Die von den sogenannten sozialen, in Wirklichkeit häufig asozialen Netzwerken beförderte Anonymität verleitet viele, den letzten Unsinn als ewige Weisheit zu verkaufen. Die neue „Bildungsrepublik“ Deutschland: ein Volk von ahnungslosen Rechthabern.
Was „postfaktisch“ bedeutet? Der Begriff suggeriert, dass früher, also „ante“, die Fakten eine größere Rolle gespielt hätten als heute. Ich habe da so meine Zweifel. Der Satz des „Eisernen Kanzlers“ Otto von Bismarck, niemals werde so viel gelogen wie vor der Wahl, bei der Beerdigung und nach der Jagd, ist jedenfalls schon mehr als 120 Jahre alt. Nicht ganz so lange ist es her, dass die CDU/CSU nach der verlorenen Wahl 2002 im Bundestag einen „Lügenausschuss“ einsetzte, der unter anderem angebliche Lügen des Wahlkämpfers Gerhard Schröders über die Lage der Renten- und Krankenversicherung aufdecken beziehungsweise nachweisen sollte.
Vielleicht ist doch eines neu: dass Meinungen stärker als früher im Brustton der Überzeugung als Fakten vorgetragen werden. Ein Blick auf Facebook oder Twitter genügt, um auf Zeitgenossen zu stoßen, die jede ihrer Einschätzungen für ein „Faktum“ halten – und sei diese noch so abwegig. Man muss nur fest an das glauben, was man sagt – und schon hat man „faktisch“ gewonnen. Glaubt jedenfalls mancher.
Neulich hatte ich mein postfaktisches Erweckungserlebnis. Es geschah während eines Gespräches mit einem Menschen in den besten Jahren, der genau dem Prototyp des Bildungsbürgers entspricht: habilitierter Wissenschaftler, beeindruckende berufliche Karriere innerhalb und außerhalb von Hochschulen. Obendrein ein Steuerexperte – jedenfalls seiner Meinung nach.
Es war eine zufällig zustande gekommene Runde, garantiert ohne Alkohol. Irgendwie kamen wir auf das Thema Steuern zu sprechen. Da legte der Herr Professor aber los: Ein Skandal sei das, die Reichen zahlten hierzulande keine Steuern, aber ihm würden jeden Monat mehr als 50 Prozent abgezogen. Meinen zarten Hinweis, der Höchstsatz bei der Einkommensteuer betrage doch nur 42 beziehungsweise 45 Prozent (Reichensteuer), weshalb ihm auch – selbst unter Einschluss des „Soli – keine 50 Prozent an Steuern abgezogen werden könnten, wischte er beiseite: Er kenne den Unterschied zwischen Brutto und Netto auf seiner Gehaltsabrechnung, ich dagegen hätte doch keine Ahnung.
Ich konzedierte dem Herrn, dass seine Abzüge sehr wohl bei 50 Prozent und mehr liegen könnten, aber nur einschließlich des Krankenkassenbeitrags und anderer Abgaben. Aber das wollte er nicht hören. Er werde geschröpft, während die Reichen nichts zahlten. Die hätten ihr Geld in der Karibik. Meine Frage, ob er ernsthaft glaube, DAX-Vorstände bekämen ihre Millionengehälter auf Konten in Steuerparadiesen überwiesen, überging er: „Die Reichen zahlen nichts.“
Der habilitierte Herr redete sich in Rage. Da gebe es doch noch den „Professor aus Heidelberg“, der habe mit seiner „Bierdeckelsteuer“ die Reichen noch reicher machen wollen. Mit meinem Bemühungen, dem Herrn den Unterschied zwischen der „Flat Tax“ von Paul Kirchhof und dem einfachen, aber progressiven Steuermodell des CDU- Politikers Friedrich Merz („Steuererklärung passt auf einen Bierdeckel“) zu erläutern, kam ich nicht weit. „Sie haben keine Ahnung“, rief der Herr über den Tisch. Als ein Teilnehmer unser Runde das Ergebnis einer Internet-Recherche vorlas, wonach Bierdeckel und Kirchhof wirklich nicht zusammen passten, holte der nicht aus Heidelberg stammende Professor zum vermeintlich vernichtenden Schlag aus: „Meine Frau ist Steuerberaterin“. Sollte wohl heißen: Auch die online zu findenden Beiträge über Merz und Kirchhof sind allesamt falsch.
Es gibt Situationen, in denen man nur den Rückzug antreten kann, geordnet und höflich, aber entschlossen – immerhin bereichert um ein Rendezvous mit dem „Postfaktizismus“. Aber man soll auch nicht in alles zu viel hineininterpretieren. Schließlich fiel mir wieder ein, dass der hier zitierte Professor nicht zwangsläufig ein Produkt der Moderne sein muss. Rechthaberischen und politisch allenfalls partiell informierten Hochschullehrern bin ich schon während meines Studiums begegnet. Obwohl damals noch niemand wusste, wie man postfaktisch schreibt. Offenbar ist nicht alles, was neu erscheint, wirklich neu. Gleichwohl verleitet die von den sogenannten sozialen, in Wirklichkeit aber häufig asozialen Netzwerken beförderte Anonymität viele dazu, selbst den letzten Unsinn als ewige Weisheit zu verkaufen. Vielleicht ist das ja die neue „Bildungsrepublik“ Deutschland: ein Volk von ahnungslosen Rechthabern.
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