Fritz Goergen sagt, Direktmandate "gehören" nicht den Parteien. Hugo Müller-Vogg sagt: Auch direkt gewählte Kandidaten hängen stets an den Rockschößen ihrer Partei.
Erika Steinbach, wird demnächst an einem „Katzentisch“ ganz hinten im Plenarsaal sitzen – als „Parteilose“, so wie einst der gescheiterte FDP-Politiker Jürgen Möllemann. Denn die überzeugte Konservative „hat fertig“ mit der CDU, in der sie ihre Karriere zu Zeiten Alfred Dreggers und Walter Wallmanns begonnen hatte. Nach 23 Jahren als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion ist sie nicht nur aus der Fraktion, sondern auch aus der Partei ausgetreten. Ihr Mandat will sie jedoch bis zum Ende der Legislaturperiode im Oktober/November behalten.
Die CDU hat, wie bei Parteiaustritten üblich, Steinbach aufgefordert, ihr Bundestagsmandat niederzulegen. Ihre Fans, die sich unter anderem auf Twitter und bei Facebook für sie stark machen, verweisen dagegen darauf, Steinbach habe ihr Mandat direkt gewonnen, verdanke es folglich – anders als über die Landesliste in den Bundestag gewählte Politiker – allein ihrem Zuspruch bei den Wählern, nicht jedoch ihrer Partei. Sie sei folglich ihren Wählern gegenüber verpflichtet, weiterhin im Bundestag zu sitzen.
Das alles trifft zu. Überdies haben Bundestagsabgeordnete nach Artikel 38, Absatz 1 eine sehr starke Stellung: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Niemand kann also ein Mitglied des Bundestags zwingen, sein Mandat niederzulegen. Nur: Das gilt für direkt gewählte MdBs genauso wie für über die Landeslisten ins Parlament eingezogene. Die Unabhängigkeit des Abgeordneten hängt also nicht von seinem Wahlergebnis ab.
Soweit die Theorie. In der Praxis haben Politiker, die ihren Wahlkreis direkt gewinnen, innerhalb ihrer Fraktion und Partei jedoch eine stärkere Position als „Listen-Abgeordnete“. Wer die Parteifreunde an der eigenen Basis hinter sich weiß und wer relativ sicher sein kann, dass er den Wahlkreis abermals direkt holt, kann innerhalb der Fraktion schon mal gegen den Stachel löcken. Eine Drohung der Fraktionsführung, man werde dafür sorgen, dass er oder sie keinen sicheren Listenplatz erhalte, verfängt da nicht.
Kommt es zum Bruch, dann stehen Parteien und Fraktionen ziemlich hilflos da. Im Schutz von Artikel 38 GG können abtrünnige Abgeordnete tun und lassen, was sie wollen. Folglich haben in der Vergangenheit fast alle MdBs, die ihre Partei verlassen haben oder zu einer anderen „übergelaufen“ sind, ihre Mandate behalten. Da konnten die „Verlassenen“ zetern, wie sie wollten.
Zurück zu den direkt gewählten Abgeordneten. So sehr sich direkt gewählte Kandidaten auch ihres Bekanntheitsgrads im Wahlkreis wie ihrer unermüdlichen Kleinarbeit „vor Ort“ rühmen mögen – der direkt gewählte Abgeordnete hängt stets an den Rockschößen seiner Partei. Schneidet die gut ab, kann er einen umkämpften Wahlkreis gewinnen, ist der Bundestrend gegen seine Partei, dann ist er oft auch das Direktmandat wieder los.
In der Regel ist der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnis bei den beiden großen Parteien überschaubar. Die CDU/CSU holte 2013 45,3 Prozent der Erst- und 41,5 Prozent der Zweitstimmen, eine Differenz von knapp 4 Prozentpunkten. Erika Steinbach lag in ihrem Frankfurter Wahlkreis mit 36,3 Prozent 2,4 Prozentpunkte vor den Zweitstimmen für die CDU, ein eher unterdurchschnittliches Ergebnis. Natürlich gibt es auch Ausnahmen: So holte Ulrich Kelber (SPD) 2013 den Wahlkreis Bonn mit 38,2 Prozent der Erststimmen, während seine Partei nur 25,9 Prozent bekam. Auch bei Wolfgang Bosbach (Rheinisch-Bergischer Kreis) war der Abstand zwischen Erst- und Zweitstimme überdurchschnittlich groß: 58,5 zu 43,7 Prozent.
Alle sorgsam gepflegten Klischees von der besonderen Attraktivität direkt gewählter Abgeordneter in den Augen der Wähler halten freilich einem Realitätstest nur bedingt stand. Das hat schon mancher Abgeordnete bitter zu spüren bekommen. So hatte Martin Hohmann (CDU) den Wahlkreis Fulda 2002 mit stolzen 54 Prozent gewonnen. Als er nach umstrittenen, als antisemitisch interpretierten Äußerungen aus der CDU ausgeschlossen worden war, kandidierte er 2005 als Unabhängiger – und scheiterte mit 21,5 Prozent gegenüber 39,1 Prozent für den neuen CDU-Kandidaten.
Noch schlechter erging es 2013 Siegfried Kauder, dem Bruder des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder. Der war von seiner Partei im baden-württembergischen Wahlkreis Schwarzwald-Baar nach internen Querelen nicht mehr nominiert worden. Also trat er als Einzelbewerber an. Sein Ergebnis: ganze 3,0 Prozent der Erststimmen. 2009 hatte Kauder den Wahlkreis für die CDU noch mit 47,4 Prozent gewonnen.
Ob ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete nach einem Parteiausstritt oder gar nach einem Parteiwechsel ihr Mandat behält oder nicht, ist eine Frage des Stils und des Anstands. Nur sollten auch direkt gewählte MdBs nicht glauben, ihr Name habe mehr Strahlkraft als der ihrer Partei. Ohne das Parteilogo auf dem Stimmzettel stehen selbst bisherige „Stimmenkönige“ plötzlich bettelarm da.
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