Wie immer: Deutschland ist auch coronapolitisch auf dem Sonder- und Holzweg

Während Deutschland sich ein strenges Lockdown-Korsett anlegt, lockern fast alle Nachbarländer die Maßnahmen und sprechen von Freiheit. Deutschland isoliert sich mal wieder in der fatalen Sonderrolle des rigorosen Musterschülers. Zu seinem Schaden.

IMAGO / photonews.at
Schild an einem Testzentrum in Wien

Während Deutschlands Parlamente mit der Bundesnotbremse einheitlich die Corona-Zügel anziehen, lockern um uns herum die meisten europäischen Länder gerade jetzt ihre Corona-Beschränkungen – auch mit noch höheren Infektionszahlen. Sie lockern nicht nur, sondern planen teilweise die Rückkehr zur völligen Freiheit. Und zwar nicht nur das dank EU-Austritt weit schneller durchgeimpfte Großbritannien und das von Beginn an lockdown-lose Schweden, sondern zum Beispiel auch Österreich. „Die Freiheit ist zum Greifen nah“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz am Dienstag im ORF.

Frankreich ist noch in einem relativ harten Lockdown. Franzosen dürfen sich von ihrer Wohnung ohne triftigen Grund nicht mehr als zehn Kilometer entfernen und abends gar nicht. Kitas und Schulen, Geschäfte und Gastronomie sind bis zum 26. April geschlossen. Aber Gesundheitsminister Olivier Véran und Präsident Emmanuel Macron haben für den Mai Öffnungen in Aussicht gestellt. Die Inzidenz ist dort fast doppelt so hoch wie in Deutschland.

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Italiens Premierminister Mario Draghi verkündete am Freitag Lockerungen: In Regionen mit niedrigeren Infektionszahlen wird die Ausgangssperre abgeschafft, Schulen öffnen und Restaurants und Bars dürfen ihre Gäste draußen bewirten. Draghi: „Es ist möglich mit vorsichtigem Optimismus und Vertrauen in die Zukunft zu schauen.“ Auch in der Schweiz sind seit Montag Außengastronomie, Kinos und Fitnessstudios wieder geöffnet. Der niederländische Premier Mark Rutte verkündete am Dienstag weitreichende Lockerungen noch in diesem Monat. „Die Gesellschaft sehnt sich nach Freiheit“, sagte er. Am 28. April wird die umstrittene Ausgangssperre abgeschafft, die drei Monate in Kraft war. Die Außengastronomie darf wieder öffnen und der Einzelhandel Kunden auch ohne Termin bedienen. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist dort fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Auch In Dänemark dürfen Shoppingmalls und Außengastronomie seit Mittwoch öffnen. Premierministerin Mette Frederiksen hat für Ende Mai weitreichende Öffnungen angekündigt: Für geimpfte und negativ getestete Personen entfallen alle Beschränkungen. Auch in Tschechien, das eine besonders hohe dritte Welle erlebte, wurde die Ausgangssperre aufgehoben, die Kontaktbeschränkungen aufgeweicht und Kindergärten wieder geöffnet. Innenminister Jan Hamácek hat für Ende April angekündigt, weitere Öffnungen zu erwägen.

Wir erleben – wie zum Beispiel schon in der Flüchtlingskrise – ein bekanntes Muster: Deutschland redet unentwegt von europäischen Lösungen und gibt begeistert Kompetenzen an die Brüsseler EU-Bürokratie ab, während es zugleich in seiner nationalen Politik einen Weg einschlägt, der dem der europäischen Partner diametral widerspricht. Dem deutschen Musterschüler-Rigorismus wollte in der Flüchtlingspolitik niemand folgen – und es ist absehbar, dass auch in der Corona-Politik Deutschland spätestens mit dem jetzt beschlossenen Lockdown-Automatismus als Sonderling dastehen wird, dem niemand helfen wird, die ökonomischen Lasten, die es sich selbst aufbürdet, zu tragen.

Es ist ein schon traditionelles deutsches Paradox: Als rigoroser Musterschüler marschiert man auf einem Sonderweg voran, der sich bislang noch immer als fataler Holzweg entpuppte. Die Folge war noch immer eine Entfremdung Deutschlands von seinen weniger rigorosen Nachbarn – zum eigenen Schaden.

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Die Regierenden und vor allem die, die in der deutschen Politik die Agenda setzen, halten sich zwar nicht für deutsch. Man nennt sich lieber Europäer oder sieht sich gleich für die ganze Welt zuständig. Womöglich ist allerdings gerade dieser überbetonte Universalismus etwas ziemlich Deutsches. Es war bekanntlich ein deutscher Philosoph, nämlich Immanuel Kant, der einen berühmten Aufsatz über den „Weltfrieden“ schrieb, und ein deutscher Komponist namens Ludwig van Beethoven vertonte nur wenige Jahre später den schwärmerischen Satz „Alle Menschen werden Brüder“ zu einem Evergreen der klassischen Musik.

Der weniger universalistisch gesinnte Komponist Richard Wagner meinte in seiner Schrift „Was ist deutsch“ sinngemäß: Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun. Er schrieb das ohne jede Skepsis: „… und deshalb ist der Deutsche groß.“ Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kann man so etwas nicht mehr ohne Schaudern lesen.

Wenn die deutsche Geschichte eine allgemeine Lehre anzubieten hätte, dann wäre es wohl die: Übertrieben strenge, starre Denk- und Handlungsweisen ohne Rücksicht auf die konkreten Bedingungen und Situationen führen in die Irre und im schlimmsten Fall in die Katastrophe. Und dennoch streben viele Deutsche und erst recht ihre politmedialen Eliten offenbar immer noch nach dieser zweifelhaften, wagnerischen „Größe“.

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Kommentare ( 80 )

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A.G.
3 Jahre her

Was in diesen Vergleichen oft fehlt ist die Tatsache…und meiner Meinung nach ist das DIE wichtigste Tatsache schlechthin….und gehört somit in die Überschrift FETT gedruckt: Nahezu in allen Ländern werden Öffnungsschritte an die Einführung einer 2-Klassengesellschaft gekoppelt.Nur wer gesestet oder geimpft ist darf die „neuen“ Freiheiten geniessen. Dies hat NICHTS mit einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu tun, sondern mit einer Gesundheits-Apartheid.

HBS
3 Jahre her

„Deutschland, Deutschland über Alles“ – ist eigentlich ein Slogan, der verboten ist, – aber deutsche Regierungs-Politiker und ihre Medien „impfen“ das nachwievor den Bürgern ein. Selbst Annalena Baerbock von den „Grünen“ argumentiert genauso, wenn sie Deutschland in eine Vorreiter-Rolle für ihre Öko-Ideologie stellt. Aber die Fakten sagen etwas ganz anderes, denn Deutschland schafft es nichteinmal einen Flughafen (Berlin) zu bauen und bei schwachen Minus Graden fällt das öffentliche Verkehrssystem (Bus und Bahn) zusammen. Das ist kein Schritt nach vorne, sondern das sind 20 Schritte zurück, – die von den deutschen Politikern und ihren Medien bejubelt werden. PS: Der Merkel-CDU Wahl-Slogan… Mehr

Klaus H. Richardt
3 Jahre her

Wieder eine sehr gute Analyse, Herr Knauß. Das Einzige, was mich wirklich stört ist Ihr Schlußsatz von den ‚Eliten‘. Hätten wir wirklich die Besten der Besten in der Politik, wären die Entscheidungen überlegt und sachgerecht. Tatsächlich entscheiden buckelnde Parteikader, die in der freien Wirtschaft niemals an so gut bezahlte Posten kommen würden. NIETEN STATT ELITEN! Das ist leider die bittere Realität.

Alfonso
3 Jahre her

Deutsche Corona-Politiker, sie sind besonders intelligente Virenspezialisten. Heute im BAUHUS Bau- und Gartenmarkt. Der Markt besteht aus einer Abteilung mit Bauartikel und einer Abteilung mit Gartenartikel. Beide Bereiche gehen ohne räumliche Abgrenzung ineinander über. Die Gartenabteilung darf für Kunden öffnen, während die Bauabteilung wegen Coronaviren für Kunden per staatlicher Verordnung geschlossen sein muss. Der Grund für diese irren Vorschriften stelle ich mir wie folgt vor: Unsere cleveren Coronapolitiker haben wohl festgestellt, dass Coronaviren von Schrauben, Fertigmörtel und Schlagbohrmaschinen angezogen werden, während Coronaviren Rasendünger und Blumentöpfe meiden. Vielleicht haben die Politiker auch festgestellt, dass Heimwerker überwiegend Nazis sind, denn die verbreiten… Mehr

Klaus D
3 Jahre her

100% zustimmung…..ES……fing 1982 an….mit dem Kohl…..dem da aus der CDU da…..MEIN EHREN-wort….der deutsche konservativ-liberale steht über allem und glaubt alles am besten machen zu können….so haben Kohl Schröder Merkel das land nach und nach immer mehr gespalten….und man muss sich doch nur die überheblichkeit der 5 großen konservativ-liberalen parteien anschauen also CDU CSU FDP SPD Grüne…Kohl wollte ALLES besser machen und außer mehr schulden ist nix geblieben….Schröder wollte alles gerechter machen und hat seine eigenen wähler betrogen…und Merkel wollte die deutschen wieder vereinen UND hat sie am meisten von den dreien gespalten….Deutschland schafft sich ab = die konservativ-liberalen schaffen deutschland… Mehr

humerd
3 Jahre her

Corona in Frankreich: Lockern bei 340
Frankreichs Corona-Politik folgt anderen Regeln: Die Inzidenzwerte sind doppelt so hoch wie in Deutschland, doch das Nachbarland will Schulen und Lokale wieder öffnen.
Frankreich, Österreich, die Schweiz machen auf, Deutschland macht zu. Absurd.

a.bayer
3 Jahre her

Allerdings erkläre ich mir diesen Sonderweg diesmal nicht mit Großmannssucht, sondern mit den Wahlen, die erst in fünf Monaten stattfinden. Wenn man den Laden zu früh öffnet, verpufft die Euphorie; an ihre Stelle tritt der Katzenjammer. Nicht schön für Armin und Olaf! Ich rechne deshalb in den kommenden Wochen mit der Lauterbach’schen „Supermutante“ , dann reicht’s noch mal für ein zünftiges Panik-Halligalli…

horrex
3 Jahre her
Antworten an  a.bayer

Genau so ist es ! Sehr wichtig das timing …
Und hier wird offensichtlich sehr wenig drüber nachgedacht.

A.G.
3 Jahre her
Antworten an  a.bayer

Merkel hat nach der letzten MPK gesagt „bis Juni sind ausreichend Testkapazitäten etabliert“…daher auch die Notbremse bis 30.Juni….ab Juli wird geöffnet….da kann man dann auch sicher sein dass das saisonale Ende von Grippe und C-Viren dann definitiv da ist…somit wird dieses saisoanale, sowie aprupte Abklingen der Fälle als Ergebnis der Massnahmen verkauft. Maskenplficht bleibt natürlich als Symbol der Unterdrückung. Dann lässt man die Leute im Juli/August wieder etwas „entspannen“, und dann hat man ja im September auch schon die Wahlen. Passt soch perfekt vom Timing. Parallel dazu hat Herr Kekulé schon mal angekündigt „Im septembr gibts dann Impfstoffe 2.0″…der Herbst… Mehr

Juergen P. Schneider
3 Jahre her

Verehrter Herr Knauss, der provinzielle, übergeschnappte Schiller’sche Idealismus, der in der „Ode an die Freude“ exemplarisch hervortritt, war auch seinem großen Freund Goethe ein Dorn im Auge. Schiller war selbstredend ein genialer Dichter und Dramatiker, aber er hat es halt mit seinem Idealismus manchmal ganz schön übertrieben. Vielleicht ist dies wirklich der Kern dessen was den „Volkscharakter“ der Deutschen am besten beschreibt. Ideale anstreben und einen Teil der Realität ausblenden, um etwas noch besser und noch perfekter zu machen als alle anderen. Beim Streben nach Perfektion das Machbare zu verfehlen, das könnte man heute wohl als „typisch deutsch“ bezeichnen. Das… Mehr

eschenbach
3 Jahre her
Antworten an  Juergen P. Schneider

Vor einiger Zeit habe ich es aufgegeben, nach einem „Volkscharakter“ zu suchen, aus einem einfachen Grunde: Volkscharakter ist das, was die Linken den Rechten, die Rechten den Linken und beide zusammen der „Mitte“ – natürlich mit jeweils völlig unterschiedlichen Konnotationen- andichten. Der „Volkscharakter“ ist immer der der „Anderen“. Und man selbst ist „wirklich froh, denn gottseidank, ich bin nicht so“ (W.Busch).

Last edited 3 Jahre her by eschenbach
brandenburger-1
3 Jahre her

Dieses Geschrei erinnert fatal an einen Richter aus einer vergangenen Zeit.Brinkhaus ein gut versorgter Schreihals.

Jennifer Seidelmann
3 Jahre her

Vor knapp einem Jahr jubelten deutsche Mainstreammedien noch, Staaten die von Frauen regiert würden, kämen besser durch die Pandemie: Ziel dieses Lobs war natürlich in erster Linie die deutsche Bundeskanzlerin Merkel, und untermauert wurde das „Faktum“ mit der Lage in geographisch isolierten und dünn besiedelten Inselstaaten wie Island oder Neuseeland – weibliche Regierungschefs, Situation relativ unter Kontrolle – einerseits, sowie etwa Frankreich oder den USA andererseits – männliche Regierungschefs, Situation mehr oder weniger außer Kontrolle. (Dass man damit zwar Merkels sonst immer als vorbildlichem Europäer gefeierten Busenfreund Macron vors Schienbein trat, und die dramatische Situation in den USA sich im… Mehr