Unser Eigenbild als rational und überlegt agierende „Krone der Schöpfung“ ist Illusion. Stärker als wir wahrhaben wollen, werden wir von unseren evolutionär erworbenen Instinkten, Reflexen, Trieben, Gefühlen und Verhaltensmustern beeinflusst.
Sie fragen sich schon lange, warum so viele ansonsten kluge und gebildete Menschen an der Börse scheitern und zuverlässig Verluste produzieren? Natürlich nicht Sie, schon klar, Gott bewahre! Sie stehen da natürlich darüber und machen immer hohe Gewinne oder halten sich nach tiefschürfenden, eigenen Feld-Studien fern, weil Sie beweisen können, dass das sowieso alles nur sinnlose Zockerei sei. Natürlich nicht Sie!
Aber die anderen natürlich, für die gilt das. Die, die im Gegensatz zu Ihnen einfach nicht „durchblicken“, wie die Märkte funktionieren. Die scheitern doch so oft und das ist doch erstaunlich, wo das doch so oft unzweideutig kluge Akademiker mit jeder Menge Lebenserfahrung und Rationalität sind. Und selbst wenn die keine Verluste machen, warum schneiden die so oft so viel schlechter ab als das, was man auch ohne Anstrengung bekommen könnte, wenn man einfach einen ETF auf einen Index kauft?
Ich werde Ihnen hier in diesem Artikel die Antwort liefern. Es wird aber eine Antwort sein, die vielen von Ihnen nicht gefallen wird. Und umso weniger Ihnen diese Antwort gefällt, weil Sie einem idealisierten Bild der eigenen Rationalität anhängen, desto schwerer werden Sie es auch in einem reflexiven Markt haben. Das zu erkennen und sich ehrlich im Spiegel zu betrachten erfordert Mut. Aber fangen wir mal langsam ganz von vorne an.
Der Grund schaut uns im Spiegel an
Nein, die Antwort warum so viele an der Börse nicht klar kommen, hat nichts mit bösen, dunklen Mächten zu tun. Auch nicht mit einer Verschwörung des „Groß-Kapitals“, das die Märkte ja sowieso nur manipulieren soll, der Rockefeller soll da ja auch noch herumspuken. Es hat auch nicht mit den Notenbanken zu tun. Und auch nicht damit, dass es unmöglich wäre, den Markt zu timen, weil dieser ja nur zufällig agieren würde – Sie wissen schon, Random Walk und solche Theorien, die typischerweise akademisch-mathematisch nett, aber ohne praktische Relevanz sind, weil empirisch widerlegt. Es gibt schon gute Gründe, warum Proprietary Trading Firms lieber Psychologen einstellen als Volkswirte und genau darum geht es hier im Artikel.
Nein, der Grund sind auch nicht all diese Entschuldigungen, die der kluge Fuchs formulieren kann, um zu begründen, warum ihm die zu hoch hängenden Trauben sowieso nicht schmecken oder gar nicht schmackhaft oder erreichbar wären. Der Grund für diese Schwierigkeiten schaut uns im Spiegel an, und die Ursache liegt hinter unserer hohen Stirn und dem Frontallappen. Der Grund ist unser „Affenhirn“.
Das Affenhirn als Metapher für unsere evolutionären Reflexe und Instinkte
Aber wir sind doch die „Krone der Schöpfung“, so unglaublich vernunftbegabt und rational. Und dann behaupte ich, wir hätten ein „Affenhirn“? Wir – also auch ich! Wie kann ich nur so ein „Nestbeschmutzer„ des Homo Sapiens sein?
Der Begriff ist natürlich provokant, er ist aber bei uns im Blog zu einem Klassiker geworden, der Artikel im Link ist von 2013 und immer noch treffend und auf die Gegenwart übertragbar. Denn der Begriff fasst provokant das zusammen, was unsere Handlungen viel stärker dominiert, als wir wahrhaben wollen. Es sind die uralten, evolutionär erworbenen Instinkte und Reflexe der Savanne in der Morgendämmerung der Menschheit – die Steuerung über Gefühle, Muster und Vorlieben, die unser Leben so sehr bestimmen. All das wird bei uns unter dem bewusst sarkastischen Begriff „Affenhirn“ zusammengefasst, weil wir uns darin nur wenig von unseren Vorfahren und heutigen Vettern unterscheiden. Den Unterschied macht dagegen unsere Ratio, das „sapiens“ in Homo Sapiens sozusagen, nur ist die viel dünner als wir glauben und hat bei der Handlungssteuerung nur begrenzten Einfluss.
Aus dem Leben mit einem Affenhirn
Das muss ich nun natürlich begründen. Am besten mit direkten Beispielen aus dem Leben mit einem Affenhirn. Leser aus Vertrieb oder Marketing werden das Folgende besonders leicht akzeptieren, weil das Ausnutzen dieser Schwächen ja gerade ihr Job ist. Menschen in „rationalen“ Berufen dagegen werden sich besonders schwer damit tun, das zu akzeptieren – wir nennen diesen Typus im Blog den „Gründler“, den Menschen, der Dingen auf den Grund gehen will und daher am Boden der rationalen Ursachen „gründelt“. Und wer das nicht nur lesen, sondern direkt aus meinem Mund hören will, kann das hier in einem aktuellen Interview mit Jens Rabe direkt tun.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch eine belebte Fußgängerstraße, betrachten gedankenverloren die Läden und vor Ihnen hören Sie plötzlich einen lauten Knall. Dann kommt Unruhe auf und Sie hören entfernte Schreie. Innerhalb einer Zehntel-Sekunde handeln Sie oder stehen erstarrt und lauschen und warten – um dann zu handeln. Beide Varianten sind keine rationalen, abwägenden Entscheidungen, auch wenn Sie sich das hinterher einbilden, es sind eingeübte Reflexe und Instinkte im Angesicht von Gefahr, die je nach konkreter Situation ausgelöst werden. Unser Affenhirn übernimmt halt, wenn es um Angst, Gefahr, Chancen und Risiken geht und dummerweise hat auch Börse viel mit Gier und Angst zu tun, wer ernsthaft an ihr unterwegs ist, hat das schon erlebt.
Fragen Sie einen Immobilien-Makler, der es gewohnt ist, Menschen etwas zu verkaufen. Der wird Ihnen sagen, dass viele seiner Kunden die Entscheidung für oder gegen eine Immobilie schon in den ersten 2 Minuten der Besichtigung getroffen haben. Tage später kommen dann viele „Gründe“, warum das so war. Diese „Gründe“ sind aber keine, es ist die nachträgliche Rationalisierung einer Entscheidung, die unser Bauch – unser „Affenhirn“ – schon lange getroffen hat. Jeder gute Vertriebler oder Werbetreibende kennt die entscheidenden ersten Minuten, die oft schon über Erfolg oder Misserfolg entscheiden und ist sich bewusst, dass unsere Entscheidungen umso irrationaler werden, je wichtiger die Entscheidung wird. Die Frage ob wir den Wein beim Aldi oder bei Lidl kaufen, können wir rationaler und objektiver entscheiden, als die Frage für welche Immobilie wir 1 Million ausgeben. Und natürlich sind wir alle fest davon überzeugt, dass es genau anders herum ist.
Behavioral Finance, Wahlkampf und Spieleindustrie
Ich könnte endlos so weiter machen, ich will diesen Beitrag aber nicht mit Beispielen füllen. Ich denke die beiden Beispiele genügen um klar zu machen, was ich meine. Ganze Industrien bauen darauf auf, dass wir mit unserem Affenhirn steuerbar sind, die sozialen Netze sind vorne mit dabei, die Werbeindustrie sowieso, ebenso wie der Wahlkampf der politischen Parteien, der ganz massiv mit den Gefühlen der Wähler spielt – das Gerede von den „Parteiprogrammen“ dient nur dazu, der emotionalen Botschaft eine rationale Fassade zu verleihen. Oder auch die Spieleindustrie, die eine Art Suchteffekt in Computer-Spiele einbaut, weil permanent das Belohnungssystem des „Affen in uns“ angesprochen wird, der dann eher „In-App-Käufe“ durchführt, um sich virtuelle Schwerter, Münzen oder was auch immer umsatzsteigernd ins Spiel zu legen.
Aber auch auf der wissenschaftlichen Seite ist das alles bekannt. Es gibt die „Behavioral Finance“, die sich genau mit unseren noch aus der Steinzeit stammenden Mechanismen im Kontext des Finanzmarktes beschäftigt. Und die Hirnforschung weiß es natürlich auch, ebenso wie die Verhaltensforschung. Ich habe hier einen lesenswerten Artikel von 2009 Ich fühle also bin ich, den ich Ihnen wirklich anempfehlen möchte, es erspart mir mehr Bespiele. Dieser Artikel beschreibt hervorragend, was ich oben mit dem „Affenhirn“ so plakativ auf den Punkt bringe.
Geh, wohin Dein Herz Dich trägt – nur nicht an der Börse
Und jetzt wird es ganz spannend. Denn im Artikel fasst Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, die Quintessenz aus 20 Jahren seiner Entscheidungsforschung so zusammen: Geh, wohin dein Herz dich trägt.
Und das ist ein guter Rat, für das normale Leben, für das uns die Evolution vorbereitet hat. Wenn ich als Mensch der Savanne einem Wasserloch ausweiche, an dem ich ein ganz mieses Baugefühl habe, weil ich da Krokodile darin befürchte, dann ist diese Angst eine wertvolle Angst, ein Reflex, den uns die Evolution aus gutem Grund eingepflanzt hat, denn nur die Menschen mit dieser Angst hatten später die Chance, sich fortzupflanzen. So können wir in vielen Teilen des Lebens feststellen, dass auf fundiertem Wissen und Lebenserfahrung beruhende Bauchentscheidungen „aus der Hüfte“, oft die Besten sind – besser als tagelang zu grübeln und zu rationalisieren.
Aber nicht so einfach an der Börse. Denn hier ist etwas ganz Entscheidendes anders. Der Markt ist ein selbstreferentielles, reflexives System, kurz der Markt *sind wir*. Dem Krokodil im Wasserloch ist egal, ob wir uns fürchten und einen Umweg machen oder nicht. Es wird deswegen nicht sein Verhalten ändern und so oder so da sein. Die Kurse an der Börse aber werden in diesem selbstreferentiellen System von uns gemacht und wenn wir Angst haben, haben auch andere Angst und wenn alle Angst haben, haben alle verkauft und Kurse können nur noch steigen – nicht fallen, steigen!
Die Entscheidung des Affenhirns ist an der Börse eine Herdenentscheidung
Die Entscheidungen, die uns unser Affenhirn im Lichte von Kursentwicklungen einflüstert, sind also typischerweise Herdenentscheidungen. Wenn wir Angst haben, haben wir Angst weil zum Beispiel die Medien den Weltuntergang beschwören, Banken wackeln und die große Krise durch das System läuft. Dann treiben uns unsere evolutionären Reflexe in Handlungen, wie oben in der Straße der Fußgängerzone. Dummerweise sehen andere Menschen aber die gleichen Nachrichten und haben die gleiche Angst und haben vielleicht schon früher reagiert. Genau deshalb beginnen Kurse immer genau dann zu steigen, wenn die letzten der „schwachen Hände“ verkauft haben.
Als unbedarfter Marktteilnehmer kann man fast glauben, dass uns der Markt über die Schultern schaut und immer sofort genau das Gegenteil macht von dem, wozu wir uns gerade durchgerungen haben. Und das ist auch so, denn das Problem liegt im „durchgerungen“, denn wenn wir das haben, haben es andere „Affen“ auch. Klar, die Geschichte von der Manipulation des „untoten“ Herrn Rockefeller ist dabei für das Ego einfacher, weil es uns von Schuld entlastet, der Blick ins Spiegelbild ist dagegen hilfreicher und hat mehr mit der echten Ursache zu tun, wenn man dafür den Mut und innere Reife besitzt.
Deshalb scheitern wir
Genau deshalb scheitern so viele an der Börse, die ansonsten gebildete und erfolgreiche Menschen sind. Börse ist keine Frage von wahr oder falsch, der man durch „gründeln“ – durch die Suche nach absoluten Wahrheiten – näher treten kann.
Börse ist ein Pudding, den man an die Wand zu nageln versucht, weswegen es mehr Sinn macht, dem zu folgen, was real passiert, als klüger als der Markt sein zu wollen.
Das Harte an der Börse ist, dass sie uns jeden Tag und schon am Folgetag der Entscheidung, gnadenlos und unbestechlich das Ergebnis unserer Entscheidung vor Augen führt. Der Interessent der Millionen-Immobilie, der die irrationale Entscheidung innerhalb der ersten 2 Minuten traf das Schnäppchen nicht zu kaufen, weil ihm eine Nebensächlichkeit nicht gefallen hat, hat diesen Realitätscheck nicht. Und das obwohl auch eine Immobilie und jede andere Anlageform faktisch jeden Tag im Wert fluktuiert, es wird nur nicht gemessen. Der Immobilieninteressent wird seine Fehlentscheidung einfach verdrängen und vergessen oder sich in seiner nachträglichen Rationalisierung mit dem Partner immer wieder wohlgefällig bestärken nach dem Motto „das haben wir doch richtig gemacht, oder?“. Es ist ja keiner da, der das Gegenteil beweist.
Die Fehlentscheidung an der Börse dagegen wird einem sofort, gnadenlos und objektiv unter die Nase gerieben. Jeden lieben Tag. Damit hat das Ego eine Menge Stress und trifft Folgeentscheidungen, die oft erneut mit Wohlfühlen zu tun haben und ein vorhandenes Problem noch verschlimmern. Wer kennt nicht den Reflex, einen Kauf, der schnell unter Wasser gerät, also ins Minus fällt, dann zum „langfristigen Investment“ umzuwidmen, weil man sich den Fehler nicht eingestehen will?
Der Weg zum Erfolg führt über den mutigen Blick in den Spiegel
Genau das, was Börsenhandel so schwierig macht, macht ihn aber auch zu einem der stärksten Sparringspartner, an denen man wachsen kann. Wo findet man denn sonst auch einen Sparringspartner, der jeden – auch den kleinsten – Fehler uns sofort unter die Nase reibt? Denn dieses tägliche gnadenlose Feedback zwingt uns, uns unserem Spiegelbild zu stellen – oder wir scheitern. Und wenn man das kann, wächst man in seiner Entscheidungskompetenz, Rationalität und Gelassenheit über das reine Marktgeschehen hinaus und nimmt für das Leben eine Menge mit. Denn die Mechanismen, die da in uns aktiv sind, finden wir ja permanent und überall in Entscheidungssituationen in unserem Leben vor – auch bei Immobilien eben. Wir sind uns dessen nur fast nie bewusst.
Erfolgreiche Börsianer betrachten dieses gnadenlose Feedback über den Kurs also nicht als Feind und fürchten sich nicht davor. Im Gegenteil, sie stellen sich dem und wachsen und beginnen so immer mehr und mehr Entscheidungen zu treffen, in denen sie nicht mehr von der Situation getrieben sind, sondern proaktiv zu handeln lernen und gerade die emotional schwierigen Schritte zu gehen lernen, die so oft am profitabelsten sind – weil eben die anderen sie (noch) nicht gehen können.
The Market is a harsh Mistress
Das ist aber ohne Frage nur etwas für eine Minderheit und das kann auch gar nicht anders sein. Denn in einem selbstreferentiellen Markt gehört zu jedem der gewinnt auch jemand der verliert. Den Einen kann es ohne den Anderen nicht geben.
Man muss sich ohne Frage nicht mit Börse im Leben beschäftigen, Geldanlage kann man auch rein passiv gestalten, wenn man dafür die ruhige Hand hat und Dritten vertraut – was allerdings leichter als guter Vorsatz zum Jahreswechsel angekündigt ist, als dann in der Krise real durchgehalten.
Wenn man es aber tut, wenn man an der Börse mitmischen und zu den Gewinnern gehören will, dann sollte man sich auch die Grundlagen aneignen und zu denen gehört noch vor Techniken zentral der Blick in den Spiegel – der Blick auf das Affenhirn in uns. Nicht nur Wirtschaft besteht eben zu 50% aus Psychologie, auch die Börse – zumindest für uns biologische Wesen. Die Algos dagegen sind teilweise darauf programmiert, genau diese psychologischen Mechanismen abzuschöpfen. Ein Grund mehr, sich dem eigenen Spiegel zu stellen. Mit dem Wunsch sich immer toll zu finden und wohl zu fühlen, ist dieser Anspruch aber nicht kompatibel. Das Erlernen von Demut vor etwas Unkontrollierbarem kann aber für das weitere Leben eine hilfreiche Erfahrung sein.
Es gibt dazu im englischen den schönen Sinnspruch „The Market is a harsh Mistress“, dem ich nichts hinzuzufügen habe. Genau deshalb mögen alle den freien Markt nicht, die Macht oder Zustände zementieren wollen oder Angst vor Veränderung haben. Und genau deshalb tut sich unser Affenhirn damit so schwer, das von der Evolution für richtige Entscheidungen in einer lokalen Umgebung wie der Savanne konzipiert wurde und nicht für den Umgang mit dem abstrakten, weltweiten Geschehen in selbstreferentiellen Systemen. Und genau deshalb kann es so herausfordernd und spannend sein.
Ihr Michael Schulte (Hari)
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Irgendwas muss man ja mit einem zuviel an Geld anfangen, oder?
Besonders die, die zu hohen Kursen Aktien verkauft haben.
Was machen die, die zu niedrigen Kursen verkauft haben?
Tipp: Warren Buffet kann es besser.
Und fast alle Aktien immer fast gleichzeitig, Genau!