Ein Aufbruch lebt vom Schwung – und den hat der Brexit nicht. Doch damit gewinnt der Status quo, selbst wenn er so verkrustet ist wie die EU. Erklärt Stratege Christian Rieck.
Können Sie sich noch an die Einführung der Blu-ray Disc erinnern? Bevor sie richtig verbreitet war, gab es eine längere Zeit mit zwei Systemen. Das zweite System hieß HD-DVD und obwohl sich heute kaum noch jemand daran erinnert, war es einmal etwa gleich weit verbreitet wie Blu-ray. Während dieser Zeit war das Rennen weitgehend offen und die meisten Kunden hielten sich mit dem Kauf beider Systeme zurück, weil niemand aus Versehen auf den Verlierer setzen wollte.
Dann kündigte ein großes Studio an, seine Filme nur noch auf Blu-ray anzubieten, und ab da ging alles sehr schnell. Die Kunden machten mehr oder weniger über Nacht das, wozu sie sich über Monate hinweg nicht durchringen konnten: Sie sprangen in Scharen auf Blu-ray und verließen die HD-DVD. Denn jeder war sich jetzt sicher, wer den Formatkrieg gewinnen würde – und genau dadurch wurde derjenige auch zum Sieger.
Dahinter steht ein allgemeineres Prinzip. Es gibt viele Situationen, in denen mehrere weitgehend gleichberechtigte Gleichgewichte existieren. Den Beteiligten ist es dabei ziemlich egal, was sie im Detail tun, solange sie bei der Mehrheit dabei sind. Wenn die Mehrheiten unklar sind, dann halten sich alle zurück; wenn die Mehrheit klar ist, dann machen alle mit und stützen damit genau diese Mehrheit. Natürlich sind Menschen nicht nur auf die Gegenwart bezogen, sondern sie denken auch nach, was in Zukunft sein wird. Es zählen also nicht nur die gegenwärtigen Mehrheiten, sondern auch die erwarteten Mehrheiten der Zukunft. Deshalb muss es einen Ruck geben, der alle aufweckt und mitreißt.
Was die Menschen erwarten, entscheidet
Erwarten Viele, dass sich eine politische Richtung durchsetzt, dann wollen alle so schnell wie möglich auf den Zug aufspringen, um ganz vorn mit dabei zu sein. Das ist so, wie wenn man Aktien der oben beschriebenen Speicherhersteller kauft: Wenn das Medium erst einmal verbreitet ist, dann sind die großen Gewinne schon vorbei. Nur wenn man vorher dabei ist, macht man den großen Gewinn. Springt man aber auf das falsche System auf, dann macht man einen riesigen Verlust.
Deshalb ist es in Umbruchphasen alles entscheidend, was die Menschen erwarten. Normalerweise ist die Erwartung, dass das bestehende System auch in Zukunft bestehen bleibt. Es ist also normalerweise die erfolgversprechendste Strategie, auf den bisherigen Sieger zu setzen, denn solange dies alle tun, bleibt es der Sieger. Will man das ändern, dann muss man die Erwartungen steuern. Gelingt es, eine Mehrheit erwarten zu lassen, dass sich die Angreifer durchsetzen, dann schwenken viele um, stärken den Angreifer, ändern die Erwartungen vieler Anderer, die dann ebenfalls umschwenken usw. Deshalb wechseln Mehrheiten meist nicht langsam, sondern „erdrutschartig“. Der Begriff passt genau, denn ein Erdrutsch ist wie eine Lawine, bei der herabstürzende Massen immer mehr Massen mit sich reißen, dadurch immer größer werden und genau dadurch noch mehr mitreißen. Aber die Umkehrung gilt auch: Ist der Schwung erst einmal weg, kommt das ganze zum Erliegen.
Womit wir beim Brexit wären. Damit eine solch radikale Loslösung vom Status Quo möglich wird, braucht man Schwung, der immer mehr Massen mit sich reisst, weil keiner den Anschluss verlieren will. Wenn die Bewegung ein Erfolg werden soll, dann müssten wir jetzt eine riesige landesweite Aufbruchstimmung sehen. Nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses im Morgengrauen des 24. Juni hätte man Autokorsos wie nach einem gewonnenen Fußballspiel sehen müssen. Es hätte ein Ruck durchs Land gehen müssen, der zeigt, dass die Menschen aufatmen, und wir hätten eine Vielzahl von Aktivitäten sehen müssen, die zu sofort sichtbaren Änderungen führen. Auf dem Kontinent hätten die Menschen neidisch werden müssen und darüber nachdenken, wie sie noch schnell nach England umziehen können, um früh dabei zu sein. Dynamik ist in einer solchen Situation alles.
Stattdessen sehen wir vom ersten Tag an Katerstimmung und Unglaube. Der Anführer der Revolte verkriecht sich (oder wurde von Parteifreunden ausgeschaltet), und es gibt kein Feuerwerk an Ideen, was mit der neu entstandenen Freiheit gemacht werden könnte. Kein Schwung. Und damit gewinnt der Status Quo, weil jeder erwartet, dass er aufs falsche Pferd setzt, wenn er auf den Wandel setzt. Da nun niemand setzt, bleibt der Erdrutsch dort liegen, wo er gerade ist.
Fehlt der Schwung, gewinnt der Status Quo
Ich halte es für das wahrscheinlichste Szenario, dass das Austrittsgesuch nie abgegeben wird, denn wer will schon derjenige sein, der an der Spitze eines erstarrenden Erdhaufens steht?
Die Brexiter haben einen gewaltigen Fehler gemacht: Sie haben mit großer Emotionalität den Wahlkampf geführt – und nie an den eigenen Erfolg geglaubt. Sie hätten ihn haben können, wenn sie den Schwung der Überraschung für den wirklichen Erdrutsch genutzt hätten. Dann hätten auch die anderen Wähler daran glauben können, dass es einen Erfolg außerhalb der EU wirklich gibt. Dann hätten sie die Kreativität der vielen Menschen in Richtung Aufbruch kanalisiert und damit die Bewegung zu einem echten Erfolg bringen können, der die verkrustete EU das Fürchten lehrt. Aber sie waren nur gegen etwas, nicht für etwas. Die Tatenlosigkeit jetzt ist ein deutlicher Indikator, dass sie den Zustand auch ganz bequem fanden, nicht wirklich selber entscheiden zu müssen, aber immer einen Sündenbock zu haben.
Der Jugend war das Ganze augenscheinlich egal, denn diese Gruppe ist zu zwei Dritteln gar nicht erst zur Wahl gegangen. Vermutlich hatten sie den richtigen Riecher: Die Bürokratieveranstaltung EU ist wahrlich keine Vision, die das Herz anspricht; aber ein Club visionsloser und behäbiger Neinsager eben auch nicht. Die Jungen sind aber diejenigen, die einen Aufbruch letztlich umsetzen müssen.
Jetzt ist es zu spät. Wenn das Austrittsgesuch tatsächlich noch abgegeben werden sollte, dann mit Zittern, Zähneklappern und der Erwartung, dass die neue Freiheit sowieso kein Erfolg wird. Und genau dadurch wird sie dann auch keiner.
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Mit dem Brexit ist es wie mit der Wiedervereinigung, man sieht nur auf lange Zeit, wem sie schadet und wem sie nützt. Spätestens seit der 750 Mrd EUR Corona Wiederaufbauhilfe der EU weiss der letzte Brite, dass der Brexit eine gute Idee war.