Die große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel lehrt die Parlamentarier über die politische Sommerpause das Fürchten. Es geht um ihre Wahlkreise und Jobs. So kann die Regierungschefin während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft spielend noch mehr Geld deutscher Steuerzahler in Europa verteilen.
Der Deutsche Bundestag bläht sich durch Ausgleichs- und Überhangmandate immer mehr auf. Nach der nächsten Bundestagswahl könnten statt normalerweise 598, dann sogar über 800 Abgeordnete im Reichstag sitzen. Seit Herbst 2017 verweilen dort schon 709. Den Steuerzahler kostet das Parlament inzwischen die Rekordsumme von fast einer Milliarde Euro.
Dank der Corona-Notmaßnahmen geht das inzwischen wunderbar. Warum nicht grundsätzlich machtvoller regieren am Parlament vorbei, überlegt sich wohl Kanzlerin Merkel? Sie lässt durch ihre Paladine nun die Abgeordneten mit Verkleinerungsplänen verunsichern. Da denken sie nur an ihr eigenes künftiges Schicksal und weniger an die Folgen von Merkels Politik durch nicht finanzierte Grundrenten, teuren Kohleausstieg, Mehrwertsteuern runter und wieder rauf, höhere Energiepreise für Wirtschaft und Verbraucher ab nächstem Jahr sowie an die gut 200 Milliarden Euro für die Deutschland bei den geplanten EU-Coronahilfen in Höhe von insgesamt 750 Milliarden Euro gesamtschuldnerisch in Europa haftet.
Obendrein sind die Abgeordneten im Bund wie in den Ländern durch das Regieren mit Corona-Notstandsverordnungen derzeit weitgehend parlamentarisch entmachtet. Das sollte zwar nur wegen einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems gelten. Die ist jedoch nie eingetreten, trotzdem regiert der Notstand einfach weiter. Auch deswegen muss man vor allem die 709 Bundestagsabgeordneten auf Trab halten. Am besten beschäftigt man sie mit sich selbst – mit Veränderungen in ihren Wahlkreisen und akuter Jobgefahr. Im Hintergrund zieht bei der Union die frühere CDU-Chefin Merkel als „unheimliche Vorsitzende“ weiter die Strippen, wie zahlreiche Abgeordnete berichten.
Zunächst wurde in einer hitzigen CDU/CSU-Fraktionssitzung am vergangenen Dienstag ein umstrittener Vorschlag von Fraktionschef Ralph Brinkhaus am Wochenende kritisiert und verworfen. Die meist unabhängigen und direkt mit der Erststimme in den Bundestag gewählten Abgeordneten wollten ihre 299 Wahlkreise erhalten. Am Ende der Diskussion kam jedoch ein Kompromiss heraus, bei dem 19 Parlamentarier ihre Mandate verlieren, weil die Wahlkreise in Deutschland vergrößert werden. Statt 299 soll es nur noch 280 Wahlkreise geben.
Wolfgang Schäuble ist die treibende Kraft
Die treibende Kraft der Wahlrechtsreform ist vor allem Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Er möchte in seiner Amtszeit ein schnelles Ergebnis für eine Parlamentsverkleinerung. Denn Schäuble will für sein Ego unbedingt erreichen, woran sein Vorgänger Norbert Lammert gescheitert ist. Wie ist dem umtriebigen Schäuble dabei ziemlich egal. Eigentlich wollte der frühere Bundesinnenminister noch viel mehr Wahlkreise rasieren.
Schäuble schlug Anfang April der Reformkommission vor, die Zahl der Wahlkreise und damit die der Direktmandate im Bundestag von 299 auf 270 zu reduzieren. Außerdem sollte es nach seinen Vorstellungen nicht mehr für alle Überhangmandate Ausgleichsmandate geben. Die Oppositionsparteien lehnten ab. Doch Schäuble spielt gerne über Bande. Er pflanzte dem kommissarischen SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich eine raffinierte Idee ein: Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages könnte doch einmal prüfen, ob man das Parlament durch direkt gewählte Abgeordnete mit den schwächsten Wahlkreisergebnissen verkleinern könnte.
Sofort ging in den Fraktionen der großen Koalition, vor allem bei der Union, aber auch bei der SPD die Angst um. Umso mehr, da Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) dieser Tage drohte, die Sozis könnten sich auch mit Grünen, Linken und FDP abstimmen. So war die Unionstruppe diese Woche ganz schnell zum Umfallen bereit.
Nun sind für Schäuble durch den neuen Kompromiss 19 direkt gewählte Abgeordnete weniger auch schon etwas. Die Reduzierung könnte allerdings vor allem die Union treffen. Hochrechnungen kalkulieren, dass durch größere Wahlkreise vier in Nordrhein-Westfalen, jeweils zwei in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen wegfallen. Aber selbst das kleine Saarland und einige andere verlieren je einen Wahlkreis.
So weit so gut. Aber wie will die Union den Deal der SPD verkaufen? Am liebsten hätten Unionsfrauen den Sozis gleich noch eine paritätische Pflichtaufstellung von Männern und Frauen bei den Wahllistenkandidaten in vorauseilendem Gehorsam angeboten – so als Appetithäppchen.
Laut Norm ziehen offiziell noch 299 Parlamentarier über die Zweistimmen in den Bundestag. Derzeit sind es jedoch mit Überhang- und Ausgleichsmandaten 410. Sie stellen die große Mehrheit im Parlament und werden von den Parteispitzen zuvor meist ausgekungelt. Deswegen winkte wohl Merkel in der Fraktionssitzung scheinbar etwas verärgert über den 50:50-Vorschlag für Männer und Frauen auf den Listenplätzen ab. Taktisch muss ja der von der SPD kommen, damit diese wiederum dem CDU/CSU-Angebot zustimmen kann.
An der SPD-Basis gebe es zwar immer noch Widerstand für eine solche Reduzierung, denn die Fraktion habe vor Wochen beschlossen, dass es eine Veränderung der Wahlkreise nicht gebe, berichten einige Sozialdemokraten. Doch wie lange wird dieser „Widerstand“ in der schwächelnden SPD-Truppe halten, wenn schon die Union dank Schäubles Taktik umkippt?
Der „unheimlichen CDU-Chefin“ ist das alles recht
Ex-CDU-Chefin und Kanzlerin Merkel ist das alles sehr recht. Sie möchte ihre Partei durch Schwächung direkter Wahlkreiskandidaten noch stärker auf Linie bringen, klagen Unionsabgeordnete. Besonders grün und sozial orientierte Frauen lasse sie auf die Listen schleusen, um den verbliebenen konservativen Einfluss in der Union durch unabhängige, direkt gewählte Abgeordnete weiter zu verringern. Zudem kann die Kanzlerin durch dieses Ablenkungsmanöver für die Abgeordneten, die jetzt um ihre Pfründe kämpfen müssen, während ihrer EU-Ratspräsidentschaft noch viele Grausamkeiten zu Lasten der deutschen Beitrags- und Steuerzahler beschließen lassen.
Vielleicht gibt es überdies für Union und SPD dank der Hilfe von Grünen und Linken sogar noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Änderung des Grundgesetzes, damit die paritätische Besetzung durch Männer und Frauen auf den Listenplätzen und vielleicht auch der Wahlkreise des Bundestages verfassungskonform ist. Stück für Stück geben also die Bundestagsabgeordneten jetzt aus Angst um ihre Mandate das System des deutschen Wahlrechts für „eine personalisierte Verhältniswahl“ preis. Was für eine tolle Demokratie!
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Es wäre so einfach: Der Zweitstimmenanteil bestimmt die Verteilung der exakt 598 Sitze im Parlament über die Parteien. Und der (relative) Erststimmenanteil, den die Kandidaten einer Partei in ihren Wahlkreisen erzielt haben, bestimmt dann, wer von ihnen tatsächlich ins Parlament einzieht!
-Simpel, demokratisch, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von 2012 gehorchend und die Überhangsmandate komplett vermeidend.
Und warum wird das Utopie bleiben? Weil es eben heute schon deutlich mehr als 598 Parlamentarier hat, von denen ein jeder an seinem gut bezahlten Sessel klebt.. ?
Jede zugelassene Partei darf pro Wahlkreis EINEN Kandidaten nominieren. Es müssen zwei Bewerber angekreuzt werden, sonst ist der Stimmzettel ungültig. Wer dann die meisten Stimmen bekommt, ist faktisch der direkt gewählte BT-Abgeordnete. Wer die zweitmeisten Stimmen bekommt, erhält ebenfalls ein BT-Mandat. Aus, Schluss, Amen! Es kämen pro Wahlkreis nie zwei Kandidaten**innen aus einer Partei zum Zug. Der Bürger entscheidet vor Ort in Direktwahl die BT-Zusammensetzung.
Putin benötigte eine Verfassungsänderung, um ewig an der Macht zu bleiben, Merkel braucht sie nicht.
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG: (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, UNMITTELBARER, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Unmittelbar gewählt werden nur die 299 Direktmandate. Man sollte die Anzahl der Wahlkreise verdoppeln und es sollte nur noch direkt gewählte Bundestagsabgeordnete geben. Soweit im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit erreicht wird, müsste in diesen Wahlkreisen – wie in GB – ein zweiter stattfinden. Nur so wird die vom Grundgesetz gewollte Unmittelbarkeit der Wahl und auch die Unabhängigkeit der Abgeordneten sichergestellt. Wir haben derzeit keine parlamentarische Demokratie, sondern eine Parteiendemokratie. Und unsere Abgeordneten sind Spielball der Parteien… Mehr
ganz einfach: die „Listen“ zusammenstreichen. Nicht jeder braucht einen stellvertretenden Stellvertreter.
Also, soviel Sitz, so viele Wahlkreise. Wer die meisten Stimmen hat, kommt in Bundestag. Fertig. So können die Parteien MITWIRKEN in dem sie ihre Kandidaten für den jeweiligen Wahlkreis aufstellen. Kostet bestimmt nicht mehr, wie der derzeitige Bundestag.
Wenn dann jemand gute parlamentarische Arbeit, also für das Volk, wird er sicher wiedergewählt.
Wenn ich mir die leeren Reihen während der Bundestagssitzungen anschaue, frage ich mich, worin diese „Selbstbeschäftigung“ besteht, und wo sie stattfindet.
Walter Ulbricht: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Merkels Skrupelfaktor: Nahe Null
Ein ganzes Land rennt offenen Auges ins Unglück. Kafkaesk.
Sollten die Direktkandidaten weiter reduziert werden, wird sich die Erosion der Legitimation von Politik in Deutschland beschleunigen. Der Bundestag wir immer mehr an die Asten deutscher Universitäten erinnen: Von nur einem Fünftel der Studenten gewählt spielen einige neurotische Nichtsnutze auf Kosten der anderen Politik, während die Entscheidungen woanders fallen. Die Zukunft Deutschlands wird all das kaum beeinflussen, sie wird durch die Bevölkerungsentwicklung, Bildungsniveau in den exakten Wissenschaften, Energiepolitik und ähnlichem beeinflusst. Ich sehe nirgends eine breite gesellschaftliche Strömung, die bereit wäre, eine Richtungsänderung zu fordern.
Es muss mal grundsätzlich die Frage gestellt werden, wie es den Parteien gelungen ist, sich den kompletten Staat Deutschland, unter den Nagel zu reißen. Mit nur dem Halbsatz im GG ausgestattet: „Die Parteien nehmen an der Willensbildung des deutschen Volkes teil“, haben die Parteien es geschafft alles zu dominieren. Überall sitzen nur Parteigenossen rum. Egal ob in Parlamenten, in den Gerichten, in den Rundfunkräten, in den Verwaltungen, ja in der kompletten Exekutive, das geht bis in die Vereine so. Sogar ein Schrebergartenverein wird heute von Parteileuten dominiert. Also praktisch überall. In den Parlamenten sind tatsächlich schon mehr als 2/3 der… Mehr
„ Alle Politiker, die in die Exekutive gehen, verlieren ihr Mandat.“ -> Das wäre ein erster Schritt Richtung Gewaltentrennung wie sie in einer reellen Demokratie selbstverständlich ist.
P.S. Einen Fehler in meinem Leserbrief möchte ich korrigieren. Die Diäten und Aufwandsentschädigungen sollten in der Höhe bleiben und vielleicht noch erhöht werden. Dann ist gesichert, dass sich auch kompetente Leute aufstellen lassen. Die Altersversorgung allerdings sollte so wie vorgeschlagen, geregelt werden.