Martin Schulz: Auf der Flucht

Jean-Claude Ohneland sollte jetzt eingedämmt werden mit klaren Rechtsregeln und einem institutionellen Rahmen, der der Freiheit der Bürger dient und nicht dem ungezügelten Machtanspruch der Bürokraten und Politiker.

© Adam Berry/Getty Images

Die Europäische Union hat offensichtlich an Anziehungskraft verloren. Das zeigt gerade die Flucht ihres ehemaligen Parlamentspräsidenten Martin Schulz in eine hasardeurische Kanzlerkandidatur, an deren Ende wahrscheinlich nicht seine Kanzlerschaft stehen wird, sondern bestenfalls eine Ministerlimousine. Wäre die Europäische Union das Zukunftsprojekt, für das es viele Eurokraten lange gehalten oder dies zumindest in Sonntagsreden immer wieder apostrophiert haben, dann wäre sein Platz weiterhin – oder gar jetzt erst recht – in Brüssel und Straßburg. Dann würde er und andere vom EU-Parlament aus für mehr Rechte des Parlaments kämpfen. Sie würden dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs trotzen und die Kommission zum Jagen tragen.

Doch das Gegenteil ist der Fall. Man kann Schulz vieles vorwerfen – ein leiser Vertreter der Interessen des EU-Parlaments war er nicht. Er hat dem EU-Parlament ein Gesicht gegeben, das nicht jedem gefallen hat. Er hat sich ins Bild gedrängt, auch wenn er nicht darum gebeten wurde. Er hat lange Zeit mit Kommissionspräsident Juncker ein Tandem gebildet, das für das Dogma einer „ever closer union“ stand, also für das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa. Kurz: Schulz verkörperte wie kein anderer die „alte“ EU.

Stille Langweiligkeit bleibt jetzt übrig. Sein Nachfolger, der Italiener Antonio Tajani, ist die fleischgewordene Inkarnation dieser Langeweile. Bei seiner ersten Pressekonferenz wurde er zur Brexit-Rede von Premierministerin Theresa May am Tag zuvor befragt. Seine Antwort darauf: „Ich sollte nichts sagen zu Äußerungen von Regierungschefs der europäischen Staaten.“ Weniger geht nicht.

Exit vom Brexit?
Spiel über Doppelbande? Exit, Brexit oder Nexit.
Dabei hat die Britin einen bemerkenswerten Spagat geschafft. Sie bricht nicht mit Europa, sondern nur mit der Europäischen Union. Und dies auch nicht mit nationalistischen Tönen, sondern sie begründet das letztlich mit dem großen kulturellen Unterschied zwischen der Insel und dem Festland. Es ist der Wunsch nach Rückgewinnung eigener Souveränität, in der Rechtsetzung, in der Rechtsprechung oder im Einwanderungsrecht. Das ist legitim und konsequent, insbesondere, wenn man glaubt, den Weg der EU in eine immer engere Union nicht umkehren zu können.

In der Tradition der „Rule of Law“ ist auch das Urteil des obersten Gerichtshofs in Großbritannien zu sehen. Die Richter haben diese Woche entschieden, dass zum Austrittsantrag aus der EU nach Art. 50 der Europäischen Verträge erst das britische Parlament seine Zustimmung erteilen muss. Das haben viele Kommentatoren als Niederlage Mays interpretiert. Doch gerade dieses Urteil kennzeichnet exemplarisch den Unterschied zur Europäischen Union. Existentielle Fragen werden nicht durch Rechtsbeugung der Exekutive und deren anschließendes Durchwinken durch die Judikative legitimiert. Sondern eine Regierung muss die Grenzen ihres Handelns beachten, kann sie also nicht einfach durch falsch verstandenen Pragmatismus beseitigen. In diesem Urteil zeigt sich die große Verfassungstradition der Briten. In ihrer Geschichte ging es seit der Unterzeichnung der Magna Carta durch König Johann Ohneland (1166 – 1216) immer um die Machtbegrenzung der Herrschenden durch das Recht. Kein König, kein Herrschender und auch keine Regierung durften sich seitdem über das Gesetz stellen. Diese Herrschaft des Rechts ist von England aus in Europa und in die Welt exportiert worden.

Vom Rechtsverständnis der Briten lernen

Das EU-Parlament, aber auch der Gerichtshof der EU ist bislang nicht dabei aufgefallen, dass es besonders kritisch mit der Kommission umgegangen ist. Im Gegenteil, das Parlament suchte bislang immer den nibelungentreuen Schulterschluss mit der Kommission und das Gericht hatte eine besondere Freude daran, im Sinne einer stärkeren Zentralisierung der EU zu urteilen. Diese „kulturellen“ Unterschiede zwischen Großbritannien und der restlichen EU sind der eigentliche Kern dessen, warum sie sich auseinandergelebt haben. Natürlich muss und wird sich Großbritannien verändern. Aber viel dringender sind Veränderungen der Europäischen Union. Wer glaubt, man müsse jetzt besonders hart mit Großbritannien umgehen, damit der Brexit nicht zum Einfallstor für weitere Austritte wird, denkt in den Kategorien der alten EU des Martin Schulz. Wer nur mit Druck und Repression eine Staatengemeinschaft zusammenhalten kann, wird bei der erst besten Erschütterung die Fliehkräfte nicht mehr eindämmen können. Eine „neue“ EU würde Großbritannien die Hand reichen, ihr ein Freihandelsabkommen anbieten, so wie England es 1860 mit Frankreich vereinbart hat. England verzichtete damals einseitig auf alle Schutzzölle. Wie wäre es denn, wenn britische Unternehmen in die EU künftig nicht 10 Prozent Einfuhrzoll für Autos und andere Waren bezahlen, sondern sich die Unternehmen in der EU dem unverzerrten Wettbewerb stellen müssten. Die EU wäre keine Wagenburg mehr, sondern ein offener Marktplatz für alle.

Daraus folgt: Wenn Leute wie Martin Schulz in der EU den Hut nehmen, ist vielleicht der Magna-Carta-Moment für die EU gekommen. Jean-Claude Ohneland sollte jetzt eingedämmt werden mit klaren Rechtsregeln und einem institutionellen Rahmen, der der Freiheit der Bürger dient und nicht dem ungezügelten Machtanspruch der Bürokraten und Politiker.

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