Die Geschichte der Mobilität, von Pferd und Segelschiff bis zu Eisenbahn, Auto oder Flugzeug ist auch die Geschichte der Verkürzung zeitlicher Distanzen. Mit dem Raketenflugzeug steht die zwangsläufige Fortsetzung dieser Entwicklung bevor, wie der dritte Teil unserer Serie zur Zukunft der Mobilität beschreibt.
Einer der grundlegenden Fehler, den viele Kommentatoren des technischen Fortschrittes begehen, ist die Gleichsetzung von Invention und Innovation. Die Invention, die Erfindung, ist die mitunter in Form eines Demonstrators realisierte Idee eines neuartigen technischen Systems. Sie entsteht in den Köpfen von Einzelerfindern, in Forschungseinrichtungen und manchmal auch in Unternehmen. Sie ist meist egoistisch, das heißt auf die Bedarfe des Entwicklers selbst bezogen (und seien diese auch nur Ruhm und Ehre), und wird häufig als Problemlösung vermarktet. Der Löwenanteil der staatlichen Forschungs- und Entwicklungsförderung in Deutschland dient der Generierung von Inventionen. Nahezu alle in der Thematik tätigen Politiker hängen der Überzeugung an, es führe ein nicht näher bekannter Automatismus von der Invention zur Innovation. Wer also seine Mittel auf erstere konzentriert, erhalte zwangsläufig letztere. Nichts könnte falscher sein.
Invention ist nicht gleich Innovation
Eine Innovation ist ein Produkt, ist etwas, das man kaufen kann. Sie richtet sich an einen Kunden und dient daher nicht dem Erkenntnisgewinn oder der Behebung von Schwierigkeiten, die außer dem Erfinder keiner hat oder erkennt. Innovationen lösen keine Probleme, sie schaffen neue Möglichkeiten. Sie entstehen ausschließlich in Unternehmen mit dem Ziel, Geld zu verdienen und Gewinne zu generieren. Und zwischen der Invention und der Innovation gibt es keine direkte räumliche oder zeitliche Verbindung. Manch ein Produkt entsteht völlig ohne erfinderische Tätigkeit, sondern schlicht durch die Rekombination des bereits Vorhandenen, das mitunter ganz anderen Zwecken diente als das neue System. Viele Inventionen gelangen nie an den Markt, viele weitere benötigen dafür Jahrzehnte, weil die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen technischer und organisatorischer Natur schlicht fehlen.
Denn während die Invention allein auf dem technischen Spezialwissen von Individuen beruht, ist die Innovation das Ergebnis des Zusammenwirkens einer Laienspielschar. Sie bedarf zwar auch eines Konstrukteurs, aber ebenso wichtig ist der Unternehmer, der den Markt kennt und die Kunden einschätzen kann. Hinzu treten mindestens noch der Investor, der die notwendigen Mittel für Produktionseinrichtungen und Vertrieb beisteuert, und der Pionierkunde, der schon auf ein bloßes Nutzenversprechen hin seine Kaufabsicht garantiert. Und da alle diese Menschen in der Regel nicht in einer Person zusammenfallen, geschweige denn, sich jemals zufällig begegnen, ist noch ein Netzwerker erforderlich, der sie zu einem geeigneten Zeitpunkt zusammenführt.
Erasmus Darwin, der Großvater Charles Darwins, kann als ein solcher angesehen werden. Er gründete in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England die Lunar Society, in der sich führende Intellektuelle aus Wissenschaft und Kultur und bedeutende Industrielle der damaligen Zeit regelmäßig begegneten. Da traf dann der Instrumentenbauer John Whitehurst auf die Stahlmagnaten Matthew Boultonund John Wilkinson, auf den Porzellanfabrikanten Josiah Wedgwood und den jungen schottischen Ingenieur James Watt. Whitehursts Thermometer zur Temperaturbestimmung bei flüssigen Metallen gestatteten dem auch als Investor agierenden Boulton, den Stahl zu produzieren, der für Watts neuartige Dampfmaschine benötigt wurde. Wilkinson lieferte mit einem von ihm entwickelten Verfahren gebohrte Zylinder zu und Wedgwood wurde zu einem der ersten Kunden des neuen Unternehmens Boulton& Watt. Der Rest ist Geschichte.
Zwischen Invention und Innovation liegt oft viel Zeit
Wann immer sich eine solche Konstellation in der Vergangenheit ergab, wurde die Welt neu erfunden. Was natürlich die Zeitgenossen niemals direkt bemerkten. Umwälzungen geschehen langsam, wirkmächtige Innovationen dümpeln oft viele Jahre unterhalb der Wahrnehmungsschwelle in Nischenmärkten vor sich hin, bis sie scheinbar plötzlich und ohne Vorwarnung in den Alltag vieler einbrechen. Zwischen Newcomens Dampfmaschine von 1712 und dem Aufkommen von Eisenbahn und Dampfschiff vergingen mehr als einhundert Jahre. Nicolaus Otto präsentierte seinen Motor auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1867, Henry Fords „Model T“ kam 1908 auf den Markt und von einer wirklichen Massenmotorisierung kann in vielen Ländern erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede sein. Rudolf Diesel realisierte 1893 seine Maschine, es dauerte siebzig Jahre, bis sie in Schiffen, Eisenbahnen und Lastkraftwagen zum Rückgrat der Globalisierung wurde. Frank Whittle und Hans Joachim Pabst von Ohain erdachten in den 1930er Jahren die Flugzeugturbine. Zum Massenverkehrsmittel entwickelten sich Strahlflugzeuge aber erst in den 1970ern. Das Raketentriebwerk schließlich ist eine Invention des Zweiten Weltkrieges. Nutzen können es normale Bürger bis heute nicht. Das wird sich ändern. Bald.
Denn ein der Lunar Society vergleichbarer Attraktor bildete sich kurz vor der Jahrtausendwende heraus. Einmal mehr wurden konvergierende technische Trends von Menschen mit den Möglichkeiten erkannt, diese auch zu nutzen. Einen Startpunkt stellte der Abend im Januar 1996 dar, an dem sich der Raumfahrtingenieur Peter Diamandis und der ebenfalls im Raumfahrtgeschäft tätige Jurist Gregg MaryniakimRacquet Club in St. Louis zum Essen trafen. Diese Begegnung gilt als die Geburtsstunde der X-Prize-Foundation, deren erste Ausschreibung die private Raumfahrt betraf. Wem es ohne staatliche Unterstützung gelingen würde, bis zum ersten Januar des Jahres 2005 innerhalb von zwei Wochen mit demselben Gefährt suborbital an die Grenze zwischen Erde und Weltraum vorzustoßen, der sollte ein Preisgeld von 10 Millionen Dollar erhalten. Schnell konnten Diamandis und Maryniak ein Netzwerk von über hundert Unterstützern und Geldgebern aus Wirtschaft und Wissenschaft gründen. Eine Großspende der Internetunternehmerin und Weltraumtouristin Anousheh Ansari führte schließlich zur endgültigen Benennung des Preises als Ansari-X-Prize. Rund um die Welt nahmen 26 Teams das Rennen auf, von denen die meisten keine Erfolge verzeichneten und längst vergessen sind. Aber die Herausforderung hatte das Interesse des Flugzeugkonstrukteurs Burt Rutan geweckt. Sein Konzept, das er mit seinem Unternehmen Scaled Composites realisierte, brachte ihm nicht nur den Sieg ein, es begeisterte auch den britischen Multi-Unternehmer Richard Branson. Wie weiland Darwin hatte ein Netzwerker (Diamandis) einen Ingenieur (Rutan) und einen investierenden Unternehmer (Branson) zusammengebracht, um etwas Umwälzendes zu erschaffen: das Raketenflugzeug.
Das Raketenflugzeug
Am 29. September und am 4. Oktober des Jahres 2004 startete Scaled Composites SpaceShipOne zu seinen beiden historischen Flügen, die den Sieg im Wettbewerb bedeuteten. Es wurde dabei zunächst von dem strahlgetriebenen Doppelrumpf-Flugzeug White Knight in eine Höhe von 15 Kilometern transportiert. Dort klinkte es aus und zündete den Raketenantrieb. Einer Beschleunigungsphase von etwas mehr als einer Minute folgte ein ballistischer Flug bis an den Rand der Atmosphäre, bevor es nach dreißig Minuten wieder sicher landete.
Ebenfalls im Jahr 2004 gründeten Rutan und Branson die Firma Virgin Galactic, die als Teil der Virgin Group die Vermarktung des Systems übernimmt. Eine Tochterfirma Virgin Galactics, The Spaceship Company TSC, ist seit 2005 für den Bau der Fluggeräte verantwortlich. Das erste ausgelieferte Raketenflugzeug mit dem Eigennamen Enterprise stürzte bei einem Testflug am 31.10.2014 ab, nur einer der beiden Piloten konnte sich retten. Das zweite Raketenflugzeug, die Unity, wurde am 19.2.2016 der Öffentlichkeit vorgestellt. Seine Flugerprobung soll noch in diesem Jahr beginnen.
Alles nicht wirklich neu? Stimmt– aber nur im Prinzip. Beginnend mit Eugen Sängers Plänen aus den 1930er Jahren hat das Raketenflugzeug eine lange Geschichte. Man denke an die Heinkel He 176, die erfolgreich am 20. Juni 1939 erprobt wurde, oder auch an die MesserschmittMe 163 („Komet“), die am 2. Oktober 1941 erstmals eine Geschwindigkeit von über 1.000 km/h erreichte. Nach 1945 griffen Amerikaner und Russen das Thema auf und bauten einige weitere Einzelstücke, die der Erzielung von Geschwindigkeitsrekorden und der Erprobung der aerodynamischen Gestaltung von Überschallflugzeugen dienten. Sängers Ideen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zwar weiterverfolgt (durch die Firma Junkers bis 1974, durch die Firma MBB bis 1995, durch die ESA unter dem Projektnamen HOTOL ab 1984) aber letztendlich zugunsten der Entwicklung der Ariane 5 aufgegeben. Alle diese Vorhaben vereint eine Gemeinsamkeit: Sie waren Inventionen und übten deswegen keinerlei Effekte aus.
Richard Branson dagegen treibt unbeirrt eine Innovation voran. Basierend auf den Erfahrungen, die über Jahrzehnte mit Raketenantrieben gesammelt wurden, basierend auf technischen Fortschritten aus anderen Bereichen (Materialien, elektronische Steuerungssysteme undadditive Fertigungsverfahren seien beispielhaft angeführt) eröffnet das Raketenflugzeug nun völlig neue Optionen. Wobei es klug ist, in kleinen evolutionären Schritten vorzugehen und zunächst die Nischen zu bedienen.
Chemische Raketenmotoren
Kein anderes Antriebssystem entwickelt Schubkräfte wie chemische Raketenmotoren. Mit ihnen allein können Fahrzeuge auf Geschwindigkeiten beschleunigt werden, die den Vorstoß in den Weltraum ermöglichen. Die Mitführung von Treibstoff und Oxidator gestattet zudem den Betrieb in den dünnen Luftschichten der Hochatmosphäre oder im Vakuum. Durch die Integration von Raketentriebwerken in ein aerodynamisch steuerbares Flugzeug entsteht ein vollständig wiederverwendbares Trägersystem, das die Kosten für Transporte ins All gegenüber konventionellen Raketen entscheidend reduziert. Es ist ja gar nicht erforderlich, wie beim Space Shuttle zusätzliche Booster einzusetzen, um Umlaufbahnen in dreihundert oder vierhundert Kilometern Entfernung von der Erde zu erreichen. Es ist auch nicht erforderlich, größere Massen in weit höhere geostationäre Orbits zu transportieren oder gar zu Mond oder Mars vorzustoßen. Einhundert Kilometer genügen völlig für …
- … zahlungskräftige Weltraumtouristen, die damit nicht nur die definitorisch gezogene Grenze zwischen Erdatmosphäre und Weltall erreichen, sondern auch den Anblick der gekrümmten Erdoberfläche vor einem schwarzen Himmel genießen.
- … die Durchführung von Experimenten in der Schwerelosigkeit, die einerseits dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, andererseits aber auch dem Test von Raumfahrttechnologien dienen. Wobei diese dann auch Weltraumbedingungen hinsichtlich der Temperatur und der Strahlung ausgesetzt und die Versuchsanordnungen sehr viel flexibler als bei Höhenforschungsraketen gestaltet werden können.
- … den Transport von Kleinsatelliten in niedrige Erdumlaufbahnen. Diese würden nach der Aussetzung am Gipfelpunkt der Flugbahn mittels eines eigenen Antriebs oder an der Spitze einer kleinen Höhenforschungsrakete ihre endgültige Position erreichen.
Auf das letztgenannte Geschäft ist Branson besonders scharf. Deswegen hat er sich der „One Web“-Initiative angeschlossen. Mit dieser plant ein Industriekonsortium eine Konstellation von 648 Satelliten in niedrigen polaren Umlaufbahnen, um einen Hochgeschwindigkeits-Internetzugang an jedem Punkt der Welt jederzeit zur Verfügung zu stellen. Aufbau und Betrieb dieser Infrastruktur – man denke an den Ersatz ausgefallener Orbiter – erfordern natürlich eine Unmenge an Transporten. Neben den Kosten befördert auch die für solche Projekte erforderliche Flexibilität den Einsatz von Raketenflugzeugen, die mehrmals täglich ohne lange Vorbereitungsphase starten können.
Diese Marktperspektiven locken natürlich Wettbewerber an. Rocketplane Global, ebenfalls aus dem Ansari-X-Prize hervorgegangen, plant ein Vehikel, das sowohl über Düsentriebwerke, wie auch über einen Raketenmotor verfügt. Ähnlich wie bei Virgin Galactic gelangt man luftatmend auf zehn Kilometer Höhe, wo der Raketenantrieb nicht mehr so stark gegen den Außendruck arbeiten muss wie am Boden und seine Geräuschentwicklung irrelevant wird. Denn Zündung und Überschnallknall können über unbewohntem Gelände stattfinden, über einer Wüste oder über einem Meer, wo sie niemanden stören. Das Sabre-Triebwerk des englischen Unternehmens ReactionEngines vereint zu diesem Zweck gleich beide Antriebskonzepte in einer Einheit. Nur XCor, die neben Virgin Galactic als einzige bereits Hardware geflogen haben, möchte seinen Lynx direkt raketengetrieben starten.
Man könnte sagen, Satellitenkonstellationen wie die von One Web seien eigentlich nur mit solchen Trägern realisierbar. Man könnte auch auf weitere indirekte Folgen des Raketenflugzeuges verweisen. Denn die wohlhabenden Weltraumtouristen, die dem Vernehmen nach sowohl bei Virgin Galactic, als auch bei XCor schon Tickets gegen substantielle Anzahlungen erworben haben, werden bemerken, wie nah das All eigentlich ist. Nur wenige Flugminuten genügen, es zu erreichen. Das mag unternehmerisch denkende Passagiere auf neue Ideen zur Nutzung des erdnahen Weltraums bringen. Aber dies alles verdeutlicht noch nicht den wirklichen Coup, den die Bransons dieser Tage im Hinterkopf haben.
Um Faktor fünf oder mehr schneller
Die wahre Magie des Raketenflugzeuges liegt darin, nicht dort wieder landen zu müssen, wo es gestartet ist. Sein Antrieb arbeitet nur für zwei oder drei Minuten, denn eine Beschleunigung mit drei G überdiesen kurzen Zeitraum genügt völlig, um auf Geschwindigkeiten zwischen 5.000 und 10.000 Stundenkilometern zu kommen. Mit dem dreifachen seines Körpergewichtes in einen bequemen Sitz gedrückt zu werden, wird menschliche Passagiere nicht über Gebühr beanspruchen. Zumal der Rest des Fluges weitgehend antriebslos erfolgt – mit Newtonscher Physik am Steuer. Nach dem Wiedereintritt in tiefere Luftschichten gleitet das Raketenflugzeug wie ein Segelflieger zum Ziel. Man erreicht auf diese Weise in guten zwei Stunden die andere Seite des Planeten. Natürlich hat man dafür rund fünfzig Tonnen Material durch die Düse gejagt, um mit den gegenwärtig geplanten Fluggeräten sechs bis acht Passagiere zu befördern. Die Effizienz eines Linienfliegers, der zwischen Frankfurt und New York hundertfünfzig bis zweihundert Tonnen für hunderte an Fluggästen verbraucht, erzielen kleine Raketenflugzeuge natürlich nicht. Aber bei größeren Exemplaren sieht die Rechnung schon anders aus. Weil sie sich in der Hochatmosphäre bewegen, einem heute noch ungenutzten Verkehrsraum mit sehr geringem Luftwiderstand.
Für diese Vision wollen Branson und Co. in den beschriebenen Nischen zunächst Kapital einsammeln und ihre Technologie erproben und verbessern. Bis dann Raketenflugzeuge die zeitlichen Entfernungen zwischen den großen Wirtschaftsräumen dieser Erde um einen Faktor fünf oder mehr reduzieren. Das wird etwas verändern. Das kann viel verändern.
Bisherige Folgen der Serie:
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