Politisch hat die Erde am Sonntag in Bayern gebebt. Aber die Alpen stehen noch. Die CSU rettet sich wohl in eine Koalition mit den Freien Wählern, einer „CSU light“. Die sind allerdings kommunal fest verankert. Falls in der CSU einige glauben, sie könnten die Aiwanger-Truppe in einer Koalition so auflaufen lassen, wie die CDU den Koalitionspartner FDP zwischen 2009 und 2013 im Bund, könnten sie sich allerdings täuschen. Die „Freien“ sind stark: Die vom Thron der absoluten Mehrheit gestoßene einstige Staatspartei ist auf die Freien Wähler dringender angewiesen als diese auf die CSU.
40 Prozent minus statt 50 Prozent plus
„50 Prozent plus X“ lautete einst der Anspruch der CSU. Was gerne übersehen wird: Erreicht haben die Christlich-Sozialen diese Marke zuletzt 2003, als sie mit Edmund Stoiber bei extrem niedriger Wahlbeteiligung auf 60,7 Prozent kamen. Seitdem geht’s unter Schwankungen bergab. Bei der Europawahl 2014 kam die CSU auf 40,5 Prozent, bei der Bundestagswahl 2017 noch auf 38,8 Prozent, jetzt waren es nur noch 37,2 Prozent.
37,2 Prozent sind im Vergleich zu den Umfragewerten der CDU außerhalb Bayerns immer noch ein stattliches Ergebnis – aber halt nur relativ. Abgesehen davon, dass die CSU sich mit ihren internen Streitereien ebenso selbst beschädigt hat wie durch den permanenten Konflikt mit der CDU in der „Flüchtlingspolitik”: Auch die CSU ist nicht immun gegen den schleichenden Bedeutungsverlust der Volksparteien.
Von 37 Prozent kann die CDU nur träumen
Der Rückhalt der Volksparteien waren die Milieus, in die man hineingeboren wurde und die die parteipolitische Präferenz prägten: das christlich-konservative einerseits und die gewerkschaftlich geprägte Arbeitnehmerschaft andererseits. In der alten Bundesrepublik sind diese sozialen Umfelder stark geschrumpft, in den neuen Ländern gab es diese so nie. Bayern ist insofern anders, weil die CSU über die weltanschaulich-politische Prägung noch eine zusätzliche Klammer hatte und hat: Das „Mia san mia“-Gefühl, der Stolz auf Bayern als einzigartiges Bundesland in Abgrenzung zu den „Preußen“. Aber selbst unter dem weiß-blauem Himmel hat es gravierende soziale Veränderungen gegeben. Die haben die CSU deutlich kleiner werden und die SPD fast verschwinden lassen.
Die CSU hat mit einem Ergebnis „verloren“, von dem CDU- und SPD-Landesvorsitzende in fast allen anderen Bundesländern derzeit nur träumen können. Dass sie noch Volkspartei ist, hat wohl auch damit zu tun, dass die CSU sich von der Konkurrenz scharf abgrenzt. Die Sozialdemokratisierung der CDU einerseits und die Konturlosigkeit der SPD andererseits haben die Bindekräfte beider Parteien zusätzlich geschwächt. Wenn die CDU Beweglichkeit zunehmend mit Beliebigkeit gleichsetzt, darf sie sich nicht wundern, wenn auch ihre Wähler sich am Wahltag beweglich und beliebig verhalten.
In Hessen ist alles möglich – auch ein GAU für die Union
Die CSU hat durch einen Last-Minute-Swing von 33 auf 37 Prozent gerade noch verhindert, dass im Freistaat gegen sie regiert werden könnte. Ob das der CDU in Hessen am Sonntag in einer Woche gelingt, ist dagegen offen. Das wäre für Angela Merkel und die CDU natürlich der GAU, wenn Volker Bouffier aus der Staatskanzlei ausziehen müsste. Den letzten Umfragen zufolge ist eine abermalige Mehrheit für Schwarz-Grün nicht ausgeschlossen. Aber auch Rot-Rot-Grün, eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP oder „Jamaika“ mit CDU, Grünen und FDP liegen im Bereich des Möglichen.
In Hessen ist seit 2013 Wirklichkeit, was Merkel und ihre Modernisierer als neue Wunschkoalition ansehen: CDU + Grüne. Bouffier und sein grüner Vize haben das Land solide regiert, weil beide ihre Parteien auf einen pragmatischen Kurs festgelegt haben. Allerdings gab es 2013, als sie das schwarz-grüne Wagnis eingingen, bereits viele schwarz-grüne Bündnisse in den Kommunen und Kreisen. Da hatte sich – anders als jetzt in Bayern – bereits gegenseitiges Vertrauen herausgebildet.
Eine hessische Landesregierung ohne CDU wäre für Merkel noch aus einem ganz anderen Grund sehr schmerzhaft. Denn Bouffier, von Alfred Dregger geprägt und zu Zeiten Roland Kochs als „schwarzer Scheriff“ die Verkörperung von „Law and Order“, hat Merkels Kurs der unkontrollierten Zuwanderung 2015/16 loyal mitgetragen. Wer also die CSU-Verluste in Bayern auf die ständigen Auseinandersetzungen zwischen München und Berlin zurückführt, wird sich mit der Erklärung einer eventuellen CDU-Niederlage in Hessen schwer tun.
Die Wahl in Hessen kann ebenso zum Endspiel für Angela Merkel wie für Andrea Nahles werden – und damit auch zum Endspiel für die Große Koalition. Sollte in Hessen die SPD zum ersten Mal seit 1999 wieder den Ministerpräsidenten stellen, wäre Nahles vorerst gerettet; dann ließe sich der Absturz in Bayern eben mit „bayerischen Verhältnissen“ einigermaßen schönreden. Sollte die SPD dagegen am 28. Oktober die sechste Wahlniederlage hintereinander erleiden, würde die SPD-Linke alles tun, um aus der GroKo auszusteigen und zugleich Nahles als Parteivorsitzende zu stürzen.
Der Parteitag wird für Merkel kein Heimspiel
Bei der CDU könnte ein hessisches Desaster den CDU-Bundesparteitag Anfang Dezember zum Tribunal für Merkel werden lassen. Denn schwere CDU-Verluste in Wiesbaden ließen sich, anders als in Bayern, weder mit Streit innerhalb der Hessen-Union oder innerhalb der Koalition erklären. Denn so ruhig und sachlich wie dort geht es nur in wenigen anderen Bundesländern und Regierungskoalitionen zu. Eine CDU-Niederlage wäre auch eine Absage an den Merkel-Kurs in Berlin.
Für Merkel wird der Parteitag sicher kein Heimspiel. Eine ganz andere Frage ist es, ob sich jemand von Gewicht aus der Deckung wagen und die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin herausfordern würde. Der mutigste Akt der Merkel-Gegner in der CDU war bisher die – geheime – Abwahl von Volker Kauder, Merkels Statthalter an der Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Zur Erinnerung: Die Abnabelung der CDU vom einstigen Übervater Helmut Kohl erfolgte erst 1999 im Gefolge der unsäglichen Spendenaffäre. „Ermordet“ wurde damals ein Ehrenvorsitzender, also ein politisch bereits toter Altkanzler. In der CDU gibt es viele kompetente Politiker und Politikerinnen. Rebellen wurden dort aber seit langem nicht mehr gesichtet. Die personellen Opfer von Merkels langer Karriere an der Spitze von Partei und Regierung – u. a. Merz, Koch, Schäuble, Wulff – fielen alle nicht im Kampf; sie traten erst gar nicht an.
„Erbarme, die Hesse komme“
Bei hessischen Landtagswahlen wurden schon mehrmals auch bundespolitisch die Weichen gestellt. 1985 starteten SPD und Grüne dort das erste, kurzlebige rot-grüne Experiment. Die Regierung Eichel/Fischer in Wiesbaden bereitete dann von 1991 an die erste rot-grüne Bundesregierung vor. 1999 sorgte Koch mit seinem Wahlsieg für neuen Mut in der Bundes-CDU nach der verlorenen Bundestagswahl 1998. Vor fünf Jahren wollten Volker Bouffier und Tarek Al-Wazir zeigen, dass sich ökonomische und ökologische Zielsetzungen durchaus verbinden lassen. Hessen wurde damit auch in gewisser Weise zum Wegbereiter für die Jamaika-Versuche in Berlin. Gescheitert sind diese bekanntlich nicht an den Grünen, sondern am fehlenden Mut der FDP.
Wie auch immer die Wahl am 14. Oktober ausgehen mag: Der Rest der Republik kann zusammen mit den „Rodgau Monotones“ schon mal die inoffizielle Hessen-Hymne einüben: „Die Hesse komme“:
„Was kommt denn da für’n wüsster Krach aus Frankfurt, Darmstadt, Offenbach?
Was lärmt in Kassel, Giessen und Wiesbaden bloß so gnadenlos?
Was tut den Bayern, Schwaben, Friesen gründlich jeden Spaß vermiesen?
Was tobt seit vielen Wochen schon?
Ne schaurig-schöne Invasion!
Erbarmen – zu spät, die Hesse komme!
Erbarmen – zu spät, die Hesse komme!