Wenn Lokführer der Bahn und bald auch die Piloten der Lufthansa wieder die Arbeit niederlegen, gilt es buchstäblich innezuhalten. Dann steht wieder ganz Deutschland im Stau, kommt zu spät zur Arbeit und Millionen von Bürgern werden in Geiselhaft genommen, um die Ziele einiger wenigen durchzusetzen.
Dann sagen die einen: „Das Streikrecht ist auf den Barrikaden der Arbeiterkämpfe vor 150 Jahren mit Blut und Tränen erkämpft worden“. Wieder andere meinen: „Wie sollen sich die Arbeitnehmer sonst gegen die Übermacht der Arbeitgeber wehren?“ Und nochmals andere posaunen: „Die Koalitionsfreiheit ist im Grundgesetz geschützt und deshalb ist der Streik das legitime Mittel zur Durchsetzung von Gewerkschaftsforderungen.“
In einer solch emotional aufgeladenen Stimmung ist es hilfreich einmal über den Tellerrand zu schauen. Wie machen es andere? Können wir von diesen vielleicht sogar lernen? Das Land mit den wenigsten Streiktagen ist unser südlicher Nachbar, die Schweiz. Dort fiel durchschnittlich pro 1000 Beschäftigte lediglich ein Arbeitstag durch Streiks aus, in Deutschland waren es 16 (Quelle: WSI 2014, Hans-Böckler-Stiftung 2014). Die Schweiz hat Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosigkeit lag 2014 bei 3,3 Prozent. Ist die geringe Streikbereitschaft der Schweizer Arbeitnehmer vielleicht sogar die Ursache für die Vollbeschäftigung?
Sicherlich ist der Zusammenhang nicht monokausal, aber völlig abwegig ist er auch nicht. Rund die Hälfte der Schweizer Arbeitnehmer darf gar nicht streiken. Sie sind einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt, bei dem eine strenge Friedenspflicht gilt, die so tief in der eidgenössischen Gesellschaft verwurzelt ist, wie vielleicht nur noch die außenpolitische Neutralität der Schweiz. Der wesentliche Unterschied zu Deutschland ist, dass das Tarifkartell aus Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften bei weitem nicht diese dominierende Bedeutung hat. Zwar kennt auch die Schweiz ein kollektives Arbeitsrecht, bei dem Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften einen Rahmentarifvertrag verhandeln, doch anders als in Deutschland sind Gehaltsverhandlungen und Einstufungen von Arbeitnehmern nicht die Aufgabe der Tarifpartner, sondern individuelle Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den jeweiligen Betrieben. Die Schweiz kennt im Wesentlichen nur Informationspflichten des Unternehmens gegenüber der Mitarbeitervertretung oder den Beschäftigten. Ein Mitwirkungsrecht wie es das Deutsche Arbeitsrecht kennt, ist dort fremd.
Führt dies zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeitnehmer, weil sie weniger Macht gegenüber der „Kapitalseite“ haben? Nein, ganz im Gegenteil. Die Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes ist nicht nur für den Arbeitgeber gut, sondern auch für die Arbeitnehmer.
Sie können sich ihren Arbeitsplatz aussuchen, leichter höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Anders als in Deutschland kündigen daher in der Schweiz viele Arbeitnehmer, ohne vorher einen neuen Arbeitsplatz zu haben.
Wenn jetzt die Regierung eine Monopolisierung der Lohnfindung durch ein Tarifeinheitsgesetz durchsetzen will, um dem Arbeitgeberverband und den Deutschen Gewerkschaftsbund zu gefallen, geht dies in die falsche Richtung. Es zementiert die Gewerkschaftsmacht gegenüber den Kunden des Unternehmens, aber auch gegenüber den Arbeitnehmern. Sie werden faktisch zu einer Mitgliedschaft in der mitgliederstärksten Gewerkschaft genötigt. Der Preis dafür ist hoch. In wenig wettbewerbsintensiven Märkten, wie dem Bahn- oder Luftverkehr, bekommen die Großgewerkschaften plötzlich ein Erpressungspotential in die Hand, das vielleicht den Egoismus der Spartengewerkschaften einschränkt, aber dennoch die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen auf Dauer gefährdet. Denn die Kunden können und werden die Leistungen der Bahn substituieren, indem sie mit Fernbussen oder Auto fahren. Und Passagiere der Lufthansa wechseln zu Wettbewerbern, die verlässlicher und preiswerter sind. Deshalb ist das non-zentrale Modell der Lohnfindung in der Schweiz unserem Modell des gesetzlich zementierten Tarifkartells überlegen – nicht nur was die geringe Zahl der Streiktage betrifft. Es schafft vor allem mehr Vertragsfreiheit auf beiden Seiten und stärkt damit die individuelle Freiheit.
Wenn am 1. Mai auf den hiesigen Marktplätzen die verbalen Schlachten des Klassenkampfes von gestern geschlagen werden und am Schluss das alte Arbeiterlied: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ geträllert wird, sollten Freiheitsfreunde in Nah und Fern das Lied der Sportfreunde Stiller „New York, Rio, Rosenheim“ anstimmen. Dort heißt es: „Wir woll’n nicht Leben wie ein eingerollter Igel; wir leben unser Leben und das Göttliche in jedem. Sie schüren Angst und Frust, wir haben darauf keine Lust.“
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