Wider die saturierte Gesellschaft – eine Polemik

Wir sind übersättigt und bequem, stellen gleichzeitig immer höhere Ansprüche an andere: den Staat vor allem, aber auch den Arbeitgeber. Ein Zerrbild?

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„Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ Das schrieb im Februar 2010 der damalige Außenminister Guido Westerwelle in einem Meinungsbeitrag für die WELT. Vor allem für diesen Satz erntete er einen Sturm der Entrüstung, weil ihm unterstellt wurde, er diskreditiere damit pauschal die Empfänger von Sozialleistungen. Dabei wies er völlig zurecht daraufhin, dass sozialstaatliche Leistungen auf der Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit von Abermillionen Steuerzahlern beruhen. Von den Finanziers sei in Politik und Medien kaum die Rede, viel dagegen von den Empfängern staatlicher Leistungen.

Rainer Hank hat in der FAS vom vergangenen Sonntag in seinem lesenswerten Beitrag „Sind wir noch liberal?“ den Pendelschlag hin zu mehr Staat und weniger Wettbewerb kritisch thematisiert. „Könnte es sein, dass es uns einfach zu gut geht?“, schreibt er. Und weiter: „Wir haben keine Arbeitslosigkeit, kaum Inflation und eine schwarze Null in den Haushalten. Wir leben in der besten aller Welten. Das nimmt den Reformdruck: Von den Sozialausgaben über die Bankenrettung bis zur Energiewende – wir tun so, als ob wir uns alles leisten könnten. Auf Partys, die zu lange dauern, wird man am Ende sehr müde.“

In der Tat: Viel spricht für die These von Hank, dass die Ursache für die Abwendung vom Liberalismus nicht in der Unzufriedenheit, sondern in zu großer Selbstzufriedenheit zu suchen ist. Die Menschen lieben es bequem – von der Wiege bis zur Bahre. Die Kita soll nichts kosten und trotzdem pädagogische Qualität liefern. Studiengebühren, einstens gegen viele Widerstände eingeführt, sind längst flächendeckend wieder abgeschafft. Den Akademisierungswahn lässt sich Deutschland etwas kosten, während händeringend die Facharbeiter in den Handwerksberufen gesucht werden, in denen man für den Meisterbrief wie selbstverständlich Tausende von Euro hinblättern und viele Abende und Wochenenden berufsbegleitend büffeln muss. Die Pflegeversicherung, einst als Teilkaskoversicherung konzipiert, mutiert immer stärker zum Erbenschutzprogramm, weil man der Pflegekasse immer höhere Pflichtaufgaben aufhalst. Dass Asylbewerber, so aussichtslos ihre Anerkennungschancen auch immer sind, deutsche Sozialleistungen erhalten, die sie auch nicht verlieren, wenn sie abgelehnt sind, aber nicht abgeschoben werden, passt ins Bild einer übersatten Gesellschaft. Dass Topmanager mit Millionengehältern aus der Telekommunikationsbranche penetrant für ein bedingungsloses Grundeinkommen werben, damit sich der Plebs auch künftig ihre Smartphones leisten kann, falls die Digitalisierung Jobs kostet, empfinde ich als geradezu obszön.

Obwohl so viele Arbeitsplätze wie noch nie nicht besetzt werden können, im Juli gab es 1,2 Millionen offene Stellen, haben wir bis jetzt rund eine Million Facharbeiter abschlagsfrei in den vorzeitigen Ruhestand mit 63 Jahren ziehen lassen. Freiberuflern, die Rede ist vom Arztberuf, muss man heutzutage als Gesundheitsminister offenbar dafür Geld offerieren (von den beitragszahlenden Krankenkassenkunden), dass sie ihre Praxen länger für ihre Patienten öffnen. Die ohnehin massiv subventionierte Landwirtschaft erwartet Subventionen für ein Produktionsrisiko, das schon immer zum Berufsstand gehörte: das Wetter. Die Staatsdiener, nicht nur die beamteten, erfreuen sich einer Arbeitsplatzsicherheit, die sich in Krankenständen niederschlägt, die in der Berliner Landesverwaltung fast zu einer Verdoppelung der echten Urlaubstage führen.

Arbeitgeber sehen sich zunehmend einer Anspruchshaltung junger Akademiker gegenüber (neudeutscher Euphemismus: „Work-Life-Balance“), denen es in den Bewerbungsgesprächen weniger um betriebliche als um persönliche Belange (Familienplanung und Freizeitansprüche) geht. Unterfüttert wird diese Anspruchshaltung durch eine bürokratische Arbeitsmarktpolitik, die dem Rechtsanspruch auf einen Teilzeitarbeitsplatz jetzt noch einen Rückkehranspruch auf eine Vollzeitbeschäftigung beifügt. Weil daneben auch noch die befristete Beschäftigung eingeschränkt werden soll, fragt man sich, wie ein Unternehmer dann überhaupt noch Personalplanung betreiben soll.

Dass der Staat der bessere Arbeitgeber ist, weil weniger Leistungsdruck bei gleichzeitiger Arbeitsplatzgarantie zu mehr Freizeit dank höheren Krankenstands führt, hat sich bis zu den Berufsanfängern herumgesprochen. Nie waren Stellen beim Staat gefragter als heute, obwohl die Privatwirtschaft zuhauf sehr gut dotierte Positionen anbietet.

Dass Wohlstandsgesellschaften an ihrem Anspruchsverhalten ersticken, weil es auf Dauer keinen „free lunch“ geben kann, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die individuelle Losung „Ohne Fleiß kein Preis!“ gilt auch für ganze Volkswirtschaften. Ob sich das rechtzeitig im saturierten Deutschland herumspricht?

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Kommentare ( 75 )

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75 Comments
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Ewuites
6 Jahre her

Auch die meisten Kommentare hier bestätigen im Wesentlichen die Aussagen des Artikels. Es geht uns noch zu gut. Wir sind es doch alle gemeinsam, die diesen Staat zugrunde richten. Das ist der Beamte genauso wie der Angestellte in der Privatwirtschaft, es ist unsere persönliche materielle Anspruchshaltung. Hier wird die gesellschaftliche und politische Situation beklagt, aber wenig bis nichts getan. Jeder findet, er habe Anspruch auf alles was er bekommt. Hauptsache es reicht für den Urlaub und das Auto. Eigentlich wollen wir nicht wahrhaben, das Deutschland am Scheitern ist, denn dann müsste jeder hier handeln. Wir sehen uns eher als Zuschauer.… Mehr

schwarzseher
6 Jahre her

Die Frage von Herrn Hank in der FAS “ Könnte es sein, daß es uns einfach zu gut geht ? “ muß man wohl leider mit “ ja “ beantworten, allerdings ein “ aber nicht mehr lange “ hinzufügen. Vielen geht es offensichtlich schon jetzt schlecht, aber wie es aussieht, noch nicht der wählenden Mehrheit. Dabei ist Wohlstand für alle ( die arbeiten ) ein erstrebens- und begrüßenswertes Ziel, hat aber auch in der Vergangenheit meist zu Dekadenz und Niedergang geführt. Das scheint bei der Mehrheit der Menschen eine Veranlagung zu sein, die man auch bei Lottogewinnern beobachten kann. Viele… Mehr

country boy
6 Jahre her

„obwohl die Privatwirtschaft zuhauf sehr gut dotierte Positionen anbietet.“

Wo?

Johann Thiel
6 Jahre her

Die meisten lieben es aber in der Skaverei zu leben.

Johann Thiel
6 Jahre her

Und die meisten finden diese Meinungen richtig. Wie die Leute so das Land.

Johann Thiel
6 Jahre her

Habe heute gelesen, daß die Deutschen immer dümmer werden – kann ich gar nicht glauben.

Karl Heinz Muttersohn
6 Jahre her

In der Tat hat die deutsche Selbstzufriedenheit die Voraussetzung für einen Siegeszug der Dekadenz geschaffen. Wir wollen uns abschaffen, und es wird uns gelingen. Den Staatsdienern vorzuwerfen sie seien öfter krank als ihre Mitstreiter in der Privatwirtschaft ist aber unfair, denn hier wird übersehen, dass der Beruf des Beamten wesentlich anstrengender, stressvoller und gefährlicher ist, als der eines Stahlarbeiters. Der Stahlarbeiter geht nach der Arbeit nach Hause und hat das gute Gefühl einen Beitrag zur Gesellschaft geleistet zu haben. Der Beamte geht nach Hause und ihn quält das schlechte Gewissen.

Wuidara
6 Jahre her

…und ihn quält das schlechte Gewissen
Sofern er über eines verfügt.

Johann Thiel
6 Jahre her

Herr Metzger hat mit seinem Betrag recht und unrecht zugleich. Es stimmt so vieles in diesem Land nicht, daß man kaum weiß, wo man anfangen soll. Eines jedoch ist gewiss, wenn wir so weiter machen wie jetzt, werden sich in naher Zukunft ganz andere Probleme als die von Herrn Metzger beschriebenen stellen, und diese werden dann von wesentlich existenziellerer Natur sein. Von daher wirken Artikel wie dieser, immer ein wenig wie auf der falschen Baustelle.

flosafraca
6 Jahre her

Herr Metzger kann gerne mal einige Wochen bei mir im öffentlichen Dienst arbeiten. Vielleicht bekommt er dann einen Eindruck davon, wie ich als Kriminalbeamter mir täglich einen schönen Lenz mache und mir ständig einen Krankenschein hole um weiteren Urlaub zu generieren. Es stimmt zwar nichts von dieser Behauptung, aber Beamtenbashing macht sich ja immer gut, dabei immer vergessend, dass es da durchaus Unterschiede gibt und die Klischees aus Uraltfilmen oder -büchern schon lange nicht mehr der Realität entsprechen. Sicher gibt es ein Anspruchsdenken in der heutigen Gesellschaft, insbesondere auch bei der Jugend, aber einfach mal pauschal zu verurteilen, erscheint mir… Mehr

Johann Thiel
6 Jahre her
Antworten an  flosafraca

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht den Staatsdienst zu verlassen?

Jasmin
6 Jahre her

Widerspruch! In der Kommune, in der ich seit über 20 Jahren in der öffentlichen Verwaltung als Angestellte arbeite, gibt es kaum noch qualifizierte Bewerber. Der ehemalige Bürgermeister (SPD) hat verfügt, dass in den Verwaltungseinheiten jeweils 10% des Personals innerhalb von drei Jahren eingespart werden müssen, unabhängig von der Tätigkeit. Viele Stellen wurden eingespart, es gab und gibt lange Wiederbesetzungssperren. Die Ergebnisse einer Prüfung, welche Leistungen von der Kommune freiwillig erbracht werden, und damit analog dem Personalabbau wegfallen können, wurden nicht umgesetzt, da man ja bürger- und kundenfreundlich sein w/sollte. Gleichzeitig haben die jeweiligen Regierungen massig Gesetze erlassen, die durch die… Mehr

Johann Thiel
6 Jahre her
Antworten an  Jasmin

Sie haben also bis 7 Jahre vor dem Renteneintrittsalter gebraucht um festzustellen, daß Ihnen die Arbeitsbelastung einer Verwaltungtätigkeit im ö.D. zu groß ist?

Jasmin
6 Jahre her
Antworten an  Johann Thiel

Was wollen Sie mit dieser Frage andeuten? Haben Sie mal wieder meinen Kommentar nicht verstanden, oder war der Artikel, auf den sich mein Kommentar bezog, schon zuviel für Ihren Intellekt?

Johann Thiel
6 Jahre her
Antworten an  Jasmin

Aber es ist doch eine interessante Frage.