Das Schlusskapitel in der Geschichte vom Aufstieg und Fall des Kanzlerkandidaten Martin Schulz und seiner SPD kann erst nach dem 24. September geschrieben werden. Die Zwischenbilanz – vier Monate nach seiner Ausrufung und vier Monate vor der Wahl – sieht so aus: Noch nie sind ein Kanzlerkandidat und seine Partei in so kurzer Zeit in den Umfragen so hoch gestiegen und wieder so tief gefallen wie der zum „Gottkanzler“ und „Erlöser“ stilisierte Mann aus Würselen.
Gestartet war die SPD mit Schulz bei 20 Prozent. Zwischenzeitlich lag sie bei 35 bis 37 Prozent. Jetzt – drei verlorene Landtagswahlen später – steht sie in der „Sonntagsfrage“ bei 25 bis 27 Prozent – zwölf Prozentpunkte hinter der CDU/CSU. Die SPD ist also ungefähr wieder da, wo sie mit Peer Steinbrück bei der letzten Bundestagswahl war. (25,7 Prozent). Um es in der Börsensprache auszudrücken: Nach dem Gabriel-Tief und dem Schulz-Hoch wird die SPD wieder mit ihrem „fairen Wert“ notiert – rund 25.
Der schnelle Auf- und Abstieg von Schulz lässt vor allem jene Medien rätseln, die den Schulz-Hype vom ersten Tag an nach Kräften befördert hatten – allen voran Spiegel, Stern und Die Zeit. Giovanni di Lorenzo, oberster Zeit-Deuter, schlug sich kürzlich bei Anne Will öffentlich-rechtlich in typischem Lorenzo-Geschwurbel an die Brust: „Ich finde, die Dinge verändern sich so rasend schnell und wir lagen so oft falsch in den Vorhersagen, dass ich mir ein wenig Deutungsdemut wünsche.“
Deutungsdemut! Lorenzos eigene Redaktion scheint von so viel Selbsterkenntnis noch weit entfernt zu sein. Nach Schulz‘ Aufstieg hatte sich die Zeit entschuldigt, dass die Medien jahrelang das „Potenzial des Sozialdemokratischen“ übersehen hätten, „auch Autoren dieser Zeitung“. Jetzt widmet sich die Wochenzeitung auf drei Seiten der Frage: „Schafft er das noch?“. Man spürt geradezu, wie die Autoren sich zwingen, trotz aller Wahlniederlagen und deprimierender Umfragewerte den Glauben an Schulz und die SPD nicht zu verlieren. „Daran, dass Schulz ein politisches Großtalent ist, besteht kein Zweifel“, verteidigt die Redaktion ihren Schulz. Nur wollen die Wähler das offenbar so nicht sehen. Die Zeit-Redakteure argumentieren da wie Wahlverlierer. Hatten Hannelore Kraft und Torsten Albig nicht ebenfalls die These vertreten, ihre Politik wäre gut gewesen – nur hätten die Wähler diese nicht gewürdigt?
Auch beim Stern hat der Schulz-Kater den Schulz-Rausch abgelöst. Auf dem neuesten Titel lässt Angela Merkel „den Traum der SPD platzen – PENG“. Im Heft heißt es: „Die Jubelszenen aus der Zeit des Aufbruchs“ wirkten plötzlich „surreal“. Noch eine Erkenntnis: „Relativ schnell merkten die Menschen, dass Martin Schulz kein Heiland ist, sondern nur ein weiterer Vorsitzender dieser ehrwürdigen Partei, die zwar noch als wichtig wahrgenommen wird, aber eben auch als altbacken.“
Wenn es die Menschen „relativ schnell merkten“, dann liegt doch die Frage nahe, warum die Stern-Redaktion viel länger dazu gebraucht hat? Vielleicht, weil die Stern-Redakteure es gar nicht sehen wollten? Immerhin räumt das Blatt etwas zerknirscht ein, viele hätten im Frühjahr eine Merkel-Dämmerung festgestellt – „auch der Stern“. Die strahlende Kanzlerin auf dem Stern-Titel sieht jedenfalls nicht mehr nach Dämmerung aus.
Der Autor verteidigt vehement die These, die „Sehnsucht vieler Deutscher nach einer Alternative zu Angela Merkel“ wäre im Januar/Februar „real“ gewesen. Lassen wir einmal dahin gestellt, welche „Sehnsüchte“ die Deutschen wirklich umtreibt: Ohne den überschäumenden medialen Jubel hätte der Kandidat Schulz die SPD-Wählerschaft nicht aus der Gabriel-Depression herausholen und wieder in Steinbrück-Stimmung versetzen können. Den Beleg für das Leiden der meisten Medien am verebbten Schulz-Hype lieferten ARD und ZDF nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl: Wahlverlierer Schulz durfte auf beiden Kanälen in einer Sondersendung seine Sicht der Dinge erläutern.
Spiegel und Stern beharren darauf: Der große Zustrom zu den Schulz-Veranstaltungen, die „Martin-Martin“-Jubler, die 16.000 Eintritte in die SPD seien sehr wohl real gewesen. Das ist auch richtig. Nur haben viele Journalisten – ebenso wie die SPD-Funktionäre – eines übersehen: Wer die eigenen Genossen begeistern kann, der kann noch lange nicht die Mehrheit der Wähler überzeugen oder gar begeistern.
Dass die eigenen Fans die Lage oft rosiger sehen als der neutrale Beobachter, ließ sich an den Anhängern des HSV wie des VfL Wolfsburg studieren. Sie waren in der Endphase der Bundesliga-Saison von den Bemühungen ihrer Kicker, sich gegen den Absturz zu stemmen, begeistert und bejubelten deren Anstrengungen. Doch der Fan-Jubel konnte nicht darüber hinwegtäuschen, was offenkundig war: Beide Teams spielten grottenschlecht. Da waren die Sportreporter außerhalb von Hamburg und Wolfsburg objektiver als ihre politischen Kollegen in der Schulz-Arena.