Das pazifistische Deutschland priorisiert die Aufrüstung

Putins Überfall auf die Ukraine verändert das Agenda-Setting der deutschen Politik: Rangiert die Verteidigungsfähigkeit künftig sogar vor dem Klimaschutz-Primat?

IMAGO / Political-Moments
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) auf dem Weg zur Regierungsbank bei der Bundestags-Sondersitzung zum Ukraine-Krieg am 27. Februar 2022

Machen wir uns nichts vor, diese 180-Grad-Wende der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die Olaf Scholz am Sonntag im Bundestag mit zwei Zahlen unterstrich – 100 Milliarden Euro-Sondervermögen für die Ertüchtigung der Bundeswehr, im Grundgesetz abgesichert, und künftig ein jährliches Verteidigungs-Budget von mehr als 2 Prozent des BIP –, werden unserem Land einen Kurswechsel abverlangen, der die politischen Parteien und ihre Vorfeldorganisationen, aber auch die sogenannte Zivilgesellschaft, im Kern erschüttern wird.

Verteidigung
Die 180-Grad-Wende der Bundesregierung ist wenig glaubwürdig
Die Schreckensbilder aus der Ukraine und ein entfesselnd agierender Diktator Putin entfalten zwar derzeit eine breite moralische und politische Solidarisierung mit dem überfallenen Land, die selbst klare demoskopische Mehrheiten für Waffenlieferungen einschließt. Aber die Halbwertszeit von Empörungswellen ist vergänglich, wie die Erfahrung zeigt. Eine so abrupte Kehrtwende, wie sie jetzt von der Bundesregierung über Nacht verkündet wurde, wird ihre Bewährungsprobe in den kommenden Jahren erst noch bestehen müssen, wenn die vertrauten Rituale der innenpolitischen Auseinandersetzung wieder die Oberhand gewinnen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich halte den sicherheitspolitischen Kurswechsel Deutschlands für richtig und schon lange überfällig.

Wie mehrheitsfähig ist die Aufrüstung, wenn es „ans Blechen geht“?

Waren anfangs die linken Flügel vor allem in den beiden Regierungsparteien SPD und Grüne buchstäblich sprachlos ob der Volte des Kanzlers, beginnen sich jetzt schon – während der Blutzoll in der ukrainischen Bevölkerung, den die russische Aggression fordert, Tag für Tag wächst – die ersten Kritiker zu melden. In der SPD wird die neue „Aufrüstungslust“ von der Gruppierung Demokratische Linke abgelehnt, wie Spiegel online berichtet. Bei den Grünen kommen die Vorbehalte nicht nur aus der Grünen Jugend. Frank Bsirke, der frühere Ver.di-Vorsitzende und heutige Abgeordnete der Grünen im Bundestag, verklausuliert seine Einwände kaum: „Wenn 50 Milliarden Euro an Rüstungsausgaben zu mehr nicht reichen, muss man zuallererst fragen, was da falsch läuft, nicht aber noch zusätzlich Geld hinterherwerfen.“

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
In der Süddeutschen Zeitung spekuliert Constanze von Bullion darüber, ob der Kanzler den grünen Vizekanzler und die grüne Außenministerin tatsächlich vorab und detailliert von seinem Rüstungs-Coup unterrichtet hat oder sie bewusst im Unklaren ließ, weil er ihre Einwände fürchtete. Der SZ-Beitrag ist geeignet, Misstrauen zwischen den Regierungsparteien zu säen, das vor allem in friedensbewegten grünen Zirkeln Resonanz finden dürfte. In der aktuellen ZEIT bewegt Giovanni di Lorenzo im Leitartikel die Frage, ob die Bundeswehraufrüstung in der deutschen Bevölkerung wohl mehrheitsfähig ist, wenn es „ans Blechen geht“.

Solidarisch mit der Ukraine für Frieden zu demonstrieren sei das eine, sich für mehr Militärausgaben zu erwärmen aber etwas anderes in einem Land, in dem sich als Lehre aus dem imperialen Hitler-Faschismus eine pazifistische Grundhaltung verankert hat. Wenn schon in den ersten Tagen und unter dem Eindruck der verstörenden Bilder aus dem ukrainischen Kriegsgebiet kritische Fragen zur neuen deutschen „Aufrüstungslust“ gestellt werden, wie massiv wird der Gegenwind erst ausfallen, wenn die Ukraine wieder aus den Schlagzeilen verschwunden ist?

Kurzfristige Folgen für die Geldpolitik

Bereits heute darf als gesichert gelten, dass der militärische Krieg Russlands gegen die Ukraine einen veritablen globalen Wirtschaftskrieg bewirkt. Denn die massiven Wirtschaftssanktionen, mit denen der Westen Putins Russland treffen will, sowie die weitgehende Blockade der russischen Finanzströme werden das globale Wirtschaftswachstum bremsen. Gleichzeitig erklimmen die Energiepreise immer neue Höhen, weil Russland von seiner Haupteinnahmequelle abgeschnitten werden soll, indem die große Abhängigkeit Europas, vor allem Deutschlands, von russischem Gas, Öl und der Steinkohle aufgegeben wird. Die Inflation kennt nur noch eine Richtung: Sie steigt. In Europa lag sie im Februar bei 5,8 Prozent. Stagnierende Wirtschaft und steigende Preise münden in der Stagflation.

Ökonomische Folgen des Krieges in der Ukraine
Zwischen „totalem ökonomischem Krieg“ und „globaler stagflationärer Rezession“
Während noch bis unmittelbar vor dem Ukraine-Überfall eine Zinswende der amerikanischen Fed in diesem Monat als gesichert galt und selbst in der EZB nach langem Zögern die Inflationsgefahren stärker in den Fokus rückten, wird Putins aggressiver Ukraine-Überfall die Zinserhöhungsrunde ausbremsen. Die Angst vor den wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs blockiert mit einiger Wahrscheinlichkeit die Normalisierung der Geldpolitik. Auch die Fortsetzung der Niedrigzinspolitik bei hoher Inflation, die zu Massenverarmung führt, gehört zu den Kollateralschäden von Russlands Ukraine-Feldzug.

Die CDU und ihr Sondervermögen-Dilemma

Als Bundesfinanzminister Christian Lindner vor wenigen Monaten 60 Milliarden Euro Kreditermächtigungen für die Corona-Pandemie per Federstrich umwidmete und dem Klimafonds zuführte, rührte sich dagegen vernehmlicher Widerstand. Diese Umbuchung, die im Rahmen eines Nachtragshaushalts für das Jahr 2021 erst vor fünf Wochen von der Ampel-Mehrheit im Bundestag beschlossen wurde, werten viele Experten als Umgehung der grundgesetzlichen Schuldenbremse. Die Unions-Fraktion hat gegen den inzwischen rechtsgültigen Nachtragshaushalt eine Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

Unbedingt aufrüstungsbereit
100 Milliarden für die Bundeswehr – Wird Deutschland wieder wehrfähig?
Doch mit dieser Klage gerät die Union unter Führung ihres Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz jetzt indirekt in die Putin-Falle. Denn auf der einen Seite signalisierte Merz am Sonntag der Bundesregierung im Bundestag seine grundsätzliche Zustimmung für ein 100 Milliarden Euro-Sondervermögen zur Ertüchtigung der Bundeswehr, auf der anderen Seite klagt seine Fraktion gegen die Umwidmung von Kreditermächtigungen zugunsten eines anderen Sondervermögens. Zumindest argumentativ ist dieser Widerspruch nicht so leicht aufzulösen.

Der Krisenmodus lässt die Staatsschulden explodieren

Sparsame Haushaltspolitiker, sofern es diese in Berlin überhaupt noch gibt, sind längst in der Defensive. Sparpolitik herrschte in Deutschland seit Jahrzehnten nicht, zumindest nicht bei den staatlichen Konsumausgaben, auch wenn die Austeritätsvorwürfe Legion sind. Fleißig wurde der Sozialstaat ausgeweitet, während die Infrastruktur verlotterte. Die Schuldenbremse reduzierte zwar die explizite Staatsschuld, aber selbst in den Zeiten der „schwarzen Null“ wuchs die implizite Staatsschuld in den sozialen Sicherungssystemen. Dann schlug die „Apokalypse“ zu.

Zunächst explodierte das Staatsbudget während der Corona-Pandemie. Dann wurden Abermilliarden für die deutsche Klimaschutzpolitik und die dafür erforderliche energiepolitische Transmission der deutschen Volkswirtschaft eingefordert und umgebucht. Und jetzt beansprucht die sicherheitspolitische Reaktion auf die russische Bedrohung immer höhere Staatsausgaben, die ohne exzessive Verschuldung überhaupt nicht darstellbar sind. Ausgabenbremsen, und seien es Grundgesetznormen, bieten keinen Schutz mehr. Daran wird das liberale Pochen auf die Einhaltung der Schuldenbremse nichts ändern. Auch das ein Kollateralschaden von Russlands imperialer Aggression!

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Kommentare ( 55 )

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Thomas Holzer
2 Jahre her

So unrecht hat der Herr Bsirke nicht! Wenn das Geld in Kita und Schwangeren „gerechte“ Panzer et al fließt, ist alles für die Katz ???????

Dissident
2 Jahre her

Das Geld wird bei Lobbyisten, „Beratern“ und Waffenhändlern, die den ahnungslosen Ampel-Dilettanten überteuertes Zeug aus den USA andrehen werden, versickern (wenn es denn überhaupt tatsächlich bereitgestellt wird), zudem wird es massenhaft Politkommissare geben, die sicherstellen, dass kein Bundeswehr-Angehöriger ein unbotmäßiges „Like“ irgendwo absetzt.

Grumpler
2 Jahre her
Antworten an  Dissident

Da man versäumt hat, beizeiten einen Nachfolger für den Panavia Tornado zu entwickeln, das „Nachholen“ ca. 20 Jahre benötigt, die Zertifizierungsverfahren für die Verwendung taktischer Luft-Boden-Nuklearwaffen gleichfalls mehrere Jahre dauern, wird nicht viel anderes übrig bleiben, als überteuertes „Zeugs“ wie bspw. die F-35 (das teuerste Waffensystem aller Zeiten) zu beschaffen. Es wäre dann auch das in Europa (West- und Unions-) neben dem „Leo Zwo“ das verbreitetste System und könnte die nächsten 40 Jahre Dienst tun. Nur was soll das französisch-spanische-deutsche Neuprojekt eigentlich ersetzen? Den Eurofighter Thyphoon/Taifun, den Panavia Tornado (der doch jetzt durch die F-35 oder F-18 oder F-15 oder… Mehr

G Koerner
2 Jahre her

Ich bezweifele stark, dass es mit der Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit mit 100 Mrd.Euronen getan ist. Der Bruch ist doch schon mit der Abschaffung der Wehrpflicht entstanden. Es dauert Jahre bis Jahrzehnte, bis das Beschaffungsprojekte für neue Panzer und Kampfflugzeuge ins Werk gesetzt werden. – Wo will denn die Bundeswehr das hierfür benötigte und qualifizierte Personal rekrutieren? Es fehlt doch an allem! Zu meiner Dienstzeit als W15er (1981/82) bekam die Bundeswehr regelmäßigen Input von jungen und zum Teil sehr gut ausgebildeten Facharbeitern. Da waren beispielsweise Werkzeugmacher und Kfz-Schlosser dafür verantwortlich, dass das Material regelmäßig gepflegt und instandgesetzt wurde. Das alles gibt… Mehr

Oliver Koenig
2 Jahre her
Antworten an  G Koerner

Feministinnen und Diverse wollen doch sonst immer an allem „teilhaben“. Also los gehts.
Aber davon ist rein gar nichts mehr zu hören.

Petereberl
2 Jahre her

Die Wokewokemedien und das linke Spektrum der Politik haben jetzt ein neues Schlagwort: Aufrüstung. Tatsächlich geht es jetzt nicht um Aufrüstung, sondern lediglich darum, zB. die drei mickrigen Heeresdivisionen endlich mit der auftragsrerechten materiellen Ausstattung zu versehen, also die Anzahl der Panzer und auch der Trikotagen auf den Sollstand zu bringen. Das Ganze wird gemeinhin als Ausrüstung bezeichnet und an der Mannschaftsstärke der Bundeswehr ändert sich nichts!

Mindreloaded
2 Jahre her

Ich sehe das eher so. Man kann dem deutschen Michel die Steuern erhöhen und das damit super verkaufen. Was dann daraus gemacht wird ist ein anderes paar Stiefel. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass damit Pseudoposten geschaffen werden, die dann zufällig mit Parteifreunden besetzt werden. Diese 100 Mrd. versickern schon irgendwie. Der arbeitende Steuerzahler bezahlt das ja ohne murren.

RandolfderZweite
2 Jahre her

Eine Entscheidung „über Nacht“ hatten wir des Öfteren, die Folgen sind bekannt und äußern sich in „Vielfalt“ und „mächtig teuer“!

what be must must be
2 Jahre her

In bezug auf die 100 Mrd für die Bundeswehr gelten nach wie vor 2 Prinzipien: 1) Para bellum 2) Roosevelts zeitlose Bemerkung „Sprich mit leiser Stimme, führe aber immer einen großen Knüppel mit dir.“ Die Realität bleibt die Realität, egal, ob die verwirrten Deutschen sie wahrnehmen oder nicht.

Martin Mueller
2 Jahre her

Ohne die USA stünde die verweichlichte West-Europäischen Gesellschaften jetzt militärisch blank da. Eine Bundeswehr,die unser Land nicht verteidigen kann. Und verweiblichte junge Männer, die nicht mal ehrlich wissen, was Landesverteidigung bedeutet. Aber wir haben ja die Zivilcouragierten, die gegen Andersdenker sofort mutig ist …

Innere Unruhe
2 Jahre her

Aufrüstung bedeutet vor allem, dass Bürger daran aktiv beteiligt werden.
Irgendwer soll doch die Waffen herstellen, bedienen und warten.
Woher soll man das Personal dafür gewinnen.
Das Geld ist schnell bereitgestellt, aber was ist mit dem Personal? Sollen FFF-Kinder von heute morgen Dienst an der Waffe verrichten?
Woher will man treue und loyale Soldaten gewinnen, wenn man den Ruf der BW in den Boden getrampelt hat?
Als erste Aufrüstungsmaßnahme ist eine massive Medienkampagne nötig – um die Unterstützung der Bürger zu gewinnen.

Franz O
2 Jahre her

Heute auf die Tankstelle geschaut. 1,94 für Super, 1,88 für Diesel. Jahrelang mittlerweile habe ich, hat die AfD, haben die freien Medien sich den Mund fusselig geredet, dass der ganze Blödsinn den unser Regime betreibt irgendwann mal Konsequenzen hat. Jeder der nur wenigstens eine Aufmerksamkeitsspanne oberhalb von 12 bis Mittags hat konnte den Braten, diese komplette Degeneration auf allen Ebenen, riechen. Auch diese 100 Milliarden werden in Personalkosten und Beraterverträge versenkt werden, die politkapitale Klasse die unser Land derzeit vergewaltigt erfindet eine Krise und bietet die Lösung dann an, eine Lösung die grundsätzlich immer dazu führt, dass sich die Kaste… Mehr

Kampfkater1969
2 Jahre her
Antworten an  Franz O

Benzin und Diesel würde ja noch gehen.
Ich vermute, dass man in den nächsten Tagen beginnen wird, Güter des täglichen Bedarfes zu rationieren. Mehl, Nudeln, vielleicht auch Kartoffeln. Fleisch dürfte in nächster Zeit nochmals deutlich teuerer werden.

Last edited 2 Jahre her by Kampfkater1969
Petereberl
2 Jahre her
Antworten an  Franz O

Irgendwie begibt man sich mit einem bloßen Nachplappern von Schlagworten wie „Beraterverträge“ in die Sphäre der selbstgerechten Moralapostel, weil man die Dimension des Ganzen nicht kennt. Die beiden Verteidigungsministerinnen der Union haben rund 350 Mio Euro (schlimm genug!) p.a. für externe Berater ausgegeben, und das bei einem Wehretat von etwa 40 Mrd Euro. Dieser kleine Betrag wird kritisiert und zu einem Drama aufgeblasen, währenddessen der Preis für Wehrmaterial unkritisiert und unkommentiert steigt und steigt, wobei die Industrie im Verbund mit dem Beschaffungsamt dysfunktionale Produkte abliefert; Beispiel: Schützenpanzer Puma, dessen Preis aufgrund von Nachrüstungen und Nachbesserungen pro Exemplar von 7 Mio… Mehr

Michael M.
2 Jahre her
Antworten an  Petereberl

Berater brauchen nur diejenigen die selber nichts wissen und oder können.
So schaut’s aus und wenn für Sie ein paar hundert Millionen € „Peanuts“ sind, dann gehören Sie möglicherweise zur Gattung der Oligarchen. Zu einem Drama aufgeblasen ist da ganz bestimmt nichts, es ist und bleibt ein Drama Punkt.
Das eigentlich Übel an den hohen Beraterhonoraren ist aber, dass dabei absolut null Komma nichts sinnvolles herumgekommen ist, außer ach so „wokem“ Mainstream-Sinnlos-Müll. Die Beispiele spare ich mir hin, das ist alles hinlänglich bekannt.

Last edited 2 Jahre her by Michael M.