Ist da überhaupt noch Platz für die SPD – und wenn ja, wo? Ralf Dahrendorf hatte schon vor 30 Jahren das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts ausgerufen. Er könnte allmählich Recht bekommen.
Es gibt bei der SPD eine Regel: Der jeweilige Parteivorsitzende hat das Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur – sofern er sich traut. Bei der Bundestagswahl 2013 hat Sigmar Gabriel bekanntlich gekniffen. Erst gaukelte er den Genossen und der Öffentlichkeit einen Dreikampf zwischen ihm, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier vor. Dann ließen er und Steinmeier gemeinsam Steinbrück den Vortritt – um sich die zu erwartende Niederlage gegen Angela Merkel abzuholen.
Jetzt versucht Gabriel dasselbe Spiel erneut. Einen Zwei- oder Dreikampf um die Kanzlerkandidatur wäre ihm am liebsten, verkündete er kürzlich. Das zielte auf den Hamburger Regierungschef Olaf Scholz und den Europapolitiker Martin Schulz, der bekanntlich jedes Amt übernehmen würde, um nach dem Ende seiner Amtszeit als Präsident des Europäischen Parlaments in den Schlagzeilen zu bleiben.
Dead man walking
Natürlich erfüllt das, was Gabriel vorschlägt, den Tatbestand des groben Unfugs. Ein Parteivorsitzender, der sich einem innerparteilichen Auswahlverfahren um die Spitzenkandidatur stellen muss, kann gleich abdanken. Eine „lame duck“ wäre im Vergleich dazu ein Rennpferd. Anders ausgedrückt: Ein Parteivorsitzender, der die Bestätigung seiner potentiellen Kanzlertauglichkeit per innerparteilicher Vorwahl sucht, ist politisch bereits tot: Dead man walking.
Was Gabriel derzeit inszeniert oder zu inszenieren versucht, ist Ausfluss purer Verzweiflung. Die Sozialdemokraten liegen bundesweit in den Umfragen um oder unter 20 Prozent. Das ist der niedrigste Wert für die SPD, seit es Meinungsforschung gibt. An der Wahlurne schneiden sie bisweilen noch schlechter ab: 10,9 Prozent in Sachsen-Anhalt, 12,4 in Sachsen und Thüringen, 12,7 Prozent in Baden-Württemberg und damit deutlich hinter der AfD. Bei den Landtagswahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern drohen den Genossen ebenfalls neue Tiefstände in ehemaligen Hochburgen. Und in ihrem Stammland Nordrhein-Westfalen droht ihnen im Mai nächsten Jahres ebenfalls ein Debakel.
Die miserablen Umfragewerte spiegeln nicht nur das personelle Dilemma der SPD wider. Die Ursachen reichen tiefer. Die Sozialdemokraten können nicht mehr erklären, wofür sie stehen und was sie wollen. Sie beschwören ihre stolze Tradition als Partei der kleinen Leute. Doch der kleine Mann ist groß geworden, die traditionelle, nach Gewerkschaftskommando wählende Arbeiterschaft gibt es kaum noch, die alten Umverteilungs-Parolen erschrecken Facharbeiter, die bereits progressiv besteuert werden.
Der allerschlimmste Fehler: Die SPD weiß bis heute nicht, ob sie auf die „Agenda 2010“ und die Rentenreform von Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Walter Riester und Wolfgang Clement stolz sein soll oder sich schämen muss. Das Versäumnis von Gerhard Schröder, der eigenen Partei wie der eigenen Wählerschaft seine „Agenda“-Politik richtig zu erklären, wirkt bis heute nach. Während die SPD-Linke zusammen mit der Linkspartei die damaligen Veränderungen als neoliberales Teufelszeug verdammt, können Angela Merkel und die CDU/CSU die Reform-Dividende aus jener Zeit einstreichen.
Ein weiteres SPD-Dilemma: Regierungserfolge werden nun einmal dem Kanzler und der Kanzlerpartei gutgeschrieben – seit 2005 also Angela Merkel und der CDU/CSU. Zudem haben die Unionsparteien getan, was sie konnten, um die SPD klein zu machen – aber keineswegs durch eine stringente Ordnungspolitik oder eine nachhaltige Sozialpolitik, also durch bessere Konzepte. Nein, die Union hat einfach übernommen, was immer sich die SPD zur Volksbeglückung ausgedacht hat: gesetzlicher Mindestlohn, Mietpreisbremse, Rente mit 63, Frauenquote, die voll berufstätige Mutter als Leitbild. Die CSU wetteifert sogar mit der SPD darum, die wenigstens bis 2030 gesicherte Stabilität des Rentensystems durch Wahlgeschenke zu gefährden. Um wen oder was soll die „Kümmererpartei“ SPD sich da noch kümmern?
Linke + Union + Grüne = kein Platz für die SPD
Die „Sozialdemokratisierung“ der Union ist nur eines der Probleme der SPD. Noch schlimmer: Bei der Partei Die Linke hat es die SPD mit einem Wettbewerber zu tun, der im Kampf um die „sozialste“ Sozialpolitik immer erster Sieger bleiben wird. Ob Mindestlohn, Rentenhöhe oder Umverteilung – die Linke fordert stets mehr als die SPD. In der Sozialpolitik vertritt die ehemalige SED die SPD-Positionen aus den siebziger Jahren, als man noch glaubte, Wachstum entstehe automatisch und der Umfang der Verteilung sei eine Frage des guten Willens und nicht der Finanzierbarkeit.
Besonders schlimm wirken sich die Fehler in der Flüchtlingspolitik aus. Die SPD hat den Willkommens-Kurs der Kanzlerin zunächst begeistert mitgetragen und später als die CSU und Teil der CDU bemerkt, dass die anfängliche Euphorie in Bevölkerung und Medien längst in Skepsis und Angst vor den Folgen einer ungesteuerten Zuwanderung umgeschlagen ist. Als die AfD schon lange mit ihren ausländerfeindlichen Parolen tief in der sozialdemokratischen Wählerschaft wilderte, entdeckte die SPD, dass auch „Bio-Deutsche“ Interessen und Bedürfnisse haben. Plötzlich propagierte Gabriel eine massive Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus und andere Wohltaten, für die bisher kein Geld da war. Dass sich da viele Bürger fragen, ob vielleicht die Flüchtlinge das nunmehr doch vorhandene Geld mitgebracht hätten oder ob der Staat für „die“ mehr tue als für „uns“, liegt auf der Hand.
Die SPD hat es freilich nicht nur mit einer allen alles versprechenden Linken und einer rot-grün imprägnierten Union zu tun. In ihren einstigen großstädtischen Hochburgen und bei besserverdienenden Akademikern haben ihr vielfach die Grünen den Rang abgelaufen. Die stehen für einen gemäßigten Pazifismus, latenten Anti-Amerikanismus, für Gutmenschentum pur und Gendermainstreaming. Zudem haben die Grünen sich das uralte sozialdemokratische Thema der Umverteilung auf die Fahnen geschrieben.
Man kann wohl sagen: Die Luft wird dünn für die Sozialdemokraten. Die CDU/CSU bedient die Nachfrage nach einer ordentlichen Verwaltung und viel Sozialem – ohne große Ambitionen oder gar Visionen. Die Grünen sprechen die besserverdienenden Idealisten an, die von einer irgendwie besseren, sozialeren und friedlicheren Welt träumen – in der sie weiterhin zu den Privilegierten zählen. Die Linke beglückt die Umverteilungsfans und Radikal-Pazifisten, während die FDP den immer kleiner werdenden Rest der Marktwirtschaftler bedient. Für Wutbürger, Ausländerfeinde, Menschen mit Abstiegsängsten, Putin-Versteher, Völkische und Rechtsradikale bietet sich die AfD als Sammelbecken an.
Ist da überhaupt noch Platz für die SPD – und wenn ja, wo? Ralf Dahrendorf hatte schon vor dreißig Jahren das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts ausgerufen. Er könnte allmählich Recht bekommen.
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