Die Deutschen vergessen, wann man den Christbaum aufstellt

In dieser Adventszeit erblickte man in immer mehr Wohnzimmern, was dort sonst erst am Heiligen Abend zu stehen hatte: den Weihnachtsbaum. In rasendem Galopp geht eine Tradition verloren.

Vielleicht ist es mir in der vorigen Weihnachtszeit einfach nur noch nicht aufgefallen. Aber ich fürchte, dass sich da wirklich innerhalb von einem Jahr auf das andere schon etwas rasant verändert hat. Ich spreche von den Christbäumen. 

Seit der vergangenen Woche sehe ich sie bei abendlichen Spaziergängen durch die Straßen Düsseldorfs in immer mehr Wohnzimmern, geschmückt und erleuchtet. Bei den ersten dachte ich: Das werden Japaner sein, die hier in Oberkassel zahlreich wohnen. Aber es wurden jeden Abend mehr und so viele Japaner wohnen hier nun auch wieder nicht. Am Dienstagabend, zwei Tage vor Heiligabend sah ich in den meisten Wohnzimmern, in die ich gucken konnte, und deren Bewohner ich als Nachbarn oft kenne, leuchtende Christbäume. 

In Japan ist der „Kurisumasu-torii“ keine Tradition, sondern ein nach dem Krieg von den Amerikanern übernommenes, fast immer aus Plastik gefertigtes kitschiges Accessoire, mit dem man seine Aufgeschlossenheit als Konsument demonstriert. Und ebenso wie die Amerikaner stellen Japaner den Baum meistens schon lange vor dem Weihnachtsfest auf, das es für die meist nicht-christlichen Japaner ja ohnehin nicht gibt.

Deutschland dagegen ist das Ursprungsland des Weihnachtsbaums. Der Brauch ist seit der Renaissance-Zeit nachweisbar. Kernregion der deutschen Weihnachtsbräuche war übrigens das damals noch zum Reich gehörige Elsass. Von Deutschland aus hat der Weihnachtsbaum seit dem 19. Jahrhundert durch Auswanderer die USA und durch die deutschstämmige Königsfamilie Großbritannien erreicht. Und über diese beiden Weltmächte schließlich den Rest der Welt – inklusive nicht christlich geprägter Länder wie Japan. 

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Dass man es dort mit den Regeln dieser deutschen Tradition nicht so ernst nahm und nimmt, ist verständlich. Aber im Weihnachtsbaumland Deutschland war der Termin entscheidend: Der Tannenbaum hatte bis mindestens zum Abend des 23. Dezember außerhalb der Wohnung ungeschmückt zu warten. Dann wurde er mit heiliger Mühe und in vielen Familien auch möglichst vor den Kindern verborgen in einen meist schlecht passenden, wackelnden Ständer gezwängt und geschmückt. Idealerweise sahen ihn die zu bescherenden Kinder erst unmittelbar am Heiligen Abend selbst zusammen mit den darunter liegenden Geschenken. 

Das scheint nicht mehr zu gelten, auch in vielen Familien mit kleinen Kindern nicht. Die Geduld – jene Tugend, die man gerade im Advent den Kindern anzuerziehen versuchte – bringen immer mehr erwachsene Deutsche des Jahres 2020 offenbar nicht mehr auf. „Warten aufs Christkind“ ist offenbar zu einer Unzumutbarkeit geworden. 

Es gibt da im Wortsinne kein Halten mehr. Klar, noch stellen die meisten Deutschen Weihnachtsbäume auf. Aber wenn ein Brauch seinen festen Bezug zu einem Festtag verliert, ist er eben nur noch ein banales Brimborium. Der Zauber des Weihnachtsbaums jedenfalls ist dahin, wenn er schon vor der Stillen und Heiligen Nacht erstrahlt.

Man kann den Leuten, die ihre Weihnachtsbäume schon seit Tagen aufgestellt haben, dies gar nicht verübeln. Das Argument „das macht man so“ wird eben überhaupt nicht mehr verstanden. Es gilt nicht mehr als legitim. Eher im Gegenteil. In einer Öffentlichkeit, die so gut wie alles, was noch so ist, wie es jahrhundertelang war, zu einem potentiell diskriminierenden und daher unbedingt überwindungsbedürftigen Skandalon erklärt, gehört selbstverständlich zu dem Ruf „No borders, not nations“ auch konsequenterweise: „no traditions“. 

Natürlich dreht sich die Welt weiter, wenn der Weihnachtsbaum ein paar Tage früher aufgestellt wird. Es ist nur ein kleines Detail in der galoppierenden Geschichte des Verlustes von alter Schönheit, der von den meisten, die ihn erleiden, kaum wahrgenommen wird.

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Kommentare ( 112 )

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Skeptiker
3 Jahre her

Nee, tut mir leid: Das ist überhaupt nicht neu – das geht schon seit vielen Jahren so: Jede Menge Leute wollen die Umwelt schonen, indem sie ihren Weihnachtsbaumes nachhaltiger nutzen.

Holm Teichert
3 Jahre her

Ich glaube, dass man hier Entwarnung geben kann. Ich bin jetzt 50 Jahre alt und kann mich daran erinnern, dass schon in meiner Kindheit der Weihnachtsbaum zu völlig unterschiedlichen Tagen aufgestellt wurde. Auch der 24. war als Aufstelldatum mit dabei. Dann aber war es die letzte Eisenbahn und das Gemecker meiner Mutter, die meinen Vater dazu trieben, ins Auto zu steigen und am 23. abends oder, noch schlimmer, am 24. morgens, den Christbaum zu kaufen. Was das für Reste-Krücken waren, die dann bei uns standen, muss ich nicht erklären. Ansonsten stand der Baum immer ein paar Tage auf dem Balkon,… Mehr

Manfred_Hbg
3 Jahre her

Zitat: „gehört selbstverständlich zu dem Ruf „No borders, not nations“ auch konsequenterweise: „no traditions“.

> Wozu ich besonders mit Blick auf die Worte „no traditions“ nur noch hinzufügen kann und will: Ein Land welches dann am Ende OHNE Tradition, Wurzeln und Kultur da steht, wird zu einem unbedeuteten Shithole-Countrie mit völlig verblödetem Volk!!

Hannibal ante portas
3 Jahre her

Der Weihnachtsbaum ist wohl eine der ganz wenigen deutschen Traditionen, die heute weltweit auch in „abgewandelter“ Form Verbreitung gefunden hat.

Deutscher
3 Jahre her

Offenbar schauen Sie zu viele schlecht gemachte Dokus, in denen langhaarige Harleyfahrer und gealterte Wacken-Besucher sich als Laiendarsteller finster dreinblickender „Germanen“ – natürlich mit Tribal-Tattoos, ausrasierten Schläfen oder auch mal Irokesenfrisur versehen und nicht vergessen: alles muß speckig, verschwitzt und schmuddelig wirken – betätigen. Im Übrigen war Kelten und Germanen klar, dass Schnee und Frost nicht mit Magie und Opfern (womöglich noch Menschenopfern, nicht wahr?) beizukommen ist. Rituale hatten den Zweck, sich mit dem Göttlichen in den Naturphänomenen zu verbinden, sich das Göttliche darin und die eigene Rolle als untrennbaren Teil dieser Natur bewusst zu machen. Magie gab es auch,… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Deutscher
HGV
3 Jahre her

Ein Volk ohne Traditionen ist kein Volk mehr. Und so sind wir Deutschen auf dem Weg uns zu verlieren, zwischen Kapitalismus und Konsum und Sozialismus und Verzicht. Irgendwann ist alles nur noch Folklore geprägt durch die Alten und die Jungen reiben sich verwundert durch die Augen. Wir werden sehen, was von Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Karneval… nach Corona übrig bleibt und ob jemand noch den Kern der Veranstaltungen versteht. Im Rheinland gab es in meiner Jugend und am Anfang der Berufslaufbahn noch freie Tage bis Ikea Karneval durchgehend aufgemacht hat. Das hat zwar nicht direkt was mit Ikea zu tun, spiegelt… Mehr

Frank M.
3 Jahre her

„Die Deutschen vergessen, wann man den Christbaum aufstellt“
Aber wenigstens ein Kleinod war der Heilige Abend gestern wenigstens noch dergestalt, als offenbar alle einschlägigen Aktivisten hierzulande Urlaub hatten und erfreulicherweise kein Gendern, kein vernehmbares Framing weder in Funk und Fernsehen, noch sonstwo, zu vernehmen war.

Der Ketzer
3 Jahre her

Wie sollte sich das auch anders entwickeln? Weihnachten wird doch schon seit einer gefühlten Ewigkeit ‚vermarktet‘. Wer kennt es denn aus seiner Kindheit nicht, dass er/sie in jedem Laden mit Weihnachtsbäumen und -deko zum konsumieren angeregt wurde und das schon Wochen vor dem Fest. Insbesondere in den Kassenbereichen der Supermärkte wurden die Kinder dazu animiert, ihre Mütter mit teilweise lautem Gequengel zum Kauf von Weihnachtsmännern etc. zu drängen. Vor ziemlich genau 40 Jahren habe ich dies als Jugendvertreter im Pfarrgemeinderat unseres Dorfes kritisiert. In dem von den ortsansässigen Geschäftsleuten dominierten Gremium erntete ich daraufhin das, was man heute als Shitstorm… Mehr

Manfred_Hbg
3 Jahre her
Antworten an  Der Ketzer

Zitat: „Wie sollte sich das auch anders entwickeln? Weihnachten wird doch schon seit einer gefühlten Ewigkeit ‚vermarktet‘. > Wozu ich Ihnen als ü60’er nur zustimmen und sagen kann, dass mir das aucg schon seit Jahrzehnte aufgefallen ist In den Läden sind heute doch die ersten Schoko-Weihnachtsmänner/-Leckereien schon kurz nach den Somnerferien zu sehen. UND am Sylvester ist dann grad der letzte Böller in die Luft geflogen, als dann schon die ersten Schoko-Osterhasen in den Regalen zu sehen sind. Wie hier dann noch am jeweiligen Feiertag so etwas wie Feiertagsstimmung aufkommen kann und soll, ist mir schon seit langem ein Rätsel.… Mehr

Helmut Bachmann
3 Jahre her

Man sollte aufhören, die Asche zu bewachen und rumzujammern, dass sie aus ist. Sonst erscheint der Traditionalist als Gegenstück zum grünen Moralisten.

Manfred_Hbg
3 Jahre her
Antworten an  Helmut Bachmann

Mhh, ich denke das es -auch- hier eher gute Gründe hat die „olle“ Asche zu bewachen und ein „Traditionalist“ zu sein.

jwe
3 Jahre her
Antworten an  Helmut Bachmann

Da muss ich Ihnen Recht geben. Aber was kommt, wenn die Asche aus ist und „nicht mehr bewacht wird“? Auf jeden Fall etwas neues. Wird es wie bei der Bundeswehr, wo von der Leyen allen, denen Tradition etwas bedeutete, ein Haltungsproblem bescheinigte? Tradition sagt etwas von dem aus, wo wir herkommen und wer oder was wir sind. Kappt man Traditionen, wird das „Volk“ zu einer entwurzelten beliebigen Masse. Der gute Deutsche lässt das mit sich machen, will er doch kein Nazi sein. Die in Millionenstärke seit 2015 hereingefluteten interessieren deutsche Traditionen nicht. Sie leben ihre Traditionen und Werte und lassen… Mehr

Monika
3 Jahre her

Ich finde den Verlust dieser Tradition eigentlich nicht so dramatisch. Im Fall von Weihnachten würde ich mir sogar wünschen, daß dessen Betonung noch anstiege. Dabei kann jeder früh aufgestellte Baum nur hilfreich sein. Der Verlust des Wortes „Weihnachtsmarkt“ in vielen Städten ist für mich viel gravierender.