Korporatismus – ein zunehmendes Übel

Deutschland hat zwei Arten von Wirtschaft. Eine reale, gelebt und geprägt von echten Unternehmern, die für unseren Wohlstand und die Steuereinnahmen verantwortlich ist. Und eine von Kommissionen, Räten, halbstaatlichen Organisationen und Verbänden.

Die wirklich wichtigen Dinge müssen immer wieder gesagt und wiederholt werden. Und dazu gehört auch immer wieder, klar zu machen, dass wir in Deutschland keinen reinen Kapitalismus und in bestimmten Teilen nicht mal mehr eine soziale Marktwirtschaft haben, sondern dass das Land immer mehr von korporatistischen Strukturen geprägt und dominiert wird, in denen geschlossene Runden und Kommissionen von Besitzstandswahrern sich zum eigenen Vorteil organisieren und Veränderung blockieren.

Das zu unser aller Nachteil, aber durchaus mit wohlgefälligem Nicken großer Teile der Bevölkerung, die in Mehrheit die wichtigen Unterschiede und Folgen der unterschiedlichen Ansätze, Wirtschaft zu organisieren, gar nicht überreisst.

Was Korporatismus ist und bedeutet

Was Korporatismus ist und was er bedeutet, habe ich schon vor einem Jahr in Korporatismus, Volkswagen und die Subventionen für die Autoindustrie  zu thematisieren versucht. Darüber hinaus kann ich nur erneut nachdrücklich empfehlen, diese ausgezeichnete und abwägende Darstellung des Korporatismus der Konrad-Adenauer-Stiftung zu lesen, der ich inhaltlich nichts hinzuzufügen habe. Aber ich will auch der Bundeszentrale für politische Bildung in einem älteren Artikel zum Korporatismus Raum geben, auch wenn mir der Artikel den Korporatismus zu einseitig positiv betrachtet.

Besonders schön ist aber abseits aller Theorie immer, wenn die Konsequenzen korporatistischer Interessenvermischung so wunderbar erlebbar zu Tage treten wie zuletzt. Die kapitalistischer Aufwallungen unverdächtige, gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, hat 2016 in einer Studie aufgearbeitet, wie viel deutsche Vorstände im Vergleich zu durchschnittlichen Mitarbeitern verdienen. Der absolute Spitzenreiter mit dem Faktor 141 ist dabei – Sie ahnen es – der nach bösen Zungen sozusagen „volkseigene Betrieb“ Volkswagen, der maßgeblich von Politik und Gewerkschaften beeinflusst wird wie kaum ein anderer Konzern Deutschlands. Vergleichbare, privatwirtschaftlich freiere Mitbewerber wie Daimler und BMW, haben deutlich geringere Werte. Gefolgt wird Volkswagen übrigens vom ehemaligen Staatskonzern Deutsche Post, was für eine Überraschung.

So viel zu den „segensreichen“ Wirkungen korporatistischer Strukturen, der Korporatismus der real existierenden bundesdeutschen Ausprägung, ist eben etwas harsch und überspitzt gesagt für mich persönlich die Organisation derer an den Fleischtöpfen, gegen die Interessen derer, die zu diesen Kungel-Runden keinen Zugang haben. Nun ist das ohne Frage übertrieben, der Korporatismus hat abstrakt seine sinnvollen Seiten und auch sinnvolle Beiträge zur Entwicklung des Landes geleistet, aber er beginnt zu sehr zu dominieren und da liegt das Problem.

Das Tragische dabei ist, dass die große Mehrheit der Bürger ja Korporatismus gar nicht definieren kann, weil ja immer nur platt das Etikett „Kapitalismus“ auf alle Fälle geklebt wird, in denen sich Individuen einen „goldenen Hintern“ verdienen können, der objektiv nicht zu rechtfertigen zu sein scheint. Auch das Gehalt des Ex-VW-Chefs Winterkorn wird so gerne als „Exzess des Kapitalismus“ verunglimpft, dabei fußt es nach meiner bescheidenen Meinung ja gerade nicht auf Wettbewerb, sondern auf korporatistischen Strukturen.

Der Korporatismus wirkt besitzstandswahrend und deckelt systemändernde Bestrebungen

Alles was mit „runden Tischen“ zu tun hat, ist für Otto Normalbürger halt irgendwie immer gut, weil damit das warme Gefühl von Konsens und „Händchenhalten“ verbreitet wird. Dass diese „runden Tische“ aber sehr oft zu unwirtschaftlichen Kompromissen zu Lasten nicht am Tisch sitzender Dritter neigen, wird nicht begriffen. Denn die Organisation in Koordinationsrunden, ist per Definitionem eine elitäre und exklusive, die andere Marktkräfte und Teilnehmer auszuschließen versucht und daher strukturell besitzstandswahrend und konservierend wirkt. Runde Tische sind selten gute Ordnungspolitik, und mit sozialer Marktwirtschaft haben sie bestenfalls am Rande zu tun. Die Durchlässigkeit für Aufsteiger und Paradigmenbrecher wird so auch nicht gefördert, sondern die korporatistische Tradition deckelt solche systemändernden Bestrebungen. In meinen Augen ist das einer der großen Webfehler der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte in Deutschland und bestimmt auch ein Grund, warum Firmen wie Tesla mit ihrer disruptiven Kraft bei uns gar nicht entstehen können.

Nun kenne ich an dieser Stelle natürlich sofort die Widerspruchs-Reflexe, die bei solchen Aussagen aufkommen. Gerne wird dann darauf verwiesen, dass die Sozialpartnerschaft doch ein Erfolgsmodell Deutschlands sei, soziale Marktwirtschaft eben, statt ungezügeltem Kapitalismus und dem reinen Recht des (wirtschaftlich) Stärkeren. Stimmt, das IST definitiv ein Erfolgsmodell. Der Widerspruch, der keiner ist, zeigt aber, dass von dem Argument gar nicht die Essenz des Korporatismus verstanden wird, weil die permanente, platte Demagogie, die jede Fehlentwicklung reflexartig und pauschal einem finsteren Bösewicht namens „Kapitalismus“ zuordnet, differenziertes Denken stark erschwert.

Die soziale Marktwirtschaft definiert ja gerade den Ausgleich unterschiedlicher Interessen

Die soziale Marktwirtschaft definiert ja gerade den Ausgleich unterschiedlicher Interessen, dafür müssen diese sich aber offen und klar gegenüberstehen, damit zwischen denen dann ebenso offen ein Kompromiss gefunden werden kann. Auf gut Deutsch, die Interessen von Unternehmens-Eignern und Gewerkschaften sind erst einmal klar getrennt und aus diesen klaren und definierbaren Gegensätzen heraus, erzeugt die soziale Marktwirtschaft dann einen Ausgleich. DAS war tatsächlich ein Erfolgsmodell.

Dieses Modell wurde aber zunehmend verbogen, was man an der paritätischen Mitbestimmung der Gewerkschaften in den Aufsichtsräten großer Konzerne wunderbar beobachten kann. Statt diesen natürlichen Gegensatz zwischen den Unternehmenseignern und den Beschäftigten herauszuarbeiten und dann offen miteinander zu versöhnen, wurden Gewerkschaften einfach 50% der Sitze in den Aufsichtsräten zugeordnet. Der natürliche Gegensatz wurde damit in die Unternehmensspitze verlagert und wird dort nun in kleinen Runden im Aufsichtsrat aussortiert. Wie zu erwarten war, hat das aber eher nicht zu besseren Aufsichtsratsentscheidungen geführt, sondern nur dazu, dass Entscheidungen im kleinen Kreis von Untergruppen wie dem „Präsidium“ ausgehandelt werden und dabei ganz natürlich auch das Konsens-Prinzip des „eine Hand wäscht die andere“ zum Tragen kommt, welches kleinen sozialen Gruppen eben nun einmal zu eigen ist.

Im durchschnittlichen Gemeinderat eines Dorfes ist es auch nicht anders. Was in Hinterzimmer und kleinen Kreisen aussortiert wird, ist per Definitionem nicht transparent. Anders als so, kann man die inhärente Blockierung einer 50% zu 50% Gegenüberstellung im Aufsichtsrat ja auch gar nicht systematisch auflösen, man könnte böse sagen, die Kungelei ist politisch gewollt. Alles was in Hinterzimmern und kleinen Ausschüssen und Kreisen weniger Mächtiger aussortiert wird, ist eben per Definitionem nicht transparent und auch nicht marktwirtschaftlich, sondern eher die Herrschaft weniger Privilegierter über die Mehrheit. Ein Umstand, den mittlerweile selbst gemeine Aufsichtsräte hinter der Hand als unerfreulich empfinden, wenn die wesentlichen Entscheidungen im „Präsidium“ vorbereitet werden und sie nur noch als Abstimm-Staffage dienen.

Die Wirtschaft hat gelernt, sich mit der paritätischen Mitbestimmung zu arrangieren, weil die Macht der Gewerkschaften in Deutschland zu groß ist, und sie werden keinen Vorstand mehr finden, der offen dagegen auftritt, weil es sinnlos ist und nur Ärger macht. Sie werden aber auch kaum einen Unternehmer finden, der daran Gutes findet, wenn hinter vorgehaltener Hand offen gesprochen wird. Dabei sollte übrigens die Besetzung von 50% der Sitze im Aufsichtsrat durch Gewerkschaften nicht mit dem Betriebsrat in einen Topf geworfen werfen. Letzterer macht Sinn und wirkt in der Regel positiv auf den Betriebsfrieden; in Aufsichtsräten haben Gewerkschaften dagegen nichts verloren, davon bin ich persönlich weiter fest überzeugt. Und wenn man dieses deutsche, korporatistische Sondermodell anderen Unternehmern aus fast jedem Land der Welt erklärt, schauen sie einen oft fassungslos und ungläubig an, als ob man von einem anderen Planeten kommt.

Auch wenn große Unternehmen von einer deutschen AG in eine europäische SE umfirmieren, spielt diese Thematik oft eine Rolle, auch wenn es aus politischer Korrektheit selten offen gesagt werden wird. So können Unternehmen knapp unterhalb der Grenze von 2.000 Beschäftigten in Deutschland nämlich durch SE-Umwandlung das Hineinwachsen in die paritätische Mitbestimmung vermeiden.

Der Vater der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, würde mit seinen Ansichten heute wohl als „Marktradikaler“ verunglimpft

Erneut, damit das klar ist: es geht bei meiner Argumentation nicht darum, einen Ausgleich zwischen den Interessen des Kapitals und der Arbeitnehmer zu verhindern, im Gegenteil. Diesen zu orchestrieren ist ungemein wichtig und der große Standortvorteil einer wahrlich sozialen Marktwirtschaft. Die Kernfrage ist aber, ob dieser Gegensatz im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft offen und transparent durch die Politik aufgelöst und ausgeglichen, oder im Sinne des Korporatismus in geschlossenen Runden mit gegenseitiger „Handwaschung“ gleich ausgetreten wird, ohne diesen Gegensatz je offen zu Tage treten zu lassen – außer eben „rituell“ kurz vor Wahlen. Genau diese „Handwaschung“, diese stillen Kompromisse, sind eine Kernfolge des Korporatismus, dieser Tendenz, alles in Kommissionen und halbstaatlichen Organisation aushandeln zu lassen, die strukturell besitzstandswahrend wirken. Die SPD liebt diese Kommissionen mit ihrem Habitus des Gemeinschaftlichen, die real existierende CDU ist aber auch nicht mehr viel besser.

Echte soziale Marktwirtschaft hat es zunehmend schwer, auch weil es schlicht an Bildung und Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge und damit die gesellschaftliche Unterstützung fehlt. Und der Vater dieser sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, würde mit seinen Ansichten heute wohl als „Marktradikaler“ verunglimpft und an den medialen Pranger gestellt – auch das sagt viel über die Entwicklung, die wir genommen haben. Eine Wirtschaft aber, in der Vitamin B, das Parteibuch, der Zugang zur Politik und die Zugehörigkeit zur richtigen Kommission zum entscheidenden Faktor wird, ist eine Wirtschaft, die erstarrt und ihre Wettbewerbskraft verliert.

Dass das in Deutschland derzeit noch nicht der Fall ist, liegt nicht an der real existierenden Politik, sondern primär an einer noch existierenden positiven Parallelwelt eines gesunden Mittelstands, der sich von diesem politisch-korporatistischen Zerrbild von Wirtschaft soweit fernhält, wie es nur irgendwie möglich ist. Wenn man so will, haben wir in Deutschland also zwei Arten von Wirtschaft. Eine reale, gelebt und geprägt von echten Unternehmertypen, die ganz wesentlich für unseren Wohlstand und die Steuereinnahmen verantwortlich ist. Und ein bei der Politik und großen Teilen der Bürger beliebtes Zerrbild von Wirtschaft, das aus Kommissionen, Räten, halbstaatlichen Organisationen und Verbänden beruht. Ein Zerrbild, das aber nicht begreifen kann, dass die eigenen Fleischtöpfe nur so lange gefüllt und warm bleiben, wie man denen, die die Fleischtöpfe füllen – den wahren Trägern des Wohlstands – nicht zu stark das Wasser abgräbt.

Mehr soziale Marktwirtschaft wagen und nicht mehr Kommissionen

Nehmen Sie also das Wort „Korporatismus“ bitte in Ihren Wortschatz auf. Wir haben davon schon viel zu viel im Land, auch wenn er in der richtigen Dosis hier und da ohne jede Frage mal sinnvoll sein kann. Nicht jede Kommission ist schlecht und auch ein runder Tisch kann in einzelnen (Konflikt-) Situationen durchaus wertvoll sein. Aber der institutionalisierte Hinterzimmer-Kompromiss ist schädlich – wie alles – was zu viel genossen – am Ende giftig wird. Und denken Sie jedes Mal an das Wort und seine Konsequenzen, wenn irgendwo wieder eine „Kommission“ initiiert wird, in die Politik den ureigenen Job verlagert. Das Motto der Zukunft müsste eben „mehr soziale Marktwirtschaft wagen“ lauten und nicht „mehr Kommissionen“.

Und es sollte auch „mehr Politik wagen“ lauten, denn eine Politik, die Entscheidungen, für die sie selber gewählt wurde, in Kommissionen verlagert, um ihnen den Anstrich der Objektivität zu geben, statt sich selber dafür zu exponieren, zeigt nur ihre eigene Entbehrlichkeit. Im Übrigen wird die politische Tendenz dann über die Auswahl der Kommissionsmitglieder sichergestellt, das Ergebnis ist absehbar, jeder glaube sozusagen nur dem „Gutachten“, das er selber bestellt hat.

Dem Bürger wurde aber Sand der „Objektivität“ in die Augen gestreut, wo stattdessen Besitzstände gewahrt und politische Interessen gesichert werden.

Ich habe leider wenig Hoffnung, dass sich das ändert, ohne dass wir einen „Reset“ auf sozusagen „Demokratie 2.0“ bekommen, der näher am partizipativen Modell der Schweiz ist. Die aus Steuergeldern finanzierten Frösche ohne gesellschaftliche Wertschöpfung werden ihren warmen Teich hart verteidigen. Womit wir auch bei dem strukturellen Problem dahinter sind, das der renommierte Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim in seinem lesenswerten Werk die Hebel der Macht hervorragend herausgearbeitet hat.

Ihr Michael Schulte (Hari)

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