann, wird hier nun das Utopia zum Selbstbedienungsladen der Gegenwart. Ein jeder kann sich aus diesem Sammelsurium von ungeschriebenen Gewohnheiten bis staats-individuellem Verfassungsziel das herausgreifen, was ihm persönlich am ehesten in sein gelebtes Utopia passt. Die Bundesrepublik Deutschland wurde so von einem Verfassungsstaat mit konkret definierten Staatszielen zu einem Supermarkt der Individualisten und ihrer Phantastereien.
Alles ist begründbar – oder auch nicht
Illegale Einwanderer werden zu Flüchtlingen? Kein Problem! Das Völkerrecht gewährleistet doch, dass jeder, der sich irgendwie bedroht fühlt, andernorts Asyl suchen darf. Also steht Deutschland in der uneingeschränkten Pflicht, einen jeden aufzunehmen, denn bedroht sind irgendwie doch alle.
Armutsflüchtlinge aus anderen Regionen möchten gern vom deutschen Sozialstaat partizipieren? Selbstverständlich! Denn schließlich gilt unser Sozialstaatsgebot für alle Menschen – nicht nur für deutsche Staatsbürger.
Einige möchten gern die Errungenschaft der europäischen Gemeinschaftswährung infrage stellen? Unmöglich! Schließlich dienen wir als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt. Da wäre jedes Zurück hinter bereits durchgesetzte Errungenschaften der Vereinigung ein Verfassungsverstoß.
Sind das nun überzogene Beispiele? Vielleicht. Aber sie dienen vorrangig dem Ziel zu verdeutlichen, wie sehr unser Staat sich über sein Grundgesetz zu einer irrealen Institution entwickelt, in der letztlich jeder demokratisch gerechtfertigte Ansatz, der es zu wagen scheint, sich außerhalb eines diffusen Normenkatalogs zu bewegen, verfassungsgerecht niedergemacht werden kann. Alles wird begründbar, wenn man es will – oder kann als verfassungsfeindlich ausgegrenzt werden, wenn es einem nicht gefällt.
Das Gutmenschentum, das ein zukunftsorientiertes, funktionsfähiges Staatswesen durch die Villa Kunterbunt der Pippi Langstrumpf ersetzt hat, kann sich mit vollem Recht auf unsere als Grundgesetz einher kommende Verfassung berufen. Das neue deutsche Wesen einer Welt der Liebe und Offenheit, des naiven Glaubens an Weltfrieden und Völkerverständigung – sie hat Verfassungsrang. Zumindest dann, wenn wir die Floskelitis des Grundgesetzes in der Menge seiner angedeuteten, jedoch nicht konkretisierten Ziele und Einschränkungen tatsächlich ernst nehmen. Und das kommt nicht von ungefähr – es ist kein Versagen der Verfassungsmacher.
Der lange Schatten Hitlers
Tatsächlich nämlich – ich deutete es bereits an – dienen all die Floskeln, Einschränkungen und Überordnungen nur einem einzigen Ziel: Der Verhinderung der Wiederkehr von 1933. Alles steht unter dem ehernen Motto: Nie wieder Hitler! Nie wieder Diktatur!
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist so tatsächlich nicht die Verfassung eines selbstbewussten, unabhängigen und demokratischen Staates – es ist das Gesetz gewordene Anti-Hitler-Konzept. Deutschland sollte niemals wieder in die Gefahr geraten können, im Zweifel sogar auf Basis eines demokratischen Mehrheitswillens von Figuren wie Hitler gekapert zu werden. Deswegen ziehen die Verfassungsmütter und Väter seit 1949 ihrem offenbar immer noch für unmündig gehaltenem Volk eine nach der anderen Korsettstangen ein, die nur diesem einen einzigen Ziel dienen sollen: Nie wieder Nazis! Und sie ziehen mit diesen Korsettstangen Denkverbote und Diffamierungspotentiale ein, die das gedanklich Erlaubte beständig einengen in eine Richtung, die von Vertretern eines sich als einzig rechtgläubigem Meinungsdiktats verstehend als ebenso einzig zulässig behauptet wird.
Da bin ich nun wieder bei meinem Kollegen. Er hat dann recht mit seiner Feststellung, PdL und AfD seien „keine demokratischen Parteien“, wenn man unter Demokratie jene Überdemokratie versteht, die unser Grundgesetz definiert. Allein die Möglichkeit, dass beide Parteien – die eine durch ihre Vergangenheit und die systemüberwindenden Perspektiven ihrer Parteiprogrammatik, die andere durch ihre mangels entsprechender Programmatik gefühlten „fremden- und europafeindlichen“ Ziele – eine Überwindung unserer Überdemokratie anstreben könnten, macht sie letztlich zu Feinden unserer Verfassung.
Ich denke aber, man kann nicht nur – man muss das deutlich anders sehen. Ein zukunftsfähiger Staat kann auf Dauer nicht existieren, wenn er maßgeblich durch die Abwehrreaktion auf einen historischen Fehlweg bestimmt wird. Das Deutschland des 21. Jahrhunderts wird nicht umhin kommen, über den langen Schatten Hitlers zu springen und sich endlich als selbstbewusstes, leistungs- und zukunftsfähiges Gemeinwesen zu begreifen und sich entsprechend zu definieren. Oder aber wir werden uns in der scheinbaren Abwehr unserer eigenen Vergangenheit selbst ersticken, weil wir nicht nur unsere Villa Kunterbunt mit Staatsräson verwechseln, sondern in unserer Furcht vor dem Gestern das Morgen aus dem Blick verloren haben.
Aus Angst um die Demokratie in der Diktatur enden
Deshalb auch widerspreche ich meinem Kollegen vehement: PdL und AfD mögen Parteien sein, deren Inhalte tatsächlich schwer mit den im Grundgesetz verankerten Zielen und Grundsätzen unserer Überdemokratie übereinstimmen. Die Ursache dafür aber liegt in der oben beschriebenen Enge des Grundgesetzes als Konzept einer Nazi-Abwehr- und Verhinderungsdemokratie.
Als überzeugter Demokrat hingegen bin ich der Auffassung, dass ein funktionsfähiges Gemeinwesen auch politische Meinungen aushalten muss, die sich über die Definitionen der Überdemokratie hinwegsetzen. Undemokratisch wird eine Partei erst dann, wenn sie explizit die Abschaffung der Volksherrschaft und des Mehrheitsprinzips anstrebt. Das jedoch ist derzeit weder mit Blick auf die PdL noch auf die AfD zu konstatieren. Und das bedeutet: Selbst wenn diese Parteien mit Blick auf unsere Verfassung als „verfassungsfeindlich“ eingestuft werden sollten – was allerdings nicht Aufgabe eines einzelnen Akteurs, sondern ausschließlich des Bundesverfassungsgerichts sein kann – müssen sie deshalb immer noch nicht undemokratisch sein. Denn unsere Verfassung repräsentiert zwar ein von den Verfassungseltern gewolltes, demokratisches Staatsmodell – es jedoch als einzig zulässiges Demokratiemodell zu begreifen, wäre praktisch wie theoretisch unzulässig.
Das Recht, andere Auffassungen als die einer Mehrheit oder auch der regierenden Eliten zu vertreten, ist Kernbestandteil der Demokratie. Selbst dann, wenn mir diese abweichenden Inhalte und Ziele noch so widersinnig erscheinen mögen. Wer dieses Recht missachtet, der missachtet die Notwendigkeit des Pluralismus in der Demokratie selbst dann, wenn er diese wohlmeinend durch eine humanistisch gemeinte Überdemokratie zu ersetzen sucht, die sein spezifisches Demokratiemodell auf ewig sichern soll. Und damit macht er seine Demokratie selbst zur Diktatur und führt seine Gesellschaft statt in die Freiheit erst in das Meinungsdiktat und am Ende tatsächlich in die Diktatur.
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