Verlogenes Merkel-Lob von eingefleischten CDU-Gegnern

Wahlen werden nicht nur im Wahllokal entschieden, sondern auch durch die Interpretation danach. Wie Angela Merkel bejubelt und Kretschmann zum Ministerpräsidenten hochgeschrieben wird.

Bei Wahlen zeigt das Volk, was es von seinen Politikern und ihrer Politik hält. So war das auch am Sonntag. Aber die nackten Zahlen sagen noch lange nicht, wer Sieger und Verlierer ist. Manche Wahl wird erst nach Schließung der Wahllokale gewonnen oder verloren – in den Kommentaren der Medien. Und da reibt man sich die Augen: Angela Merkel, deren CDU in den drei Ländern Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zusammen nur auf 28,5 Prozent kam und in Umfragen im Bund bei 32 bis 35 Prozent liegt – zehn Punkte unter ihrem September-Wert – wird allenthalben zur großen Siegerin ausgerufen. Man könnte glauben, die Merkel-CDU habe in drei Ländern die absolute Mehrheit gewonnen und sei nicht für ihre Flüchtlingspolitik so deutlich abgestraft worden.

Beifall von der anderen Seite

Der Beifall für Merkel kommt besonders aus der journalistischen Ecke, in der die entschiedenen CDU-Gegner sitzen, die von Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün träumen. Von der CDU halten sie gar nichts und die CSU für eine fast rechtsradikale Truppe. Aber Merkel lieben sie. Warum? Weil die Merkel-CDU mit der bürgerlich-konservativen Union von früher fast nichts mehr zu tun hat. Diese Merkel-Fans loben nicht nur die Flüchtlingspolitik, mit deren Hilfe dieses angeblich angestaubte, sklerotische Land bereichert, verjüngt und weltoffener wird. Sie sind auch glücklich darüber, dass die Merkel-CDU so sozialdemokratisiert und grünlich imprägniert ist, dass die Unterschiede zu Rot-Grün immer geringer werden. Atomausstieg, Mindestlohn, Frauenquote und Mietpreisbremse zählen zu den wichtigsten Errungenschaften von Merkels Kanzlerschaft.

Am Sonntag erlebte diese CDU zwar ein Debakel. Aber die CDU-Gegner und Merkel-Anhänger in den Medien erklären die Kanzlerin dennoch zur Siegerin. Nicht jeder macht es so holzschnittartig wie Jakob Augstein vom Spiegel, aber sein Kommentar ist durchaus repräsentativ: „Diese Wahl war Merkels Wahl. Eine Abstimmung über die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Merkel hat sich selbst, ihre Partei und das ganze Land in eine sonderbare Lage gebracht: Nicht jede Stimme für die CDU war eine für Merkel, aber jede für die SPD und die Grünen unterstützte in Wahrheit den Kurs der Kanzlerin. Das liegt im Wesen der schwarz-rot-grünen Koalition, die Merkel in der Flüchtlingsfrage geschmiedet hat. Wenn man bedenkt, dass eine derart übergroße Koalition Gift für die Demokratie ist, kann man sich beinahe freuen, dass der rechte Rand nicht noch breiter wurde.“

SPD-Stimmen für die Kanzlerin?

Jede Stimme für SPD und Grüne war also eine für die Kanzlerin. Da reibt man sich doch verwundert die Augen. Wenn das so ist, warum sind dann die Grünen in Rheinland-Pfalz von 15 auf 5 Prozent abgestürzt, warum ist dann die SPD in Baden-Württemberg mit 13 Prozent geradezu gedemütigt worden? In einem Punkt hat Augstein freilich Recht: Nicht jede Stimme für die arg gerupfte CDU war eine Stimme für Merkel. Im Gegenteil: Da sich die drei Spitzenkandidaten Guido Wolff, Julia Klöckner und Reiner Haseloff alle mehr oder weniger gegen Merkels Willkommenspolitik gestellt hatten, müsste man die der CDU noch verbliebenen Stimmen genau genommen den Proteststimmen gegen Merkels Kurs hinzurechnen. Aber das tut so gut wie keiner, weil sich dann die These nicht mehr halten lässt, alles in allem hätten doch 85 Prozent der Wähler Merkels Kurs unterstützt.

Das Bemühen, einem Wahlergebnis den richtigen „Spin“ zugeben, lässt sich auch in der Debatte um die Regierungsbildung in Baden-Württemberg studieren. Der Wähler hat gesprochen: Rot-Grün ist abgewählt. Zugleich haben die Wähler die Grünen mit 32 Prozent zur stärksten Fraktion gemacht. Daraus wird allenthalben eine Art Rechtsanspruch auf das Ministerpräsidentenamt für Winfried Kretschmann abgeleitet. Zugleich wird die von der CDU angestrebte, wenn auch nicht sehr wahrscheinliche „Deutschland-Koalition“ aus CDU, SPD und FDP als Verfälschung des Wählerwillens, ja als undemokratisch gebrandmarkt.

Was ist schon die Wahrheit am Tag nach der Wahl?

Der „Tagesspiegel“ scheut da vor drastischen Worten nicht zurück, liegt aber im medialen Mainstream. Er nennt eine Deutschland-Koalition „anmaßend, weil die CDU darauf pfeift, dass eine große Mehrheit der Baden-Württemberger Kretschmann als Ministerpräsidenten behalten will und die so genannte Deutschland-Koalition als schlechteste aller Bündnisvarianten ablehnt. Nicht durchdacht, weil die erschütterte SPD beim Gang in eine schwarz-rot-gelbe Koalition vollends zerbröseln würde und ihn deshalb gar nicht erst antreten kann. Politisch unklug, weil alle jene, die der Politik per se Machtgeilheit vorwerfen, sich bestätigt sehen dürften. So mästet man die Politikverächter von der AfD.“

Wenn wir diese Worte zum Maßstab nehmen, dann wird das halbe Land von anmaßenden und unklugen Politikern regiert, weil nicht die stärkste Partei den Regierungschef stellt, sondern die zweitstärkste. Auch der grüne Kretschmann wurde vor fünf Jahren als Kandidat einer 24 Prozent-Partei Regierungschef, während die CDU mit ihren 39 Prozent in die Opposition musste. Und das war kein Einzelfall. Ob Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder Thüringen – überall ist die CDU die stärkste Partei, sitzt aber in der Opposition. Auch auf Bundesebene wäre Willy Brandt 1969,  und 1980 Schmidt nicht Kanzler geworden, wenn die „anmaßenden“ Sozialdemokraten und Liberalen die viel stärkere CDU/CSU nicht in die Opposition geschickt hätten. Oder nehmen wir Hessen: Dort stellte die CDU bei fünf von sieben Wahlen zwischen 1974 und 1995 die stärkste Fraktion – aber niemals den Ministerpräsidenten.

Politikern wird gerne vorgeworfen, sie würden vor der Wahl lügen. Manche Journalisten nehmen es mit der Wahrheit auch nicht so genau – nach der Wahl.

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