Gregor Gysi geht – jedenfalls als Fraktionsvorsitzender. Seine Partei hätte ihm nach seiner Abschiedsrede auf dem Bielefelder Parteitag das Lied von Trude Herr spielen sollen: „Niemals geht man so ganz“. Das wird bei dem mit Abstand besten Redner und Debattierer der Linken sicher so sein. Befreit von vielen lästigen Verpflichtungen, die mit einem politischen Führungsamt verbunden sind, hat Superstar Gysi künftig noch mehr Zeit für öffentliche Auftritte und Fernseh-Talkshows. Vielleicht gibt er von Herbst an im Bundestagshandbuch „Dauerwahlkämpfer“ als Nebentätigkeit an.
Nach 25 Jahren in Spitzenämtern in SED/PDS, PDS, Linkspartei und jetzt Die Linke hinterlässt Gysi eine politische Organisation, die sich im parlamentarischen System der Bundesrepublik etabliert hat. Ihre Außenpolitik ist isolationistisch, anti-westlich, pazifistisch und pro Putin zugleich. Ihre Wirtschaftspolitik setzt auf mehr Staat, viel weniger Markt und auf ganz viel Umverteilung. Aber niemand muss befürchten, eine in Berlin mitregierende Linke würde die Axt an Demokratie und Rechtsstaat legen. Honeckers alte Partei ist im System der Bundesrepublik angekommen, und Gysi hat daran einen entscheidenden Anteil.
Man muss Die Linke nicht mögen. Ein Teil ihres ostdeutschen Personals gehörte zu Mauer-Zeiten zum Unterdrückungsapparat der DDR. Ein Teil des westdeutschen Personals faselte damals von der Diktatur des Proletariats oder sympathisierte mit der von Ostberlin ausgehaltenen Deutschen Kommunistischen Partei.
Dementsprechend ist die Partei innerlich zerrissen, zersplittert und zerstritten. Gleichwohl ist Die Linke heute im Parteiensystem der Bundesrepublik fest verankert und längst mehr als eine auf die neuen Länder beschränkter Sammlungsbewegung von Wendeverlierern oder ein Verein zur Pflege der Ostalgie.
Natürlich schneidet Die Linke in den neuen Ländern bei Wahlen besser ab als im alten Bundesgebiet. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen hat sie die SPD vom zweiten Platz verdrängt. In Brandenburg sitzt sie in der Regierung, in Thüringen stellt sie den ersten sozialistischen Ministerpräsidenten auf deutschem Boden, der durch eine freie Wahl ins Amt gekommen ist. Auch in der alten Bundesrepublik ist sie in den Landtagen von Hessen, dem Saarland, Hamburg und Bremen vertreten und verfügt zudem über eine beachtliche kommunale Basis. Was gerne vergessen wird: Bei der Bundestagswahl 2013, also bei der höchsten Wahlbeteiligung, übersprang Die Linke in fast allen alten Bundesländern die Fünf-Prozent-Hürde. Ausnahmen bildeten nur die Unions-Hochburgen Baden-Württemberg und Bayern.
Die Position der Linkspartei im Parteienspektrum widerlegt aufs Trefflichste die Pluralismus- und Parlamentarismus-Kritik von links. Danach verfestigt das parlamentarisch-pluralistische System den Status quo, stärkt die Macht der Etablierten und erschwert neuen Gruppen und Interessenvertretungen die Beteiligung am politischen Prozess so sehr, dass das einem faktischen Ausschluss gleichkommt. Die Existenz der Partei Die Linke zeigt jedoch, dass der politische Markt – trotz Fünf-Prozent-Zugangshürde – funktioniert. Wenn die Interessen einer hinreichend großen Zahl von Wählern von den etablierten Parteien nicht oder nicht mehr vertreten werden, haben neue Wettbewerber auf dem politischen Markt gute Chancen.
Die Linke kann auf dem Wählermarkt mit mehreren „Unique Selling Propositions“ (USPs), also mehreren Alleinstellungsmerkmalen punkten. Sie hebt sich mit ihrem programmatischen Angebot deutlich von ihren Wettbewerbern ab: Keine andere Partei will die Wirtschaft so stark kontrollieren sowie die Tüchtigen und Fleißigen so stark besteuern. Keine andere Partei will einen so hohen Mindestlohn, eine so hohe Mindestsicherung für alle, die nicht arbeiten, so üppige Renten und ein so stark reguliertes Gesundheitssystem. Keine andere Partei ist so strikt gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, so kritisch gegenüber den USA, der NATO und Israel, zugleich aber so verständnisvoll gegenüber Russland. Keine andere Partei (mit Ausnahme der AfD) ist so entschieden gegen die Euro-Rettungspolitik. Keine andere Partei betont so unverdrossen die „guten Seiten“ der untergegangenen DDR und lehnt die Bezeichnung des SED-Staats als Unrechtsstaat entschieden ab.
Es ist ein ziemlich krudes Angebot, mit dem Die Linke auf dem Wählermarkt um Anteile kämpft. Aber damit bedient die Partei eine zweifellos vorhandene Nachfrage. Das wird sie auch in der Nach-Gysi-Zeit so sein. Helfen dürfte ihr, dass SPD und Grüne – entgegen mancher Beteuerung – gegenüber der Ex-SED so gut wie keine Berührungsängste mehr haben. Bei drei Landtagswahlen im Jahr 2016 könnte es zu rot-rot-grünen Regierungen kommen: in Sachsen-Anhalt, in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin. Das wären wichtige Schritte auf dem Weg zu Gregor Gysis großem Ziel einer rot-rot-grünen Bundesregierung – und einer anderen Republik.
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