„Verkehrswende“ mit der Deutschen Bahn? Niemals!

Die Bahn schafft schon das heutige Passagieraufkommen mehr schlecht als recht. Wie soll sie das Vielfache bewältigen? Eine Reisereportage vom 8. Oktober.

Ich weiß: Subjektive Erlebnisse darf man nie verallgemeinern. Bahnvorstandschef Richard Lutz mühte sich bei Plasbergs „hart aber fair“ am vergangenen Montag ja redlich, die traurige anekdotische Empirie vieler Bahnreisenden statistisch zu neutralisieren, sprich zu beschönigen. Doch ein Verkehrssystem, das im Zuge der Klimaschutz-Debatte zum Rückgrat einer „Verkehrswende“ verklärt wird und im kommenden Jahrzehnt Milliarden zusätzliche Fahrgäste befördern soll, weil Autofahrer Zug um Zug zu Bahnkunden mutieren, muss sich schon heute tagtäglich dem Realitäts-Check stellen.

Auch wenn ich als Bahnvielfahrer gelegentlich Tage erlebe, an denen die Züge pünktlich sind, das Bordrestaurant ohne Einschränkungen geöffnet hat und selbst die meisten Toiletten funktionieren, vermittelt doch meine Reisereportage von diesem Dienstagabend hoffentlich einen Eindruck davon, wie sehr die Deutsche Bahn heruntergewirtschaftet ist. Dieser Verkehrsträger, der schon heute Abermilliarden Euro Steuergelder verschlingt, wird auch mit vielen weiteren Steuermilliarden nicht zum ökologischen Rückgrat der grünen „Verkehrswende“.

Mein Plan: Ich fahre am frühen Dienstagabend um 17:50 Uhr mit dem ICE von Frankfurt nach Ulm, steige dort in den Schienenersatzverkehr (Streckensperrung wegen Elektrifizierung) der Südbahn nach Laupheim um und gelange schließlich mit einer Regionalbahn von dort nach Ravensburg, das ich um 21:48 Uhr erreiche. Schon während der Konferenz, an der ich in Frankfurt teilnehme, verfolge ich glücklicherweise bereits ab 16:30 Uhr auf der DB-Navigator-App, wie sich die Bahn-Verkehrslage entwickelt. Für meinen ICE ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine viertelstündige Verspätung angezeigt, die meinen Anschluss in Ulm gefährdet. Also entscheide ich mich, früher zu fahren. Aus alter Erfahrung hatte ich mir ein 1. Klasse Flex-Ticket gekauft, um keine feste Zugbindung zu buchen.

Ein Taxi bringt mich noch so rechtzeitig zum Hauptbahnhof, dass ich einen ICE nach Stuttgart erreichen kann, der fahrplanmäßig um 17:06 Uhr abfährt. Doch der hat – wie zu diesem Zeitpunkt nach meinem Eindruck fast alle Fernzüge – eine Verspätung von gut zwanzig Minuten. Der Zug ist gut besetzt und weil ich keine Reservierung habe (die gebuchte ist ja mit dem ursprünglich geplanten Zug verfallen), setze ich mich ins überheizte Bordrestaurant, das gut gefüllt, aber nicht bewirtschaftet ist.

Andere Fahrgäste erzählen, dass kein Personal dafür da ist und wohl erst hier in Frankfurt zusteigt. Doch das ist nicht der Fall, so dass mein geplantes Abendbrot im ICE ersatzlos ausfallen muss. Das Bordrestaurant in einem gut besetzten Fernzug zur Feierabendzeit bleibt also auf der ganzen Fahrstrecke komplett geschlossen. Das einzige kulinarische Vergnügen auf der Fahrt sind kleine Schokotäfelchen, die ein aufmerksamer Zugbegleiter ausnahmsweise auch an die Fahrgäste im Bordrestaurant verteilt. Die Stimmung bei den vielen Gästen, die meisten Berufspendler, grenzt an routinierten Fatalismus: Alltag bei der Deutschen Bahn eben! Im Laufe der Fahrt über Frankfurt/Flughafen und Mannheim nach Stuttgart addiert sich die Verspätung weiter auf rund 30 Minuten. Ständig verfolge ich auf der Bahn-App, wie sich die Anschlusslage in Stuttgart entwickelt. Ich muss ja von dort weiter nach Ulm.

Alle haben Klima, die Bahn auch
Bei hart aber fair: Richtig Bahn fahren mit Binsenpflanzer Hofreiter
Ich kann mich zwischen einem IC und einem Regionalexpress (RE) entscheiden, die beide kurz vor oder genau um 19.00 Uhr in Stuttgart abfahren. Doch bereits kurze Zeit später signalisiert mir die App, dass der RE wegen Bauarbeiten an der Strecke ausfallen wird. Auch für den IC ist bereits eine kleine Verspätung signalisiert. Bis wir in Stuttgart schließlich einfahren, ist es 19:08 Uhr. Doch Minuten vor der Ankunft kommt die beruhigende Durchsage, dass der IC-Anschluss Richtung München über Ulm in Stuttgart auf uns wartet. Also hetzen Dutzende Fahrgäste von Gleis 6, wo wir ankommen, auf Gleis 16, wo der IC wartet. Doch der ist noch nicht einmal eingefahren und hat schließlich bei der Abfahrt in Stuttgart 25 Minuten Verspätung. Immerhin ist das Bordbistro bewirtschaftet und ich kann den kleinen Hunger stillen und mir bei einem Pils dann die Verspätungs-Stories zahlreicher Bistro-Gäste anhören.

Unterwegs kommt plötzlich die Durchsage, dass der IC in Geislingen an der Steige einen Sonderhalt einlegen wird, um Fahrgäste aufzunehmen. Die Fahrgäste sollten bitte die Sitze vom Gepäck freimachen (eigentlich eine Selbstverständlichkeit!), um für zusteigende Fahrgäste Platz zu schaffen. In Geislingen steigen dann Massen von Menschen zu, die in einem EC mit Stromausfall im dortigen Bahnhof gestrandet sind. Kurz danach die Zusage des IC-Chefs: „Alle Reisenden aus dem EC sollten sich bitte im Wagen 10 einfinden, wo sie ein Getränk nebst dem Formular für die Fahrpreiserstattung von 25% abholen können. Darauf haben Sie Anspruch, weil Ihre Verspätung jetzt mehr als 1 Stunde beträgt.“

Durch den Sonderhalt erhöht sich natürlich auch unsere Verspätung, so dass ich in Ulm erst um 20.22 Uhr ankomme. Mein Schienersatzverkehr-Bus (SEV) nach Laupheim ist bereits weg. Weil Durchsagen für die Weiterfahrt Richtung Bodensee am Bahnhof Ulm unterbleiben und auch kein Personal am Bahnsteig den Weg weist, lese ich unterwegs einige irritierte Fahrgäste auf und lotse sie zum SEV-Halteplatz. Wenigstens fährt bereits innerhalb einer knappen halben Stunde ein weiterer Bus, mit dem ich in Laupheim um 21:28 Uhr dann einen Regionalexpress nach Ravensburg erreichen kann. Der Zug steht schon am Gleis bereit. Als ich einsteige und die Toilette aufsuchen will, klärt mich eine resolute Zugbegleiterin auf: „Alle Toiletten in diesem Zug sind defekt. Der kommt nach dieser Fahrt in die Werkstatt.“

Ich fürchte für die anschließende knapp dreiviertelstündige Fahrt schon das Schlimmste, als die plötzlich sympathische DB-Mitarbeiterin nach Rücksprache mit dem Lokführer schließlich dafür sorgt, dass alle, die ein Bedürfnis verspüren, vor der Abfahrt noch die Toilette nutzen dürfen. Dafür lohnt sich dann auch eine um wenige Minuten verspätete Abfahrt. Statt um 21.40 Uhr, wie ursprünglich gebucht, bin ich schließlich um 22.15 zuhause in Ravensburg.

Quintessenz:

1. Wenn einer eine Reise mit der DB macht, dann kann er was erzählen.
2. Ohne meine Vielfahrerroutine und die intensive APP-Nutzung wäre ich mit großer Wahrscheinlichkeit erst gut eineinhalb Stunden später zuhause gewesen. Glücklicherweise war ich nur mit kleinem Gepäck unterwegs und deshalb hochmobil.
3. Wer glaubt, die Bahn könne eine massive Verkehrsmengenverlagerung auf die Schiene leisten, verkennt die traurige Realität. Selbst mit einhundert Milliarden Euro wird dieses komplexe Verkehrssystem nicht so ertüchtigt werden können, dass es auch nur eine Verdoppelung, geschweige denn eine Verdreifachung des heutigen Passagieraufkommens verkraftet.


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Kommentare ( 77 )

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Altliberaler
5 Jahre her

Dazu gibt es nur eine Antwort: Staatswirtschaft eben. Wo es keinen Wettbewerb gibt, gibt es keine Motivation, Kundenwünschen wirklich zu entsprechen. Da hilft nur die Zerschlagung des Staatsbetriebs Deutsche Bahn AG.
Ich selbst lebe in Wales, dort ist (fast) jeder Zug „on time“, die Zugfrequenz auf den Strecken ist hoch, betrieben von privaten konkurierenden Unternehmen.

Boehm
5 Jahre her

Ihr Bericht, Herr Metzger, entspricht voll den Tatsachen. Jede Reise ist ein Abenteuer, mit ungewisser Ankunft. Das ist eine Zumutung.

Karlsruher
5 Jahre her

Ich achte immer sehr darauf, bei Langstreckenfahrten mit dem ICE eine Non-Stop-Verbindungen zu buchen, so zuletzt getan von Karlsruhe nach Amsterdam: nach Duisburg blieb der ICE stehen, Gleis gesperrt wg. liegengebliebenem Güterzug. Andere Reisende die auf dieser Strecke öfters nach Amsterdam unterwegs waren berichteten dann, daß dies öfter der Fall sei. Mit dem Sammel-Taxi (Diesel?) dann nach Amsterdam, da die meisten mit dem Schienenersatzverkehr ihre Anschlüsse oder Termin verpasst hätten.

Bahnfahren wird zur Expedition.

Christa Born
5 Jahre her

Lieber Herr Metzger, ich könnte auch ein unterhaltsames Buch über meine Bahnerlebnisse schreiben, aber das tue ich mir nicht an. Ist es nicht mittlerweile mit vielen Baustellen in Deutschland so? Die Renovierung einer wichtigen Brücke dauert statt der veranschlagten 6 glatte 15 Monate, (Flughafen in Berlin erwähne ich jetzt nicht…) wir schalten gute Kraftwerke ab, bevor wir Ersatz dafür haben, wir holen Abertausende ins Land, obwohl wir keine Wohnungen für sie haben, wir können kaum mehr günstig bauen, weil wir in Bürokratie und geradezu fantastischen Auflagen ersticken , etc. etc. etc. Vielleicht führt unsere Selbsblockade ja auch dazu, das nicht… Mehr

Wolf Koebele
5 Jahre her

Die Bundesbahn war ein beliebter Arbeitgeber (Beamtenstatus), der zu motivieren wu0te („unsere Bahn“), so daß genügend Personal verfügbar war. Die Bundesbahn war weltweit für ihre Pünktlichkeit berühmt. Ich honnte ohne kilometerweite Autofahrten überall einen Bahnhof erreichen. (Die deutsche Bahn verfügte bereits 1910 über mehr als 100.000 Bahnkilometer. Und heute? Sie kaufte sich nicht in Spedizionsunternehmen ein, um sie dann zu verschleudern. Ja, Gewinn machte sie auch damals nicht; aber das war (fußend auf dem Grundgesetz) auch nicht intendiert. Die Bahn wurde nicht in ihrer lukrativen Spitze durch abgehalfterte Politiker verunziert. Bei ihr hätte ein Herr Mehdorn allenfalls als Hilfsheizer mitfahren… Mehr

Leon
5 Jahre her

Eigentlich ist das im Vergleich zur Münchner S- und U-Bahn noch harmlos, die jedes Jahr erneut von Winter, Frühjahr, Sommer und Herbst überrascht wird. Im letzten Winter war ich in der S-Bahn bei minus 10 Grad unterwegs, eine Horrorstory über Inkompetenz und ständige Falschauskünfte. Und das Publikum von S- und U-Bahn hat sich seit 2015 weg von Mitteleuropa in ein multikulturelle Hölle verwandelt. Als Nicht-Afrikaner und Nicht-Araber fühlt man sich da manchmal etwas vereinsamt, auch wenn man dank der oft gegebenen Überfüllung auf engstem Kontakt mit den Völkern dieser Welt und ihren Krankheiten im wahrsten Sinne des Wortes steht.

Ernst-Friedrich Behr
5 Jahre her

In einem Land, in dem die Datenübertragungsraten der Kommunikationsnetze in manchen Landstrichen schlechter sind als in Afrika südlich der Sahara oder am Nordpol, in einem Land, in dem man sich einbildet, technischer Vorreiter in der Welt zu sein, wenn man versucht, mit Sonne und Wind mehr als 80% seines Stroms erzeugen zu können glaubt, ohne die Netzstabilität zu gefährden, in einem Land, in dem die Geschwindigkeit auf Autobahnbrücken beschränkt wird, damit die Brücken nicht zusammenbrechen, in einem Land, dem man an der Aufgabe scheitert, einen Bahnhof tiefer zu legen oder in der Hauptstadt einen neuen Flughafen fertig zu bauen, in… Mehr

Alf
5 Jahre her

„Wer glaubt, die Bahn könne eine massive Verkehrsmengenverlagerung auf die Schiene leisten, verkennt die traurige Realität.“ Wer könnte den „Wer“ sein? Die Politiker des Landes glauben an die Märchen, die sie uns erzählen. Sie selber fahren nicht mit der Bahn, meiden den Kontakt zum Bürger, der nicht auf Staatskosten mit 2 Flugzeugen der Flugbereitschaft durch die Lande reisen kann. Sie sind so wichtig, daß sie überall auf der Welt vor Ort sein müssen. Und über den Wolken ist alles so grenzenlos, daß die Realität darunter verborgen ist. Die Deutsche Bahn ist schlichtweg am Ende. Wer sein Ziel sicher erreichen will,… Mehr

P.Reinike
5 Jahre her

Sowas erinnert mich immer an die Bahnreisen mit meinem Großvater. Der war lange für die Fahrdienstleistung eines der größten westdeutschen Bahnhöfe verantwortlich gewesen und selbst wenn wir in Urlaub führen maßregelte der die Beamten vor Ort, wenn der Zug nur 2 Minuten Verspätung hatte. Woran es gelegen habe? Zu späte Bereitstellung? Lokprobleme? Sowas klingt heute wie Alice im Bahnwunderland. Laut Mitarbeitern im mittleren Management liegt das Hauptproblem in den beiden Zentralen Potsdamer Platz und Frankfurt. Ein Management der Abgabenhoheit und Arroganz, das zudem politisch durchsetzt, auch Strümpfe verkaufen könnte, wenn denn die Bezahlung adäquat wäre. So schnell ändern wird sich… Mehr

Andreas aus E.
5 Jahre her

Stören tut das schon welche bei der Bahn. Jedenfalls den Zugbegleiter im Bekanntenkreis, der sich, weil an der „Front“, das alles anhören darf, obwohl der beim besten Willen nichts zu kann.