Zumutung Zukunft

Was auch immer wir über die Möglichkeiten der Zukunft vermuten, ist unzureichend. Die Wirklichkeit wird jede Phantasie bei weitem übertreffen. Ein Kommunikationsprojekt namens Brainbridge lehrt uns, das Undenkbare zu denken.

IMAGO

Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden. Dieses Axiom des britischen Physikers und SF-Schriftstellers Arthur C. Clarke beschreibt Innovationen anhand ihrer Eigenschaft, das Unmögliche möglich und das Unvorstellbare denkbar zu machen. Wodurch das Neue, das die Zukunft von der Gegenwart trennt, saturierten und trägen Gesellschaften als Bedrohung erscheint. Rüttelt es doch am Fundament mühsam etablierter moralischer Dogmen, deren kollektive Akzeptanz eine behagliche Diskursvermeidung ermöglicht. Aber wenn auf eben dieses intellektuelle Bullerbü ein Hexenwerk wie das von Brainbridge trifft, ist es vorbei mit dem Komfort der Ignoranz.

Eine Maschine, die Köpfe verpflanzt, von einem menschlichen Körper auf einen anderen, soll in nur acht Jahren entstehen. Um Gelähmte zu heilen und Todkranke zu retten, sagt das Unternehmen, aber edle Motive dieser Art stellen immer nur die halbe Wahrheit dar. Man versetze sich in die Situation eines superreichen Wirtschaftsmagnaten, dessen verbleibende Lebensspanne nicht genügt, um all sein Geld mehr oder weniger sinnvoll einzusetzen und all seine Pläne zu realisieren. Brainbridge bahnt eben diesem Kundenkreis einen direkten Weg zur potentiellen Unsterblichkeit. Besser kann man kaum um Risikokapital bei denen werben, die es zur Verfügung stellen könnten. Eine attraktivere Rendite als den Sieg über den Tod gibt es nicht.

Einmal entwickelt und erfolgreich erprobt, wird das Verfahren natürlich diffundieren. Wissen ist nicht rückholbar, nicht löschbar und seine Verbreitung unvermeidbar. Mehr Anbieter drängen auf einen wachsenden, durch fallende Kosten und steigende Effektivität befeuerten Markt, immer mehr Menschen können sich eine solche Operation leisten. Bis dann schließlich fröhlich Gehirne regelmäßig ihre lebenserhaltenden Körper erneuern, alle ethnischen und vielleicht gar geschlechtlichen Grenzen hinwegfegend. Menschen werden nicht nur sehr viel älter, sondern passen ihr jeweiliges biologisches Alter und ihr äußeres Erscheinungsbild umfassend den eigenen Vorstellungen, herrschenden Moden oder praktischen Zwecken an. Vorsicht, denn das junge Mädchen, das einem auf der Straße begegnet, könnte über das Gehirn eines Nobelpreisträgers verfügen. Oder über das eines Massenmörders, der sich auf diesem Weg jeglicher Verfolgung entzieht.

Ehe jetzt die medizinisch Kompetenten unter den Lesern wütend in ihre Tastaturen hauen, um erboste Kommentare zu verfassen, sei die momentane Wahrheit an dieser Stelle enthüllt. Brainbridge gibt es nicht und ebenso ist die beschriebene Gehirntransplantation eine reine Phantasie. Ein Spiel mit unserer Vorstellungskraft, Science Fiction in einer nicht unmittelbar als fiktiv erkennbaren Präsentationsform. Orson Welles berühmte Rundfunk-Adaption von „Krieg der Welten“ schickt Grüße in die Gegenwart.

Erdacht hat das Ganze der in Berlin ansässige Molekularbiologe und Wissenschaftsjournalist Hashem Al-Ghaili, der schon vor Jahresfrist mit ebenfalls imaginierten Berichten über die Entwicklung einer künstlichen Gebärmutter durch eine Firma namens Ectolife Furore machte. Brainbridge bezieht sich übrigens mit der Ankündigung, Ectolife als künftigen Lieferanten für menschliche Körper ohne Bewusstsein anzusehen, auf eben diese Aktion. Wodurch sich der spekulative Charakter der Präsentation erschließt.

Äußerst geschickt verknüpft Al-Ghaili künstliche neuronale Netze mit der zunehmenden Präzision und Flexibilität mechatronischer Manipulatoren, mit dem Laser als universellem Trenn- und Fügewerkzeug, mit Fortschritten in der Sensortechnik, mit der Verschmelzung von Mensch und Maschine durch funktionale Implantate und mit neuen gentechnischen und molekularbiologischen Verfahren. Schon generative Künstliche Intelligenz allein begründet die gerade beginnende Singularität, weil sie den Menschen über kurz oder lang alle operativen Tätigkeiten abnimmt. Und die Konvergenz der genannten und weiterer Innovationen wird uns erst recht auf eine technologische Stufe heben, deren Auswirkungen alles Denkbare übertrifft.

Schon jetzt reden wir über Zaubereien wie die Kernfusion, wie Fabriken im Erdorbit und Kolonien auf Mond und Mars, wie das Metaversum und universelle Quantencomputer als wäre das alles schon da. Weil es ja bald, in wenigen Jahren, tatsächlich vorhanden sein wird. Aber was es wirklich bewirkt, wie es menschliche Gemeinschaften, deren Organisation und Wirtschaftsweise, deren Werte und Ziele verändert, das kümmert kaum jemanden.

Brainbridge führt uns exemplarisch vor Augen, wie unvorbereitet wir sind. Auf eine Welt, in der Technik alle bestehenden Vereinbarungen attackiert und viele einfach auflöst. Bei Grundwerten wie Menschenwürde, Freiheit oder Selbstbestimmung fängt es an, bei zahllosen Details der gegenwärtigen Rechtssetzung setzt es sich fort und bei der Frage, wie sich Beziehungen zwischen Menschen individuell gestalten, endet es noch immer nicht.

Die Kopftransplantation löst bekannte Impulse aus wie „das wird niemals funktionieren“, „das darf man nicht“ und „das gehört verboten“. Wann immer neue Ideen diese reflexhafte Ablehnung hervorrufen, sind sie wirkmächtig. Die beschriebene Maschine ist ja machbar und wenn sie nicht gleich Köpfe verpflanzt, dann auf jeden Fall Organe. Man lasse einen von generativer KI gesteuerten Roboterchirurgen bei zehntausenden Transplantationen zusehen, lasse ihn zehntausende teleoperiert durchführen, lasse ihn an zehntausenden von Leichen oder anatomisch exakt gestalteten Puppen herumschneiden, er wird es lernen. Und dann präziser und flexibler als jeder Mensch agieren können, ohne jemals zu ermüden.

Allein das vermag die Chirurgie zu revolutionieren. Irgendwann gelingt das auch mit Gliedmaßen, mit Fingern oder Händen, Armen oder Beinen. Und schließlich folgen Sinnesorgane. Der Kopf, das Gehirn, steht am Ende dieser Kette. Jeder Arzt wird heute sehr genau erklären, warum das alles nicht geht, wird die Probleme und Hürden im Detail spezifizieren. Und damit implizit auch Lösungswege aufzeigen, mitunter ohne dies zu bemerken. Der Glaube, eine Zivilisation, die bereits Herzen verpflanzt, Lungen, Nieren und Lebern, müsse zwingend am Gehirn scheitern, ist viel absurder als die Überzeugung, die Brainbridge-Zaubermaschine werde bald Realität.

Die Singularität hält noch mehr Zumutungen dieser Art bereit, höchst spekulative wie zeitnah realisierbare. Brainbridge ist nur eine Metapher für den Innovationstornado, der in den nächsten Monaten und Jahren die Menschheit in eine neue Epoche katapultiert. Der eine Transition auslöst, nach der kein Stein auf dem anderen bleibt. Und wenn, was auch immer an Ideen, Konzepten und Plänen bekannt wird, nicht magisch erscheint, ist es noch nicht fortgeschritten genug.

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Kommentare ( 3 )

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HansKarl70
1 Monat her

Für die Allermeisten Menschen der nächsten 500 Jahre wahrscheinlich ohne Bedeutung. Warum also sollte man sich Gedanken über ungelegte Eier machen, die einen nicht betreffen.

Last edited 1 Monat her by HansKarl70
Gabriele Kremmel
1 Monat her

Der Mensch ist nicht nur Körper und Gehirn, er ist auch Seele und Geist, welcher sich hier im Erdenleben weiter entwickelt. Nehmen wir an, das irdische Leben ist Erfahrungsraum für Seelen, die kommen und gehen.
Wo kommen wir hin, wenn Reiche (monetär oder an Einfluss) sich hier mit ihren Gehirnen unendlich festsetzen und ihre limitierenden Vorstellung ohne das Zeitlimit der natürlichen Lebenserwartung allen Generationen aufs Auge drücken können. Es wäre der Beginn vom Ende der Entwicklung.

thinkSelf
1 Monat her

„Der Glaube, eine Zivilisation, die bereits Herzen verpflanzt, Lungen, Nieren und Lebern, müsse zwingend am Gehirn scheitern, ist viel absurder als die Überzeugung, die Brainbridge-Zaubermaschine werde bald Realität.“ Nö. Es zeigt nur das der von mir sehr geschätzte Autor ein mangelndes Verständnis von Komplexität hat. Wobei das mit den Verpflanzung von Lungen, Lebern, Nieren und Herzen ja nun auch nicht wirklich gut funktioniert. Tatsächlich zeigt eine gründliche Analyse das das Innovationstempo nicht etwa zu, sondern bereits seit 100 Jahren dramatisch abnimmt. Was übrigens auch zu erwarten war, da durch die Thermodynamik so determiniert. Von einer „Singularität“ ist da nichts zu… Mehr