Alle Macht geht von Parteifunktionären aus

Die Mitglieder des Bundestags sind die Vertreter des Volkes. Doch sie bestimmen so gut wie nichts mit, jedenfalls die meisten von ihnen. Nicht einmal die Parlamentarier, deren Parteien sondieren.

© Carsten Koall/Getty Images

Knapp 47 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben bei der Bundestagswahl ihre Stimme abgegeben. Sie handelten ganz im Sinne des Artikels 20, Absatz 2 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Die 709 von den Wählern bestimmten Bundestagsabgeordneten waren alle von Parteien nominiert worden. Auch das entspricht der Verfassung: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ (Artikel 21). Soweit die Theorie.

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Und die Praxis? Die Mitglieder des Bundestags sind die Vertreter des Volkes. Doch derzeit bestimmen sie so gut wie nichts mit, jedenfalls die meisten von ihnen. Nicht einmal die Parlamentarier, deren Parteien sondieren, ob es vielleicht zu einer Koalition reichen könnte oder nicht, haben derzeit – von einigen wenigen Spitzenpolitikern abgesehen – etwas zu sagen. Der „normale“ Abgeordnete erfährt aus der Zeitung oder im Fernsehen, ob er künftig eher eine Regierung stützen oder gegen eine Regierung opponieren soll. Zu sagen haben diese Volks-„Vertreter“ nichts.

Irgendwie passt das Grundgesetz hinsichtlich der Staatsgewalt und der Parteien nicht so recht zur Realität – oder umgekehrt. Wollte man aus dem Sondierungs-Gerangel in Berlin einen neuen Verfassungsgrundsatz ableiten, dann müsste der so heißen: „Alle Staatsgewalt geht von Parteifunktionären aus. Deren Willen wird von frei gewählten Abgeordneten ratifiziert.“ Dass Abgeordnete nicht so einflussreich sind, wie sie das selbst gerne darstellen, ist nichts Neues. Aber noch nie waren sie so machtlos wie seit der Bundestagswahl 2017.

Dass es keinen Sinn macht, Gespräche über mögliche Koalitionen unter Beteiligung aller Abgeordneten der betroffenen Fraktionen zu führen, liegt auf der Hand. Wenn es ernst wird, haben immer einige wenige Spitzenpolitiker das Sagen. Was die ausgehandelt haben, müsste dann aber den Volksvertretern ihrer Parteien zur Billigung vorgelegt werden. Doch ob es zu „Jamaika“ gekommen wäre oder ob es zu einer neuen „GroKo“ kommen sollte, hängt nicht vom Votum der Abgeordneten ab. Das entscheiden letztlich Parteitage oder die Parteimitglieder in ihrer Gesamtheit. Was als Stärkung der innerparteilichen Demokratie gefeiert wird, bedeutet letztlich eine Schwächung der demokratisch gewählten Abgeordneten.

Was läge eigentlich näher, als dass die jeweiligen Fraktionen darüber befänden, ob sie die von ihren Partei- und Fraktionsführungen vereinbarten Verabredungen billigen oder nicht? Schließlich müssen die Abgeordneten in einer Koalition oder Kooperation umsetzen, was vorher ausgehandelt wurde. Aber weil angeblich alles auf die „Basis“ ankommt, sind die Parlamentarier im innerparteilichen Machtgefüge die Unwichtigsten.

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Die Verschiebung der politischen Macht von den Volksvertretern auf die Parteifunktionäre lässt sich derzeit am besten bei der SPD studieren. Dass die SPD-Oberen jetzt mit der Union überhaupt über Möglichkeiten der Zusammenarbeit reden dürfen, hat ein Parteitag beschlossen. Ob es auf der Basis erster Gespräche zu ernsthaften Koalitionsverhandlungen kommen kann, entscheidet wiederum ein Parteitag. Und sollten sich SPD und CDU/CSU auf einen unterschriftsreifen Koalitionsvertrag einigen, stünde ein Mitgliederentscheid an: das letzte Wort hat die vielzitierte Basis. Unter den rund 430.000 eingetragenen Genossinnen und Genossen sind auch die SPD-Volksvertreter. Ihre 153 Stimmen werden beim Mitgliederentscheid mitgezählt; besonderes Gewicht haben sie indes nicht.

Fünf Jahrzehnte nach der Hochzeit der Außerparlamentarischen Opposition mit ihrem Ruf nach einem „imperativen Mandat“ scheint der von der Partei gegängelte Abgeordnete zum Inbegriff demokratischer Willensbildung geworden zu sein: „Partei befiehl, wir folgen.“ Das ist freilich kein sozialdemokratisches Phänomen. Hätte über „Jamaika“ befunden werden müssen, hätten die Grünen und selbst die Lindner-FDP die „Basis“ zu den Urnen gerufen. Sogar die CDU hatte geplant, sich basisdemokratisch zu geben und sich die Zustimmung eines Parteitags einzuholen. Die Achtundsechziger haben auch bei den „etablierten“ Parteien ihre negativen Spuren hinterlassen.

Es ist ein seltsames Schauspiel. Wir werden von einer geschäftsführenden Regierung regiert, die sich bei wichtigen internationalen Entscheidungen enthalten muss. Das Parlament hat kein Arbeitsprogramm und entscheidet, was gerade anliegt, mit Zufallsmehrheit. Und über die künftige Regierung entscheiden Parteifunktionäre und von diesen beeinflusste Parteimitglieder. Die mögen durch innerparteiliche Wahlen und das pünktliche Überweisen von Mitgliedsbeiträgen legitimiert sein – vom Volk haben sie alle kein Mandat.

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Kommentare ( 37 )

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Evelyn Beatrice Hall
7 Jahre her

Als 1966 Ludwig Erhard in Bonn stürzte und Kurt-Georg Kiesinger, bis dahin Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kanzler einer Großen Koalition wurde, kam es auch in Baden-Württemberg während der Legislaturperiode zu einem Koalitionswechsel. Nach einer an Kabalen und Listen reichen Verhandlungsphase wurde Hans Filbinger Ministerpräsident einer Großen Koalition. Bei den Landtagswahlen 1968 stürzte die SPD dann ab (auf heute sagenhafte 29,0 % – alles ist relativ). Daraufhin beschloß eine Landesdelegiertenkonferenz, die Koalition mit der CDU nicht fortzusetzen. Die SPD-Fraktion im Landtag setzte sich jedoch über diese Votum hinweg und ging erneut eine Koalition mit der CDU ein. Wäre so etwas heute noch… Mehr

Reinhard Peda
7 Jahre her

Gegen die Macht von Parteifunktionären und sonstigen hilft nur, das alle Entscheidungen von den Parlamenten erst dann ihre wirksamkeit entfalten können, wenn die Bürger per einfacher Wahlmehrheit, diese bestätigen!

Alles andere HILFT nix!!!

Poco100
7 Jahre her

Zu Ihrer Überschrift Dr. Müller-Vogg würde ich noch ergänzen „….und die Ohnmacht vom Dt. Volk…“.

Hand Meier
7 Jahre her

Die Parteiführung bestimmt über die Rangfolge der Listenplätze. Diese mehr oder weniger sicheren Rangfolgen, durch die Zweitstimmen für eine Partei, sind eine Absicherung, trotz Abwahl mit der Erststimme, weiter Berufspolitiker sein zu können.
Exakt in dieser Gegebenheit, übt die Parteiführung sich und erzielt 100 % oder 10 Minuten stehenden Applaus durch eine Schar von funktionalen Höflingen der Monarchen, die sich eine Demokratie geschnappt haben.
Was in Ostdeutschland die SED war wurde in Gesamtdeutschland alternativlos und darum ist die Alternative für Deutschland der einzig Ziel-führende Weg.

Uwe Richter
7 Jahre her

„709 von den Wählern bestimmten Bundestagsabgeordneten“?
Nach meiner Kenntnis durften wir nur über 298 Mandate entscheiden.

Erich Honecker
7 Jahre her

Demokratischer Zentralismus hieß das früher bei uns. AM hat gut aufgepasst. Und braucht für ihren Machterhalt nicht einmal eine Stasi. Die Systemmedien übernehmen die Zersetzung des politischen Gegners. Ich bin so stolz.

Hippiemädchen 54
7 Jahre her

Abgeordnete sind überflüssig, wenn sie nicht frei nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden dürfen, sondern in das starre Korsett Fraktionszwang gesteckt werden.

Ein guter Ansatz finde ich, die Abgeordneten über die ausgehandelten Ergebnisse abstimmen zu lassen, sie, nur sie hat der Souverän, das deutsche Volk, gewählt.

Weil letztlich eine Entscheidung auch Konflikte bedeuten und jemand dafür seinen Kopf hinhalten müsste ist es einfacher wenn Verantwortung abgewälzt, die Basis als letzte Instanz beschworen werden soll.

Tubus
7 Jahre her

Was soll’s? Alle nicht direkt gewählte Abgeordnete sind doch sowieso nur über Liste bestimmte Parteisoldaten. Das ist in Ländern mit Mehrheitswahlrecht anders, wo die direkt Gewählten über mehr Unabhängigkeit und deshalb Einfluss verfügen. Nun sind aber auch die BT-Abgeordneten in der Regel in den Parteien gut vernetzt, z.B. mit dem Ergebnis, dass es mit großer Sicherheit keine Neuwahlen gibt, weil die Damen und Herren ihre gerade errungenen Pöstchen nicht riskieren möchten.

Querdenker
7 Jahre her

Möglicherweise ist das aktuelle (Gesetzgebungs-)Verfahren mit „Zufallsmehrheiten (nach ausgiebiger, sachlicher Diskussion) nicht das schlechteste Vorgehen für unser Land.
Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass die Parteien ohne Hemmungen von Fraktionszwang und -disziplin reden ohne dafür vom Verfassungsgericht gerügt zu werden oder vor demselben für diese Grundgesetzverletzung verklagt zu werden.

Jean Nicot
7 Jahre her

Woher weiss Müller-Vogg, dass die Abgeordneten mitreden und litbestimmen wollen ? Das sind doch alles Berufspolitiker mit befristetem Arbeitsvertrag. Der persönliche Wunsch der Abgeordneten liegt doch in einer möglichst langen Verweildauer in Amt und Würden, zwecks existenziellerAbsicherung. Das ALG2 bestimmt das Verhalten dieser Leute aber nicht der oft zitierte Volkswille.