Voraussichtlich eine Million Flüchtlinge allein in diesem Jahr - und es können noch mehr werden. Das stellt die Gesellschaft vor ungeheure Probleme - und wirft viele Fragen auf, die die Bundesregierung bislang unbeantwortet lässt.
Das gelobte Land heißt in der Bibel Kanaan, liegt an der südöstlichen Mittelmeerküste und war der Ort, an dem Milch und Honig flossen. So steht es jedenfalls im 2. Buch Mose. Anfang des 21. Jahrhunderts liegt das gelobte Land mitten in Europa, heißt Bundesrepublik Deutschland und ist das Ziel von unzähligen Menschen, die vor politischer, religiöser oder rassistischer Verfolgung, vor Krieg oder Hunger fliehen oder die sich bei uns ein besseres Leben versprechen.
Weil das so ist, werden in diesem Jahr nicht 200.000 Asylbewerber und Flüchtlinge zu uns kommen, auch nicht 800.000, wie noch vor drei Wochen geschätzt, sondern eher eine Million. Und nichts deutet darauf hin, dass der Zustrom in absehbarer Zeit abreißen wird. Das ist für Staat und Gesellschaft eine dreifache Herausforderung – eine humanitäre, finanzielle und integrationspolitische. Doch drängen sich viele Fragen auf:
1) Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am vergangenen Wochenende faktisch das Dublin-Abkommen außer Kraft gesetzt, um 20.000 Flüchtlingen aus Ungarn den Zugang nach Deutschland zu eröffnen. Das wurde als „einmalige“ humanitäre Aktion bezeichnet. Gleichwohl setzt sich der Zustrom von ungarischen Behörden nicht erfasster Flüchtlinge fort. Frage: Wie lange dauert „einmalig“?
2) In Ungarn haben Flüchtlinge sich geweigert, sich registrieren zu lassen. Sie wurden von der Bundesregierung durch einen Sondertransport nach Deutschland belohnt. Werden diese Zuwanderer ihre erste Deutschland-Lektion „Rechtsbruch lohnt sich“ wieder vergessen?
3) Wie würde die Bundesregierung reagieren, wenn ein paar Tausend Hartz IV-Empfänger bei 40 Grad Hitze vor einer Arbeitsagentur campierten, angebotene Getränke und Lebensmittel ausschlügen und vehement Zusatzleistungen forderten?
4) Gibt es ein Grundrecht von Schutzsuchenden, dass das europäische Land ihrer Wahl sie aufnehmen muss?
5) Würde Europa die Kraft haben, Flüchtlinge auch gegen ihren Willen in bestimmte Länder zu schicken, die aufgrund vereinbarter Quoten zu wenige aufgenommen haben?
6) Die Bundesregierung will künftig Wirtschaftsflüchtlinge ohne Aussicht auf ein Bleiberecht konsequent abschieben. Wie glaubwürdig ist diese Ankündigung, wenn bisher ständig gegen geltendes Abschiebe-Recht verstoßen wurde?
7) Gibt es rechtliche Möglichkeiten, gegen jenen Teil der „Anwalts-Industrie“ vorzugehen, der sich darauf spezialisiert hat, Abschiebeverfahren auf bis zu drei Jahre auszudehnen?
8) Von Politikern und in den Medien wird die Flüchtlingswelle überwiegend als Gewinn für Deutschland dargestellt – als Erweiterung des Fachkräfteangebots und unverzichtbarer Beitrag zur Bewältigung des demografischen Wandels. Müssten wir uns dann nicht aktiv um eine noch größere Zuwanderung von Kriegs- und Armutsflüchtlingen bemühen?
9) Immer wieder wird behauptet, die neuen Mitbürger würden auf dem Arbeitsmarkt dringend gebraucht und könnten, falls erforderlich, entsprechend geschult und fit gemacht werden. Warum rechnet Arbeitsministerin Andrea Nahles dann mit einer deutlichen Zunahme der Hartz IV-Empfänger?
10) Wenn die Formel „Flüchtling=Fachkraft“ stimmt, warum sollen dann zusätzlich Menschen vom Westbalkan einen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten?
11) Was spricht dafür, dass sich die Zuwanderer, die in so kurzer Zeit und so großer Zahl zu uns kommen, sich besser integrieren werden als all die Migranten, die bei uns in Parallelgesellschaften leben?
12) Wird der Zustrom von Menschen aus fremden Kulturen, davon sehr viele muslimischen Glaubens, die bereits existierenden Parallelgesellschaften vergrößern?
13) Wie werden sich die zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Integration so vieler Zuwanderer auf die politische Stimmung auswirken? In welchem Umfang werden rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien gestärkt?
14) Sechs Prozent aller Schulpflichtigen verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss und 15 Prozent der jungen Erwachsenen schaffen keinen Berufsabschluss. Was spricht dafür, dass unser Bildungssystem bei den jungen Zuwanderern mehr Erfolg hat?
15) Was bedeutet es für das Bildungssystem, wenn noch mehr deutsche Kinder in ihrer Klasse eine fremdsprachliche Minderheit sind?
16) 7,5 Millionen der erwerbsfähigen Deutschen sind funktionelle Analphabeten. Um wieviel Prozent wird diese Zahl durch Zuwanderung steigen?
17) In den städtischen Ballungsräumen gibt es zu wenige Wohnungen, die sich Durchschnittsverdiener leisten können. Was ist von Äußerungen wie der des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter zu halten, die Zuwanderung habe auf den ohnehin angespannten Wohnungsmarkt in der bayerischen Hauptstadt keine Auswirkung?
18) Länder und Kommunen verstoßen angesichts der Belastungen durch die Flüchtlinge derzeit faktisch gegen das Haushaltsrecht (was nicht zu kritisieren ist). Lassen sich diese finanziellen Belastungen ohne Steuererhöhungen ausgleichen? Und wo muss dann gespart werden?
19) Wie würden sich Steuererhöhungen wegen der Flüchtlingswelle auf die bewundernswerte Hilfsbereitschaft vieler Menschen auswirken?
20) Wären Steuererhöhungen, die mit den Flüchtlingen begründet werden, Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien?
21) Werden die rund 11.500 katholischen Pfarrgemeinden der Aufforderung des Papstes nachkommen, und jeweils „mindestens“ eine Flüchtlingsfamilie aufnehmen? Werden die Klöster und sonstigen kirchlichen Einrichtungen dies ebenfalls tun?
22) Werden die 14.800 evangelischen Kirchengemeinden dem (hoffentlich positiven) Beispiel der Katholiken folgen?
23) Kennt jemand gezielte Aktivitäten deutscher Moschee-Gemeinden zur Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen?
24) Vizekanzler Sigmar Gabriel hält die Aufnahme von Jahr für Jahr 500.000 Flüchtlingen für verkraftbar. Sind darin bereits die weiteren umfangreichen Zuzüge im Rahmen der Familienzusammenführung enthalten oder nicht?
25) Wird Deutschland nach einer Zuwanderung von mehreren Millionen überwiegend nicht-europäischer, muslimischer Menschen in den nächsten vier bis fünf Jahren ein „besseres“ Land sein? Und warum?
Zugegeben: Fragen, die sich auf die Zukunft beziehen, sind nicht leicht zu beantworten. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, die Politik verdränge derzeit vieles, weil die Antworten unbequem ausfallen könnten. Vielleicht täusche ich mich ja. Schön wär’s.
Bild: Greser & Lenz, aus der FAZ
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